J.W. Stalin

 

Marxismus und nationale Frage

VI
Die Kaukasier, die Konferenz der Liquidatoren [23]

Oben sprachen wir von den Schwankungen eines Teils der kaukasischen Sozialdemokraten, der der nationalistischen „Seuche“ nicht standhielt. Diese Schwankungen äußerten sich darin, daß die genannten Sozialdemokraten – so befremdend das auch scheinen mag – in die Fußstapfen des „Bund“ traten und die national-kulturelle Autonomie proklamierten.

Gebietsautonomje für den ganzen Kaukasus und national-kulturelle Autonomie für die Nationen, die innerhalb der Grenzen Kaukasiens leben – so wird diese Forderung von diesen Sozialdemokraten formuliert, die sich, nebenbei bemerkt, den russischen Liquidatoren anschließen.

Hören wir ihren anerkannten Führer, den nicht unbekannten N. [24]:

„Wie jedermann weiß, unterscheidet sich der Kaukasus stark von den zentralen Gouvernements sowohl in der Rassenzusammensetzung seiner Bevölkerung als auch in seinem Territorium und seiner landwirtschaftlichen Kultur. Die Erschließung und materielle Entwicklung eines solchen Gebiets erfordert einheimische Arbeitskräfte, Kenner der lokalen Besonderheiten, Menschen, die das örtliche Klima und die örtliche Kultur gewohnt sind. Es ist notwendig, daß alle Gesetze über die Erschließung des örtlichen Territoriums an Ort und Stelle erlassen und von einheimischen Kräften durchgeführt werden. Folglich würde zum Kompetenzbereich der zentralen Körperschaft der kaukasisdien Selbstverwaltung das Erlassen von Gesetzen über lokale Fragen gehören ... Die Funktionen des kaukasischen Zentrums bestehen somit im Erlassen von Gesetzen, die auf die wirtschaftliche Erschließung des örtlichen Territoriums, auf das materielle Gedeihen des Gebiets abzielen.“ [1*]

Also Gebietsautonomie des Kaukasus.

Wenn man von der etwas verworrenen und ungefügen Motivierung N.s absieht, so muß man zugeben, daß seine Schlußfolgerung richtig ist. In Anbetracht der Besonderheiten der Zusammensetzung und der Lebensverhältnisse Kaukasiens ist eine Gebietsautonomie des Kaukasus, die im Rahmen der allgemeinen Staatsverfassung wirksam wäre, was auch N. nicht ablehnt, in der Tat notwendig. Das hat auch die Sozialdemokratie Rußlands anerkannt, als sie auf ihrem II. Parteitag die „territoriale Selbstverwaltung für alle diejenigen Randgebiete“ proklamierte, „die sich in ihren Lebensverhältnissen und der Zusammensetzung ihrer Bevölkerung von den eigentlich russischen Gebieten unterscheiden“.

Martow, der diesen Punkt auf dem II. Parteitag zur Diskussion stellte, motivierte ihn damit, daß „uns die riesige Ausdehnung Rußlands und die Erfahrungen unserer zentralisierten Verwaltung veranlassen, die territoriale Selbstverwaltung für solch große Einheiten wie Finnland, Polen, Litauen und den Kaukasus für notwendig und zweckmäßig zu halten“.

Daraus folgt aber, daß unter Gebietsselbstverwaltung Gebietsautonomie zu verstehen ist.

N. geht jedoch weiter. Seiner Ansicht nach erfaßt die Gebietsautonomie des Kaukasus „bloß eine Seite der Frage“.

Bis jetzt haben wir nur von der materiellen Entwicklung des örtlichen Lebens gesprochen. Die ökonomische Entwicklung eines Gebiets wird aber nicht nur durch die wirtschaftliche Tätigkeit gefördert, sondern auch durch die geistige, die kulturelle“... „Eine kulturell starke Nation ist auch in der wirtschaftlichen Sphäre stark“ ... „Aber die kulturelle Entwicklung der Nationen ist nur in der nationalen Sprache möglich“ ... „Darum sind alle Fragen, die mit der Muttersprache zusammenhängen, national-kulturelle Fragen. Das sind die Fragen der Volksbildung, des Gerichtsverfahrens, der Kirche, der Literatur, der Kunst, der Wissenschaft, des Theaters usw. Wenn die materielle Entwicklung des Gebietes die Nationen vereinigt, so wirken die national-kulturellen Angelegenheiten trennend, da sie jede einzelne Nation auf ein abgesondertes Arbeitsfeld versetzen. Die erste Art von Tätigkeit ist an ein bestimmtes Territorium gebunden“... „Anders die national-kulturellen Angelegenheiten. Sie sind nicht an ein bestimmtes Territorium, sondern an die Existenz einer bestimmten Nation gebunden. Das Schidcsal der georgisdien Sprache interessiert einen Georgier in gleicher Weise, wo immer er auch leben mag. Es hieße große Ignoranz an den Tag legen, wollte man sagen, daß die georgische Kultur nur die in Georgien ansässigen Georgier angehe. Nehmen wir beispielsweise die armenische Kirche. An der Führung ihrer Angelegenheiten sind Armenier in verschiedenen Orten und Staaten beteiligt. Das Territorium spielt hier gar keine Rolle. Oder zum Beispiel an der Gründung eines georgischen Museums sind sowohl der Georgier in Tiflis als auch der in Baku, in Kutais, in Petersburg usw. interessiert. Also muß die Verwaltung und Leitung aller national-kulturellen Angelegenheiten den daran interessierten Nationen selbst überlassen werden. Wir proklamieren die national-kulturelle Autonomie der kaukasischen Nationalitäten.“ [2*]

Kurzum: Da Kultur nicht Territorium und Territorium nicht Kultur ist, sei die national-kulturelle Autonomie erforderlich. Das ist alles, was N. zu ihren Gunsten zu sagen weiß.

Wir wollen hier nicht noch einmal auf die national-kulturelle Autonomie im allgemeinen eingehen: oben haben wir bereits von ihrem negativen Charakter gesprochen. Wir möchten bloß betonen, daß die überhaupt untauglich national-kulturelle Autonomie unter den Verhältnissen des Kaukasus auch noch unsinnig und töricht ist.

Und das aus folgenden Gründen.

Die national-kulturelle Autonomie setzt mehr oder weniger entwickelte Nationalitäten voraus, Nationalitäten mit entwickelter Kultur und Literatur. Ohne diese Voraussetzungen verliert diese Autonomie jeden Sinn, wird sie zur Absurdität. Im Kaukasus gibt es aber eine ganze Reihe von Völkerschaften mit primitiver Kultur, mit besonderer Sprache, aber ohne eigene Literatur, Völkerschaften, die sich überdies in einem Übergangsstadium befinden, sich zum Teil assimilieren, zum Teil weiterentwickeln. Wie soll die national-kulturelle Autonomie auf sie angewandt werden? Was soll mit solchen Völkerschaften geschehen? Wie sollen sie zu besonderen national-kulturellen Verbänden „organisiert“ werden, was ja bei der national-kulturellen Autonomie zweifellos vorausgesetzt wird?

Was soll mit den Mingrelen, Abchasen, Adsharen, Swanen, Lesghiern usw. geschehen, die verschiedene Sprachen sprechen, aber keine eigene Literatur haben? Zu welchen Nationen sollen sie gezählt werden? Ist es möglich, sie zu nationalen Verbänden „zu organisieren“? Im Namen welcher „Kulturangelegenheiten“ sollen sie „organisiert“ werden?

Was soll mit den Osseten geschehen, von denen die transkaukasischen Osseten durch die Georgier assimiliert werden (aber noch lange nicht assimiliert sind), die vorkaukasischen aber teilweise durch die Russen assimiliert werden, sich teilweise jedoch weiterentwickeln und eine eigene Literatur begründen? Wie sind sie zu einem einheitlichen nationalen Verband „zu organisieren“?

Zu welchem nationalen Verband sind die Adsharen zu zählen, die georgisch reden, aber eine türkische Kultur haben und sich zum Islam bekennen? Soll man sie etwa auf Grund der religiösen Angelegenheiten gesondert von den Georgiern und auf Grund der übrigen Kulturangelegenheiten mit den Georgiern zusammen „organisieren“? Und die Kobuleten? Und die Inguschen? Und die Ingiloier?

Was ist das fur eine Autonomie, die eine ganze Reihe von Völkerschaften aus der Liste streicht?

Nein, das ist keine Lösung der nationalen Frage – das ist die Frucht einer müßigen Phantasie.

Doch stellen wir uns das Unvorstellbare vor und nehmen wir an, die national-kulturelle Autonomie unseres 3V. sei Wirklichkeit geworden. Wozu wird sie führen, welche Resultate wird sie zeitigen? Nehmen wir beispielsweise die transkaukasischen Tataren mit ihrem minimalen Prozentsatz an Lese- und Schreibkundigkeit, mit ihren Schulen, denen die allmächtigen Mullahs vorstehen, mit ihrer von religiösem Geist durchdrungenen Kultur ... Es ist nicht schwer zu begreifen, daß ihre Organisierung zu einem national-kulturellen Verband bedeuten würde, die Mullahs an ihre Spitze zu setzen, bedeuten würde, sie den reaktionären Mullahs mit Haut und Haar auszuliefern, bedeuten würde, eine neue Bastion zur geistigen Knechtung der tatarischen Massen durch ihren ärgsten Feind zu schaffen.

Seit wann aber leiten Sozialdemokraten Wasser auf die Mühlen der Reaktionäre?

Absonderung der transkaukasischen Tataren in einem national-kulturellen Verband, der die Massen der Knechtung durch die schlimmsten Reaktionäre ausliefert – wußten denn die kaukasischen Liquidatoren wirklich nichts Besseres „zu proklamieren“? ...

Nein, das ist keine Lösung der nationalen Frage.

Die nationale Frage im Kaukasus kann nur im Geiste der Einbeziehung der zu spät gekommenen Nationen und Völkerschaften in den allgemeinen Strom der höheren Kultur gelöst werden. Nur eine solche Lösung kann fortschrittlich und für die Sozialdemokratie annehmbar sein. Die Gebietsautonomie des Kaukasus ist gerade deswegen annehmbar, weil sie die zu spät gekommenen Nationen in die allgemeine kulturelle Entwicklung einbezieht, ihnen behilflich ist, die Schalen der Abgeschlossenheit kleiner Nationalitäten abzuwerfen, sie vorwärtstreibt und ihnen den Zutritt zu den Gütern der höheren Kultur erleichtert. Demgegenüber wirkt die national-kulturelle Autonomie in direkt entgegengesetzter Richtung, denn sie kapselt die Nationen in den alten Schalen ab, hält sie auf den niederen Entwicklungsstufen der Kultur fest, hindert sie, höhere Kulturstufen zu ersteigen.

Damit lähmt die nationale Autonomie die positiven Seiten der Gebietsautonomie und macht diese zunichte.

Ebendarum ist auch der gemischte Typus der von N. vorgeschlagenen Autonomie untauglich, der die national-kulturelle Autonomie mit der Gebietsautonomie kombiniert. Diese widernatürliche Kombination macht die Sache nicht besser, sondern verschlechtert sie, denn nicht genug damit, daß sie die Entwicklung der zu spät gekommenen Nationen hemmt, verwandelt sie die Gebietsautonomie noch in eine Arena für Zusammenstöße zwischen den zu nationalen Verbänden organisierten Nationen. Somit würde die überhaupt untaugliche national-kulturelle Autonomie im Kaukasus zu einem sinnlosen reaktionären Unternehmen werden.

So sieht die national-kulturelle Autonomie N.s und seiner kaukasischen Gesinnungsgenossen aus.

Ob die kaukasischen Liquidatoren „einen Schritt vorwärts“ tun und auch in der Organisationsfrage dem „Bund“ folgen werden, wird die Zukunft zeigen. In der Geschichte der Sozialdemokratie ging bis jetzt der Föderalismus in der Organisation stets der nationalen Autonomie im Programm voraus. Die österreichischen Sozialdemokraten praktizierten schon ab 1897 den organisatorischen Föderalismus, und erst nach zwei Jahren (1899) akzeptierten sie die nationale Autonomie. Die Bundisten begannen zum erstenmal 1901 vernehmlich über nationale Autonomie zu reden, den organisatorischen Föderalismus aber praktizierten sie bereits ab 1897.

Die kaukasischen Liquidatoren haben beim Ende, bei der nationalen Autonomie, angefangen. Wandeln sie weiter in den Fußstapfen des „Bund“, so werden sie zunächst das ganze jetzige Organisationsgebäude niederreißen müssen, das schon Ende der neunziger Jahre auf der Grundlage der Internationalität errichtet wurde.

So leicht es aber war, für die den Arbeitern einstweilen noch unverständliche nationale Autonomie Stellung zu nehmen, so schwer wird es fallen, das in jahrelanger Arbeit errichtete Gebäude einzureißen, das die Arbeiter aller Nationalitäten des Kaukasus mit soviel Sorgfalt und Liebe aufgeführt und ausgebaut haben. Dieses herostratische Unterfangen braucht man nur in Angriff zu nehmen, damit den Arbeitern die Augen aufgehen und sie das nationalistische Wesen der national-kulturellen Autonomie erkennen.

 

Sind die Kaukasier dabei, die nationale Frage auf die gewöhnliche Weise zu lösen, durch mündliche Debatten und literarische Diskussion, so hat sich die allrussische Konferenz der Liquidatoren eine ganz ungewöhnliche Methode ausgedacht. Eine leichte und einfache Methode. Man höre:

„Nach Entgegennahme der Mitteilung der kaukasischen Delegation ... über die Notwendigkeit ..., die Forderung der national-kulturellen Autonomie aufzustellen, konstatiert die Konferenz, ohne zu dieser Forderung der Sache nach Stellung zu nehmen, daß eine solche Auslegung des Programmpunktes, der jeder Nationalität das Recht auf Selbstbestimmung zuerkennt, dem genauen Sinn des Programms nicht zuwiderläuft.“

Also zuerst „der Sache nach keine Stellung nehmen zu dieser“ Frage, und dann „konstatieren“. Eine originelle Methode ...

Was „konstatiert“ denn nun diese originelle Konferenz?

Sie konstatiert, daß die „Forderung“ der national-kulturellen Autonomie „dem genauen Sinn des Programms nicht zuwiderläuft“, das das Selbstbestimmungsrecht der Nationen anerkennt.

Untersuchen wir diese These.

Der Punkt über die Selbstbestimmung spricht von den Rechten der Nationen. [26] Diesem Punkt zufolge haben die Nationen nicht nur das Recht auf Autonomie, sondern auch auf Lostrennung. Es handelt sich um politische Selbstbestimmung. Wen wollten die Liquidatoren irreführen, als sie dieses in der gesamten internationalen Sozialdemokratie seit langem festgelegte Recht auf politische Selbstbestimmung der Nationen hin und her zu deuteln suchten?

Oder werden sich vielleicht die Liquidatoren herauszuwinden suchen und sich hinter dem Sophismus verschanzen: Die national-kulturelle Autonomie laufe ja den Rechten der Nationen „nicht zuwider“? Das heißt, wenn sich sämtliche Nationen eines gegebenen Staates einverstanden erklären, ihr Leben nach den Grundsätzen der national-kulturellen Autonomie einzurichten, so hätte sie, die gegebene Summe von Nationen, das volle Recht dazu, und niemand dürfe sich herausnehmen, ihnen eine andere Form des politischen Lebens gewaltsam aufzuzwingen. Ebenso neu wie gescheit! Sollte man nicht vielleicht noch hinzufügen, daß die Nationen, allgemein gesprochen, das Recht haben, ihre Verfassung abzuschaffen, sie durch ein Willkürregiment zu ersetzen, zu den alten Zuständen zurückzukehren, denn die Nationen, und nur die Nationen selbst, haben ja das Recht, über ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Wir wiederholen: in diesem Sinne läuft weder die national-kulturelle Autonomie noch eine beliebige nationale Reaktion den Rechten der Nationen „zuwider“.

Wollte die ehrenwerte Konferenz etwa das sagen?

Nein, nicht das. Sie sagt direkt, daß die national-kulturelle Autonomie nicht den Rechten der Nationen, sondern „dem genauen Sinn“ des Programms „nicht zuwiderläuft“. Es ist hier vom Programm und nicht von den Rechten der Nationen die Rede.

Das ist auch begreiflich. Hätte sich irgendeine Nation an die Konferenz der Liquidatoren gewandt, so hätte die Konferenz direkt konstatieren können, daß die Nation ein Recht auf national-kulturelle Autonomie hat. An die Konferenz gewandt hat sich aber nicht eine Nation, sondern eine „Delegation“ kaukasischer Sozialdemokraten, zwar schlechter Sozialdemokraten, aber immerhin Sozialdemokraten. Und diese fragten nicht nach den Rechten der Nationen, sondern danach, ob die national-kulturelle Autonomie nicht den Prinzipien der Sozialdemokratie widerspricht, ob sie nicht „dem genauen Sinndes Programms der Sozialdemokratie „zuwiderläuft“.

Also Rechte der Nationen und „genauer Sinn“ des Programms der Sozialdemokratie sind nicht ein und dasselbe.

Offenbar gibt es auch solche Forderungen, die, ohne den Rechten der Nationen zuwiderzulaufen, „dem genauen Sinn“ des Programms zuwiderlaufen können.

Ein Beispiel. Im Programm der Sozialdemokraten gibt es einen Punkt über die Freiheit des Glaubensbekenntnisses. Diesem Punkt zufolge kommt jeder beliebigen Gruppe von Personen das Recht zu, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen: zum Katholizismus, zur griechischen Orthodoxie usw. Die Sozialdemokratie wird alle religiösen Repressalien, alle Verfolgungen der Griechisch-Orthodoxen, der Katholiken und der Protestanten bekämpfen. Bedeutet dies etwa, daß der Katholizismus, der Protestantismus usw. „dem genauen Sinn des Programms nicht zuwiderlaufen“? Nein, durchaus nicht. Die Sozialdemokratie wird stets gegen die Verfolgung des Katholizismus und des Protestantismus protestieren, sie wird stets für das Recht der Nationen eintreten, sich zu jeder beliebigen Religion zu bekennen, aber gleichzeitig wird sie, von den wohlverstandenen Interessen des Proletariats ausgehend, sowohl gegen den Katholizismus und den Protestantismus als auch gegen die griechische Orthodoxie agitieren, um der sozialistischen Weltanschauung zum Triumph zu verhelfen.

Und sie wird das darum tun, weil Protestantismus, Katholizismus, griechische Orthodoxie usw. ohne Zweifel „dem genauen Sinn“ des Programms, das heißt den wohlverstandenen Interessen des Proletariats, „zuwiderlaufen“.

Das gleiche muß von der Selbstbestimmung gesagt werden. Die Nationen haben das Recht, sich nach ihrem Gutdünken einzurichten; sie haben das Recht, jede beliebige ihrer nationalen Institutionen beizubehalten, eine schädliche so gut wie eine nützliche, niemand darf sich herausnehmen (niemand hat das Recht dazu!), sich gewaltsam in das Leben der Nationen einzumischen. Das bedeutet aber noch nicht, daß die Sozialdemokratie nicht gegen schädliche Institutionen der Nationen, gegen unzweckmäßige Forderungen der Nationen kämpfen und agitieren wird. Im Gegenteil, die Sozialdemokratie ist verpflichtet, so zu agitieren und den Willen der Nationen so zu beeinflussen, daß sich die Nationen in einer Form einrichten, die den Interessen des Proletariats am meisten entspricht. Darum eben wird die Sozialdemokratie in ihrem Kampf für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen gleichzeitig, sagen wir, sowohl gegen die Lostrennung der Tataren als auch gegen die national-kultureile Autonomie der kaukasischen Nationen agitieren, denn beides läuft, ohne den Rechten dieser Nationen zuwiderzulaufen, „dem genauen Sinn“ des Programms, das heißt den Interessen des kaukasischen Proletariats, zuwider.

Offenbar sind „die Rechte der Nationen“ und „der genaue Sinn“ des Programms zwei ganz verschiedene Ebenen. Während „der genaue Sinn“ des Programms die Interessen des Proletariats zum Ausdruck bringt, die in seinem Programm wissenschaftlich formuliert sind, können die Rechte der Nationen die Interessen jeder beliebigen Klasse zum Ausdruck bringen – die der Bourgeoisie, der Aristokratie, der Geistlichkeit usw., je nach der Stärke und dem Einfluß dieser Klassen. Dort handelt es sich um Pflichten des Marxisten, hier um Rechte der Nationen, die aus verschiedenen Klassen bestehen. Die Rechte der Nationen und die Prinzipien des Sozialdemokratismus können einander ebensosehr oder ebensowenig „zuwiderlaufen“ wie, sagen wir, die Cheopspyramide der famosen Konferenz der Liquidatoren. Sie sind einfach nicht miteinander zu vergleichen.

Daraus folgt aber, daß die ehrenwerte Konferenz in ganz unverzeihlicher Weise zwei ganz verschiedene Dinge durcheinandergeworfen hat. Nicht eine Lösung der nationalen Frage ist dabei herausgekommen, sondern ein Unsinn, demzufolge die Rechte der Nationen und die Prinzipien der Sozialdemokratie einander „nicht zuwiderlaufen“ – folglich kann jede Forderung einer Nation mit den Interessen des Proletariats in Einklang gebracht werden, folglich wird keine einzige Forderung der nach Selbstbestimmung strebenden Nationen „dem genauen Sinn“ des Programms „zuwiderlaufen“!

Um die Logik kümmern sie sich nicht ...

Diesem Unsinn ist denn auch der von nun an berühmte Beschluß der Liquidatorenkonferenz entsprungen, wonach die Forderung der national-kulturellen Autonomie „dem genauen Sinn“ des Programms „nicht zuwiderläuft“.

Die Konferenz der Liquidatoren verstößt jedoch nicht nur gegen die Gesetze der Logik.

Mit der Sanktionierting der national-kulturellen Autonomie verstößt sie auch gegen ihre Pflicht gegenüber der Sozialdemokratie Rußlands. Sie verstößt in unzweideutigster Weise gegen „den genauen Sinn“ des Programms, denn bekanntlich hat der II. Parteitag, der das Programm angenommen hat, die national-kulturelle Autonomie entschieden abgelehnt. Darüber wurde auf diesem Parteitag folgendes gesagt:

Goldblatt (Bundist): ... ich halte die Schaffung von besonderen Institutionen für notwendig, die die Freiheit der kulturellen Entwicklung der Nationalitäten gewährleisten würden, und beantrage daher folgenden Zusatz zu Paragraph 8: ‚und die Schaffung von Institutionen, die ihnen die volle Freiheit der kulturellen Entwicklung garantieren‘ (das ist bekanntlich die bundistische Formulierung der national-kulturellen Autonomie. J.St.).

Martynow weist darauf hin, daß die allgemeinen Institutionen so beschaffen sein müssen, daß sie auch die Einzelinteressen gewährleisten. Es sei unmöglich, irgendeine besondere Institution zu schaffen, die die Freiheit der kulturellen Entwicklung der Nationalität gewährleiste.

Jegorow: In der Frage der Nationalität können wir nur verneinende Vorschläge annehmen, das heißt wir sind gegen jegliche Beeinträchtigung der Nationalität. Uns als Sozialdemokraten geht es aber nichts an, ob sich die eine oder die andere Nationalität als solche entwickeln wird oder nicht. Das ist Sache eines elementar verlaufenden Prozesses.

Kolzow: Die Delegierten des Bund fühlen sich immer beleidigt, sobald man auf ihren Nationalismus zu sprechen kommt. Indessen ist der Abänderungsantrag, den der Delegierte des ‚Bund‘ eingebracht hat, rein nationalistischer Natur. Man verlangt von uns rein offensive Maßnahmen zur Stützung selbst derjenigen Nationalitäten, die im Aussterben begriffen sind.“

... Das Ergebnis ist, ‚daß der Antrag Goldblatt von der Mehrheit gegen drei Stimmen abgelehnt wird‘.“

Also ist es klar, daß die Konferenz der Liquidatoren dem genauen Sinn“ des Programms „zuwider“handelte. Sie hat gegen das Programm verstoßen.

Jetzt versuchen sich die Liquidatoren durch Berufung auf den Stockholmer Parteitag zu rechtfertigen, der angeblich die national-kulturelle Autonomie sanktioniert hat. So schreibt Wl. Kossowski:

„Bekanntlich wurde es nach dem Vertrag, der auf dem Stockholmer Parteitag angenommen wurde, dem ‚Bund‘ freigestellt, sein nationales Programm beizubehalten (bis der Gesamtparteitag über die nationale Frage entscheidet). Dieser Parteitag hat anerkannt, daß die national-kulturelle Autonomie jedenfalls dem Programm der Gesamtpartei nicht widerspreche.“ [3*]

Aber die Versuche der Liquidatoren sind vergeblich. Der Stockholmer Parteitag hat gar nicht daran gedacht, das Programm des „Bund“ zu sanktionieren – er hat sich bloß bereit erklärt, einstweilen die Frage offenzulassen. Dem wackeren Kossowski hat es an Mut gefehlt, die ganze Wahrheit zu sagen. Die Tatsachen sprechen jedoch für sich selbst. Hier sind sie:

„Es wird ein Abänderungsantrag von Galin eingebracht: ‚Die Frage des nationalen Programms bleibt offen, da der Parteitag sie nicht erörtert hat‘ (dafür 50 Stimmen, dagegen 82).

Zuruf: Was heißt das – ‚bleibt offen‘?

Vorsitzender: Wenn wir sagen, daß die nationale Frage offenbleibt, so heißt das, daß der ‚Bund‘ seinen Beschluß in dieser Frage bis zum nächsten Parteitag aufrechterhalten kann“ [4*] (Hervorhebungen von uns. J.St.).

Wie man sieht, hat der Parteitag die Frage des nationalen Programms des „Bund“ nicht einmal „erörtert“, er hat sie einfach „offen“gelassen und es dem „Bund“ freigestellt, bis zum nächsten Gesamtparteitag über das Schicksal seines Programms selbst zu entscheiden. Mit anderen Worten: Der Stockholmer Parteitag ist der Frage ausgewichen, ohne über die national-kulturelle Autonomie sowohl nach der einen als auch nach der anderen Seite ein Urteil abzugeben.

Demgegenüber aßt sich die Liquidatorenkonferenz in bestimmtester Weise auf die Beurteilung der Sache ein, erkennt die national-kulturelle Autonomie als annehmbar an und sanktioniert sie im Namen des Parteiprogramms.

Der Unterschied springt in die Augen.

Auf diese Weise hat die Liquidatorenkonferenz trotz aller Kniffe und Schliche die nationale Frage nicht um einen Schritt vorwärtsgebracht.

Scharwenzeln vor dem „Bund“ und den kaukasischen National-Liquidatoren – das ist alles, wozu sie sich als fähig erwiesen hat.

 

 

Fußnoten

1*. Siehe die georgische Zeitung Tschweni Zchowreba (Unser Leben) [25], 1912, Nr.12.

2*. Ebenda

3*. Nascha Sarja, 1912, Nr.9/10, S.120.

4*. Nasche Slowo, 1906, Nr.8, S.53.

 

Anmerkungen

23. Liquidatoren – politische Richtung des Menschewismus in den Jahren der Reaktion nach der Revolution von 1905 (Siehe Anm. 6).

24. N. – Pseudonym Noah Jordanias, des Führers der georgischen Menschewiki, ehemaligen Oberhauptes der menschewistischen Regierung Georgiens, späteren weißen Emigranten und fanatischen Anhängers der Intervention gegen die Sowjetunion

25. Tschweni Zchowreba (Unser Leben) – Tageszeitung der georgischen Menschewiki, die vom 1. bis zum 22. Juli 1912 in Kutais erschien

26. Der Punkt des auf dem II. Parteitag 1903 angenommenen Programms der SDAPR über die Selbstbestimmung lautete: „9. Selbstbestimmungsrecht für alle Nationen, die dem Staate angehören.“

 


Zuletzt aktualisiert am 13.2.2005