J.W. Stalin

 

Zu den Fragen des Leninismus

 

Kapitel 6

Die Frage des Sozialismus in einem Lande

In der Schrift Über die Grundlagen des Leninismus (April 1924, erste Ausgabe) kommen zwei Formulierungen zur Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande vor. Die erste Formulierung lautet:

„Früher hielt man den Sieg der Revolution in einem Lande für unmöglich, da man annahm, daß zum Siege über die Bourgeoisie eine gemeinsame Aktion der Proletarier aller fortgeschrittenen Länder oder jedenfalls der Mehrzahl dieser Länder erforderlich sei. Jetzt entspricht dieser Standpunkt nicht mehr der Wirklichkeit. Jetzt muß man von der Möglichkeit eines solchen Sieges ausgehen, denn der ungleichmäßige und sprunghafte Charakter der Entwicklung der verschiedenen kapitalistischen Länder unter den Verhältnissen des Imperialismus, die Entwicklung der katastrophalen Widersprüche innerhalb des Imperialismus, die unausweichlich zu Kriegen führen, das Anwachsen der revolutionären Bewegung in allen Ländern der Welt – alles das macht den Sieg des Proletariats in einzelnen Ländern nicht nur möglich, sondern auch notwendig.“ (Siehe Über die Grundlagen des Leninismus.)

Dieser Leitsatz ist völlig richtig und bedarf keines Kommentars. Er ist gegen die Theorie der Sozialdemokraten gerichtet, die die Machtergreifung durch das Proletariat in einem Lande, ohne die gleichzeitige siegreiche Revolution in anderen Ländern, für eine Utopie halten.

Aber die Schrift Über die Grundlagen des Leninismus enthält noch eine zweite Formulierung. Es heißt dort [1]:

„Aber die Macht der Bourgeoisie stürzen und die Macht des Proletariats in einem Lande aufrichten, heißt noch nicht, den vollen Sieg des Sozialismus zu sichern. Die Hauptaufgabe des Sozialismus – die Organisierung der sozialistischen Produktion – steht noch bevor. Kann man diese Aufgabe lösen, kann man den endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande erreichen, ohne die gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder? Nein, das kann man nicht. Zum Sturze der Bourgeoisie genügen die Anstrengungen eines Landes – davon zeugt die Geschichte unserer Revolution. Zum endgültigen Sieg des Sozialismus, zur Organisierung der sozialistischen Produktion genügen nicht die Anstrengungen eines Landes, zumal eines Bauernlandes wie Rußland, dazu sind die Anstrengungen der Proletarier mehrerer fortgeschrittener Länder notwendig.“ (Siehe Über die Grundlagen des Leninismus, erste Ausgabe.)

Diese zweite Formulierung war gegen die Behauptung der Kritiker des Leninismus, gegen die Trotzkisten gerichtet, die erklärten, die Diktatur des Proletariats in einem Lande könne sich nicht „gegen das konservative Europa behaupten“, wenn der Sieg in anderen Ländern ausbleibt.

Insofern – aber nur insofern – war diese Formulierung damals (April 1924) ausreichend, und sie hat zweifellos einen gewissen Dienst geleistet.

In der Folge aber, als die Kritik am Leninismus auf diesem Gebiete in der Partei schon überwunden war und als eine neue Frage auftauchte, die Frage nach der Möglichkeit der Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft mit den Kräften unseres Landes, ohne Hilfe von außen, da erwies sich diese zweite Formulierung bereits als offenkundig ungenügend und deshalb unrichtig.

Worin besteht der Mangel dieser Formulierung?

Ihr Mangel besteht darin, daß sie zwei verschiedene Fragen zu einer Frage zusammenzieht: die Frage der Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus mit den Kräften eines Landes, worauf eine bejahende Antwort gegeben werden muß, und die Frage, ob sich ein Land, in dem die Diktatur des Proletariats errichtet ist, als völlig gesichert gegen eine Intervention und folglich gegen die Restauration der alten Ordnung betrachtet werden kann ohne die siegreiche Revolution in einer Reihe anderer Länder, worauf eine verneinende Antwort gegeben werden muß. Ich spreche schon gar nicht davon, daß diese Formulierung zu dem Gedanken Anlaß geben kann, daß die Organisierung der sozialistischen Gesellschaft mit den Kräften eines Landes unmöglich sei, was natürlich unrichtig ist.

Aus diesem Grunde habe ich diese Formulierung in meiner Schrift Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten (Dezember 1924) abgeändert und richtiggestellt, indem ich diese Frage in zwei Fragen zerlegte: in die Frage der vollen Garantie gegen die Restauration der bürgerlichen Zustände und in die Frage der Möglichkeit der Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in einem Lande. Das wurde erreicht, erstens, durch Auslegung des „vollen Sieges des Sozialismus“ als „volle Garantie gegen die Wiederherstellung der alten Ordnung“, die nur durch die „gemeinsamen Anstrengungen der Proletarier mehrerer Länder“ erreicht werden kann, und zweitens dadurch, daß auf Grund der Leninschen Schrift „Über das Genossenschaftswesen“ die unbestreitbare Wahrheit ausgesprochen wurde, daß wir alles Notwendige zur Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft besitzen (Die Oktoberrevolution und die Taktik der russischen Kommunisten). [2]

Diese neue Formulierung wurde denn auch der bekannten Resolution der XIV. Parteikonferenz Über die Aufgaben der Komintern und der KPR (B) zugrunde gelegt, die die Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande in Verbindung mit der Stabilisierung des Kapitalismus behandelt (April 1925) und die Errichtung des Sozialismus mit den Kräften unseres Landes für möglich und notwendig hält.

Sie diente auch als Grundlage für meine Schrift Zu den Ergebnissen der Arbeiten der XIV. Parteikonferenz, die unmittelbar nach der XIV. Parteikonferenz, im Mai 1925, erschien.

Über die Behandlung der Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande wird in dieser Schrift gesagt:

„Unser Land weist zwei Gruppen von Gegensätzen auf. Die eine Gruppe von Gegensätzen – das sind die inneren Gegensätze, die zwischen dem Proletariat und der Bauernschaft bestehen (gemeint ist hier die Errichtung des Sozialismus in einem Lande. J.St.). Die andere Gruppe von Gegensätzen – das sind die äußeren Gegensätze, die zwischen unserem Lande, als dem Land des Sozialismus, und allen übrigen Ländern, als den Ländern des Kapitalismus, vorhanden sind (gemeint ist hier der endgültige Sieg des Sozialismus. J.St.) ...“ „Wer die erste Gruppe von Gegensätzen, die durchaus mit den Kräften eines Landes überwunden werden können, mit der zweiten Gruppe von Gegensätzen verwechselt, die zu ihrer Lösung die Anstrengungen der Proletarier mehrerer Länder erfordern, der begeht den gröbsten Fehler gegen den Leninismus, der ist entweder ein Wirrkopf oder ein unverbesserlicher Opportunist.“ (Siehe Zu den Ergebnissen der Arbeiten der XIV. Parteikonferenz.)

Über die Frage des Sieges des Sozialismus in unserem Lande wird in der Schrift gesagt:

„Wir können den Sozialismus errichten, und wir werden ihn zusammen mit der Bauernschaft, unter der Führung der Arbeiterklasse aufbauen“, ... denn „unter der Diktatur des Proletariats sind bei uns ... alle Vorbedingungen gegeben, die notwendig sind, um die vollendete sozialistische Gesellschaft zu errichten, wobei alle und jede inneren Schwierigkeiten überwunden werden, denn wir können und müssen sie durch unsere eigenen Kräfte überwinden.“ (Ebenda.)

Über die Frage des endgültigen Sieges des Sozialismus heißt es dort:

„Der endgültige Sieg des Sozialismus ist die volle Garantie gegen Interventions- und folglich auch gegen Restaurationsversuche, denn ein einigermaßen ernsthafter Restaurationsversuch kann nur mit ernster Unterstützung von außen, nur mit Unterstützung des internationalen Kapitals erfolgen. Deshalb ist die Unterstützung unserer Revolution durch die Arbeiter aller Länder, und noch mehr der Sieg dieser Arbeiter zum mindesten in einigen Ländern die unerläßliche Vorbedingung für die volle Sicherung des ersten siegreichen Landes gegen Interventions- und Restaurationsversuche, die unerläßliche Vorbedingung für den endgültigen Sieg des Sozialismus.“ (Ebenda.)

Das ist wohl klar.

Bekanntlich wird diese Frage in meiner Schrift Fragen und Antworten (Juni 1925) und in dem politischen Bericht des ZK auf dem XIV. Parteitag der KPdSU (B) (Dezember 1925) in dem gleichen Sinne behandelt.

Das sind die Tatsachen.

Diese Tatsachen sind, wie ich glaube, allen und jedem bekannt, darunter auch Sinowjew.

Hält es Sinowjew jetzt, fast zwei Jahre nach dem ideologischen Kampfe in der Partei und nach der auf der XIV. Parteikonferenz angenommenen Resolution (April 1925), für möglich, in seinem Schlußwort auf dem XIV. Parteitag (Dezember 1925) die alte, vollständig ungenügende Formel aus Stalins Schrift, die im April 1924 verfaßt wurde, als Grundlage für die Lösung der schon gelösten Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande hervorzuholen, so zeigt diese sonderbare Manier Sinowjews nur, daß er sich in dieser Frage vollständig verwirrt hat.

Die Partei rückwärtszerren, nachdem sie vorwärtsgeschritten ist, die Resolution der XIV. Parteikonferenz umgehen, nachdem sie vom Plenum des ZK bestätigt worden ist, das heißt, sich hoffnungslos in Widersprüche verstricken, an die Sache des Aufbaus des Sozialismus nicht glauben, den Weg Lenins verlassen und die eigene Niederlage dokumentieren.

Was bedeutet die Möglichkeit des Sieges des Sozialismus einem Lande?

Das bedeutet die Möglichkeit, die Gegensätze zwischen Proletariat und Bauernschaft mit den inneren Kräften unseres Landes zu überwinden, die Möglichkeit, daß das Proletariat die Macht ergreifen und diese Macht zur Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in unserem Lande ausnutzen kann, gestützt auf die Sympathien und die Unterstützung der Proletarier der anderen Länder, aber ohne vorhergehenden Sieg der proletarischen Revolution in anderen Ländern.

Ohne diese Möglichkeit ist der Aufbau des Sozialismus ein Aufbau ohne Perspektive, ein Aufbau ohne die Überzeugung, daß man den Sozialismus errichten wird. Man kann den Sozialismus nicht aufbauen, wenn man nicht überzeugt ist, daß es möglich ist, ihn zu errichten, wenn man nicht überzeugt ist, daß die technische Rückständigkeit unseres Landes kein unüberwindliches Hindernis für die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft ist. Die Verneinung dieser Möglichkeit bedeutet Unglauben an die Sache des Aufbaus des Sozialismus, Abkehr vom Leninismus.

Was bedeutet die Unmöglichkeit des vollen, endgültigen Sieges des Sozialismus in einem Lande ohne den Sieg der Revolution in anderen Ländern?

Das bedeutet die Unmöglichkeit einer vollen Garantie gegen die Intervention und folglich auch gegen die Restauration der bürgerlichen Ordnung, wenn die Revolution nicht wenigstens in einer Reihe von Ländern gesiegt hat. Die Verneinung dieses unbestreitbaren Leitsatzes bedeutet Abkehr vom Internationalismus, Abkehr vom Leninismus.

„Wir leben“, sagt Lenin, „nicht nur in einem Staat, sondern in einem Staatensystem, und die Existenz der Sowjetrepublik neben den imperialistischen Staaten ist auf die Dauer undenkbar. Am Ende wird entweder das eine oder das andere siegen. Aber bis dieses Ende eintritt, ist eine Reihe furchtbarster Zusammenstöße zwischen der Sowjetrepublik und den bürgerlichen Staaten unvermeidlich. Das heißt, daß die herrschende Klasse, das Proletariat, wenn es herrschen will und herrschen wird, dies auch durch seine militärische Organisation beweisen muß.“ (Lenin, Bericht auf dem VIII. Parteitag, Sämtl. Werke, Bd.XXIV. S.122 russ.)

„Wir haben“, sagt Lenin an anderer Stelle, „ein im höchsten Grade schwankendes, aber immerhin unzweifelhaftes, unbestreitbares gewisses Gleichgewicht vor uns. Ob es von langer Dauer sein wird, weiß ich nicht, und ich glaube, daß man das nicht wissen kann. Und deshalb ist unsererseits die größte Vorsicht am Platze. Und das erste Gebot unserer Politik, die erste Lehre, die sich aus unserer Regierungstätigkeit während eines Jahres ergibt, eine Lehre, die sich alle Arbeiter und Bauern zu eigen machen müssen, ist die: auf der Hut sein, daran denken, daß wir von Leuten, Klassen, Regierungen umgeben sind, die offen den größten Haß gegen uns bekunden. Man muß daran denken, daß wir stets nur um ein Haar von einem Überfall entfernt sind.“ (Rede Lenins auf dem IX. Allrussischen Sowjetkongreß, Sämtl. Werke, Bd.XXVII, S.117 russ.)

Das ist wohl klar.

Wie steht es bei Sinowjew bezüglich der Frage des Sieges des Sozialismus in einem Lande?

Man höre:

„Unter dem endgültigen Sieg des Sozialismus ist mindestens zu verstehen: 1. die Aufhebung der Klassen und folglich 2. die Abschaffung der Diktatur einer Klasse, im gegebenen Falle der Diktatur des Proletariats ...“ „Um noch genauer klarzustellen“, sagt Sinowjew weiter, „wie die Frage bei uns in der UdSSR im Jahre 1925 steht, muß man zweierlei unterscheiden: 1. die gesicherte Möglichkeit, den Sozialismus aufzubauen, ist natürlich auch im Rahmen eines Landes durchaus vorstellbar, und 2. die endgültige Errichtung und Festigung des Sozialismus, das heißt die Verwirklichung der sozialistischen Ordnung, der sozialistischen Gesellschaft.“

Was kann das alles bedeuten?

Nichts anderes, als daß Sinowjew unter dem endgültigen Sieg des Sozialismus in einem Lande nicht die Garantie gegen Intervention und Restauration versteht, sondern die Möglichkeit der Errichtung der sozialistischen Gesellschaft. Unter dem Sieg des Sozialismus in einem Lande aber versteht Sinowjew einen Aufbau des Sozialismus, der nicht zur Errichtung des Sozialismus führen kann und führen soll. Ein Aufbau aufs Geratewohl, ohne Perspektive, ein Aufbau des Sozialismus, bei dem man nicht die Möglichkeit hat, die sozialistische Gesellschaft zu errichten – das ist die Position Sinowjews.

Am Sozialismus bauen, ohne die Möglichkeit zu haben, ihn wirklich aufzubauen, mit dem Bewußtsein bauen, daß man ihn doch nicht aufbauen wird – bis zu solchen Ungereimtheiten hat sich Sinowjew verstiegen.

Aber das ist doch ein Hohn auf die Frage und keine Lösung der Frage!

Noch eine Stelle aus dem Schlußwort Sinowjews auf dem XIV. Parteitag:

„Man sehe nur, wie weit sich z.B. Genosse Jakowljew auf der letzten Kursker Gouvernements-Parteikonferenz verstiegen hat: ‚Können wir‘, fragt er, ‚in einem Lande, wo uns von allen Seiten kapitalistische Feinde umgeben, können wir unter solchen Verhältnissen in einem Lande den Sozialismus errichten?‘ Und er antwortet: ‚Auf Grund des Gesagten haben wir das Recht zu behaupten, daß wir nicht nur am Sozialismus bauen, sondern daß wir, obwohl wir einstweilen allein sind, obwohl wir einstweilen das einzige Sowjetland der Welt, der einzige Sowjetstaat sind, den Sozialismus wirklich aufbauen werden.‘ (Kurskaja Prawda Nr.279 vom 8. Dezember 1925.) Ist das eine leninistische Fragestellung, riecht das nicht nach nationaler Beschränktheit?[3]

Somit heißt es nach Sinowjew, auf dem Standpunkte der nationalen Beschränktheit stehen, wenn man die Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus in einem Lande anerkennt, und auf dem Standpunkte des Internationalismus stehen, wenn man diese Möglichkeit verneint.

Wenn das aber stimmt, lohnt es sich dann überhaupt, den Kampf für den Sieg über die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft zu führen? Folgt nicht daraus, daß ein solcher Sieg unmöglich ist?

Kapitulation vor den kapitalistischen Elementen unserer Wirtschaft – dahin führt die innere Logik der Argumentation Sinowjews.

Und diese Ungereimtheit, die mit dem Leninismus nichts gemein hat, wird uns von Sinowjew als „Internationalismus“, als „hundertprozentiger Leninismus“ aufgetischt!

Ich behaupte, daß Sinowjew in der so wichtigen Frage des Aufbaus des Sozialismus sich vom Leninismus abkehrt und zum Standpunkt des Menschewiks Suchanow hinabsinkt.

Wenden wir uns Lenin zu. Lenin sagte über den Sieg des Sozialismus in einem Lande noch vor der Oktoberrevolution, im August 1915:

„Die Ungleichmäßigkeit der ökonomischen und politischen Entwicklung ist ein unabdingbares Gesetz des Kapitalismus. Hieraus folgt, daß der Sieg des Sozialismus ursprünglich in wenigen kapitalistischen Ländern oder sogar in einem einzeln genommenen Lande möglich ist. Das siegreiche Proletariat dieses Landes würde sich nach Enteignung der Kapitalisten und nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande (von mir hervorgehoben. J.St.) der übrigen, kapitalistischen Welt entgegenstellen und würde die unterdrückten Klassen der anderen Länder auf seine Seite ziehen, in ihnen den Aufstand gegen die Kapitalisten entfachen und im Notfall sogar mit Waffengewalt gegen die Ausbeuterklassen und ihre Staaten vorgehen.“ (Lenin, Ausgew. Werke, Bd.5, S.134/135.)

Was bedeuten die von uns hervorgehobenen Worte Lenins: „nach Organisierung der sozialistischen Produktion im eigenen Lande“? Das bedeutet, daß das Proletariat des siegreichen Landes die sozialistische Produktion im eigenen Lande nach der Machtergreifung organisieren kann und muß. Und was bedeutet „die Organisierung der sozialistischen Produktion“? Das bedeutet, die sozialistische Gesellschaft errichten. Es erübrigt sich nachzuweisen, daß diese klare und bestimmte These Lenins keines weiteren Kommentars bedarf. Andernfalls wäre es nicht verständlich, warum Lenin im Oktober 1917 zur Machtergreifung durch das Proletariat aufrief.

Man sieht, daß sich dieser klare Leitsatz Lenins von dem verworrenen und antileninistischen „Leitsatz“ Sinowjews, wonach wir am Sozialismus „im Rahmen eines Landes“ bauen können, daß es aber unmöglich ist, ihn aufzubauen, unterscheidet wie Himmel und Erde.

Das sagte Lenin im Jahre 1915, vor der Machtergreifung durch das Proletariat. Aber vielleicht haben sich seine Ansichten nach den Erfahrungen der Machtergreifung, nach 1917, geändert? Wenden wir uns der Schrift Lenins „Über das Genossenschaftswesen“ zu, die im Jahre 1923 verfaßt wurde.

„In der Tat“, sagt Lenin, „die Verfügungsgewalt des Staates über alle großen Produktionsmittel, die Staatsmacht in den Händen des Proletariats, das Bündnis dieses Proletariats mit den vielen Millionen Klein- und Zwergbauern, die Sicherung der Führerstellung dieses Proletariats gegenüber der Bauernschaft uws. – ist das nicht alles, was notwendig ist, um aus den Genossenschaften, allein aus den Genossenschaften, die wir früher geringschätzig als Krämerei behandelt haben und die wir in gewisser Hinsicht jetzt, unter der NÖP, genau so zu behandeln berechtigt sind, ist das nicht alles, was notwendig ist, um die vollendete sozialistische Gesellschaft zu errichten? Das ist noch nicht die Errichtung der sozialistischen Gesellschaft, aber es ist alles, was zu dieser Errichtung notwendig und hinreichend ist.[4] (Lenin, Ausgew. Werke, Bd.9, S.437.)

Mit anderen Worten: wir können und müssen die vollendete sozialistische Gesellschaft errichten, denn wir haben alles, was zu dieser Errichtung notwendig und hinreichend ist.

Ich glaube, klarer kann man sich kaum ausdrücken.

Man vergleiche diesen klassischen Leitsatz Lenins mit der antileninistischen Erwiderung Sinowjews an Jakowljew, und man wird begreifen, daß Jakowljew nur die Worte Lenins über die Möglichkeit der Errichtung des Sozialismus in einem Lande wiederholt hat, während Sinowjew, der sich gegen diesen Leitsatz wendet und Jakowljew geißelt, von Lenin abgerückt ist und sich auf den Standpunkt des Menschewiks Suchanow gestellt hat, auf den Standpunkt, daß die Errichtung des Sozialismus in unserem Lande infolge seiner technischen Rückständigkeit unmöglich sei.

Unbekannt bleibt nur, wozu wir denn im Oktober 1917 die Macht ergriffen haben, wenn wir nicht darauf rechneten, den Sozialismus zu errichten?

Man hätte im Oktober 1917 nicht die Macht ergreifen sollen – das ist die Schlußfolgerung, zu der die innere Logik der Argumentation Sinowjews führt.

Ich behaupte ferner, daß Sinowjew in der so wichtigen Frage des Sieges des Sozialismus gegen bestimmte Beschlüsse unserer Partei zu Felde zieht, die in der bekannten Resolution der XIV. Parteikonferenz Über die Aufgaben der Komintern und der KPR (B) im Zusammenhang mit der Erweiterten Plenartagung des EKKI festgelegt worden sind.

Wenden wir uns dieser Resolution zu. Dort wird über den Sieg des Sozialismus in einem Lande gesagt:

„Das Bestehen zweier diametral entgegengesetzter gesellschaftlicher Systeme ruft die ständige Gefahr der kapitalistischen Blockade, anderer Formen des ökonomischen Druckes, der bewaffneten Intervention und der Restauration hervor. Die einzige Garantie für den endgültigen Sieg des Sozialismus, das heißt die Garantie gegen die Restauration ist folglich die siegreiche sozialistische Revolution in einer Reihe von Ländern ...“ „Der Leninismus lehrt, daß der endgültige Sieg des Sozialismus im Sinne der vollen Garantie gegen eine Restauration der bürgerlichen Verhältnisse nur im internationalen Maßstab möglich ist ...“ „Daraus folgt keineswegs, daß die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in einem so rückständigen Lande wie Rußland ohne ‚staatliche Hilfe‘ (Trotzki) der in technischer und ökonomischer Hinsicht entwickelteren Länder unmöglich sei.“ [5] (Siehe Resolution.)

Man sieht, die Resolution behandelt den endgültigen Sieg des Sozialismus im Sinne der Garantie gegen die Intervention und die Restauration – in vollem Gegensatz zur Auffassung Sinowjews in seinem Buche Leninismus.

Man sieht, die Resolution erkennt an, daß die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft in einem so rückständigen Lande wie Rußland ohne ‚staatliche Hilfe‘ der in technischer und ökonomischer Hinsicht entwickelteren Länder möglich ist – in vollem Gegensatz zu der gegenteiligen Behauptung Sinowjews in seiner Erwiderung an Jakowljew im Schlußwort auf dem XIV. Parteitag.

Wie soll man das anders nennen als einen Kampf Sinowjews gegen die Resolutionen der XIV. Parteikonferenz?

Freilich sind Parteiresolutionen manchmal nicht ohne Mängel. Es kommt vor, daß Parteiresolutionen Fehler enthalten. Allgemein gesprochen wäre die Annahme zulässig, daß auch die Resolution der XIV. Parteikonferenz einige Fehler enthalte. Es ist möglich, daß Sinowjew diese Resolution für fehlerhaft hält. Dann aber muß man das klar und offen aussprechen, wie es einem Bolschewik ziemt. Das tut jedoch Sinowjew aus irgendeinem Grunde nicht. Er zog es vor, einen anderen Weg zu wählen und die Resolutionen der XIV. Parteikonferenz aus dem Hinterhalt anzugreifen, ohne diese Resolution zu erwähnen und ohne irgendeine offene Kritik an der Resolution zu üben. Sinowjew glaubt offenbar, daß man auf diesem Wege am besten zum Ziele kommt. Sein Ziel aber ist das eine: die Resolution zu „verbessern“ und Lenin „ein klein wenig“ zu korrigieren. Es erübrigt sich wohl nachzuweisen, daß Sinowjew sich in seinen Berechnungen getäuscht hat.

Woher kommt der Fehler Sinowjews? Wo steckt die Wurzel dieses Fehlers?

Die Wurzel dieses Fehlers liegt meines Erachtens in der Überzeugung Sinowjews, daß die technische Rückständigkeit unseres Landes ein unüberwindliches Hindernis für die Errichtung der vollendeten sozialistischen Gesellschaft sei, daß das Proletariat infolge der technischen Rückständigkeit unseres Landes den Sozialismus nicht errichten könne. Sinowjew und Kamenew versuchten einmal, mit diesem Argument in einer der Sitzungen des Zentralkomitees der Partei vor der Aprilkonferenz der Partei aufzutreten. Aber sie holten sich eine Abfuhr und waren gezwungen, den Rückzug anzutreten, indem sie sich formell dem entgegengesetzten Standpunkt, dem Standpunkt der Mehrheit des Zentralkomitees, unterordneten. Obwohl sich aber Sinowjew formell diesem Standpunkt untergeordnet hatte, setzte er den Kampf gegen denselben die ganze Zeit fort. Über diesen „Zwischenfall“ im ZK der KPdSU (B) sagt das Moskauer Komitee unserer Partei in seiner Antwort auf den Brief der Leningrader Gouvernements-Parteikonferenz:

„Noch vor kurzem haben Kamenew und Sinowjew im Politbüro den Standpunkt vertreten, daß wir infolge unserer technischen und ökonomischen Rückständigkeit nicht imstande sein würden, mit den inneren Schwierigkeiten fertig zu werden, es sei denn, daß uns die internationale Revolution rette. Wir aber, zusammen mit der Mehrheit des Zentralkomitees, meinen, daß wir den Sozialismus bauen können, daß wir ihn bauen und den Aufbau zu Ende führen werden, ungeachtet unserer technischen Rückständigkeit und ihr zum Trotz. Wir meinen, daß dieser Aufbau selbstverständlich viel langsamer vor sich gehen wird, als es bei einem Sieg im Weltmaßstabe der Fall wäre, aber dennoch schreiten wir vorwärts und werden vorwärtsschreiten. Ebenso sind wir der Ansicht, daß der Standpunkt Kamenews und Sinowjews den Unglauben an die inneren Kräfte unserer Arbeiterklasse und der ihr folgenden Bauernmassen zum Ausdruck bringt. Wir sind der Ansicht, daß dieser Standpunkt eine Abkehr von der Leninschen Position bedeutet.“ (Siehe Antwort.)

Dieses Dokument erschien in der Presse während der ersten Sitzungen des XIV. Parteitages. Sinowjew hatte natürlich die Möglichkeit, noch auf dem Parteitag gegen dieses Dokument Stellung zu nehmen. Es ist bezeichnend, daß Sinowjew und Kamenew keine Argumente gegen diese schwere Beschuldigung fanden, die vom Moskauer Komitee unserer Partei gegen sie erhoben wurde. Ist das ein Zufall? Ich glaube, daß es kein Zufall ist. Die Beschuldigung hat offenbar ins Schwarze getroffen. Sinowjew und Kamenew haben auf diese Beschuldigung darum mit Schweigen „geantwortet“, weil sie nichts hatten, was sie dagegen ins Treffen führen konnten.

Die neue Opposition ist gekränkt, daß man Sinowjew des Unglaubens an den Sieg des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande beschuldigt. Aber wenn Sinowjew, nachdem die Frage des Sieges des Sozialismus ein einem Lande ein volles Jahr diskutiert wurde, nachdem der Standpunkt Sinowjews vom Politbüro des Zentralkomitees (April 1925) abgelehnt wurde, nachdem sich schon eine bestimmte Meinung der Partei über diese Frage herausgebildet hatte, die in der bekannten Resolution der XIV. Parteikonferenz (April 1925) niedergelegt worden ist, wenn Sinowjew sich nach alledem entschließt, in seinem Buch Leninismus (September 1925) gegen den Standpunkt der Partei aufzutreten, wenn er dann dieses Auftreten auf dem XIV. Parteitag wiederholt – wie soll man das alles, diese Verstocktheit, diese Hartnäckigkeit bei der Verteidigung seines Fehlers, anders erklären als damit, daß Sinowjew angesteckt, hoffnungslos angesteckt ist mit dem Unglauben an den Sieg des sozialistischen Aufbaus in unserem Lande?

Sinowjew beliebt, diesen seinen Unglauben als Internationalismus hinzustellen. Aber seit wann wird bei uns die Abkehr vom Leninismus in der Kardinalfrage des Leninismus als Internationalismus hingestellt?

Wird es nicht richtiger sein zu sagen, daß nicht die Partei, sondern Sinowjew sich hier gegen den Internationalismus und die internationale Revolution versündigt? Denn was ist unser Land, das Land „des Sozialismus im Aufbau“, anderes als die Basis der Weltrevolution? Kann es aber die wirkliche Basis der Weltrevolution sein, wenn es nicht fähig ist, die sozialistische Gesellschaft zu errichten? Kann es das gewaltige Anziehungszentrum für die Arbeiter aller Länder, das es jetzt zweifellos ist, bleiben, wenn es unfähig ist, im eigenen Lande den Sieg über die kapitalistischen Elemente unserer Wirtschaft, den Sieg des sozialistischen Aufbaus zu erringen? Ich glaube, nein. Folgt aber daraus nicht, daß der Unglaube an den Sieg des sozialistischen Aufbaus, die Propagierung dieses Unglaubens zur Diskreditierung unseres Landes als der Basis der Weltrevolution führt, die Diskreditierung unseres Landes führt aber zur Schwächung der revolutionären Weltbewegung.

Wodurch suchten die Herren Sozialdemokraten die Arbeiter von uns abzuschrecken? Durch die Propaganda, daß „bei den Russen nichts herauskommen wird“. Womit schlagen wir jetzt die Sozialdemokraten, indem ganze Scharen von Arbeiterdelegationen zu uns strömen und dadurch die Positionen des Kommunismus in der ganzen Welt gestärkt werden? Mit unseren Erfolgen beim Aufbau des Sozialismus. Ist es aber nunmehr nicht klar, daß derjenige, der den Unglauben an unsere Erfolge beim Aufbau des Sozialismus propagiert, indirekt den Sozialdemokraten hilft, die Schwungkraft der internationalen revolutionären Bewegung schwächt und sich unvermeidlich vom Internationalismus abwendet? ...

Man sieht, daß es mit dem „Internationalismus“ Sinowjews durchaus nicht besser bestellt ist als mit seinem „hundertprozentigen Leninismus“ in der Frage des Aufbaus des Sozialismus in einem Lande.

Deshalb hat der XIV. Parteitag richtig gehandelt, als er die Ansichten der neuen Opposition als „Unglauben an den Aufbau des Sozialismus“ und als „Entstellung des Leninismus“ kennzeichnete.

 

Fußnote

1. Gemeint ist die erste Ausgabe.

2. In den nachfolgenden Auflagen der Schrift Über die Grundlagen des Leninismus wurde diese neue Formulierung der Frage an die Stelle der alten gesetzt.

3. Von mir hervorgehoben. J.St.

4. Von mir hervorgehoben. J.St.

1. Von mir hervorgehoben. J.St.

 


Zuletzt aktualisiert am 16.10.2003