Max Adler

Kausalität und Teleologie

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Einleitung

Ueber die Beziehung der Erkenntnistheorie
zum modernen Sozialismus
als einem Ergebnis der Wissenschaft


Vielleicht ist die Zeit nicht mehr fern, in der es unnötig erscheinen wird, ein Wort der Rechtfertigung voranzuschicken, dass eine Arbeit, deren Inhalt wesentlich auf erkenntniskritische und methodologische Erörterung abzielt, im Rahmen einer Sammlung von Marx-Studien erscheint, also von Abhandlungen, die eingestandenermassen das Ziel verfolgen, auf den wissenschaftlichen Grundlagen des modernen Sozialismus weiter zu arbeiten, wie sie durch das Lebenswerk von Karl Marx und Friedrich Engels gelegt worden sind. Heute muss man aber wohl noch damit rechnen, dass eine derartige Zusammenstellung auf ein gewisses Befremden stossen wird, ja vielleicht sogar einem abweisenden Vorurteil begegnen dürfte. Und dies besonders bei denjenigen, die gewohnt sind, eine Sache auf den ersten Blick hin zu beurteilen, weswegen sie noch nicht immer gerade die am wenigsten zu einem Urteil Berufenen sein müssen. Da ist es denn zugleich einer der Hauptzwecke der vorliegenden Untersuchung, ein solches Vorurteil als gefährlich und widersinnig zu erweisen. Um die Erreichung dieses Zweckes zu erleichtern, seien die folgenden Vorbemerkungen gestattet, von denen ich hoffen will, dass, sollte nun einmal selbst wissenschaftliche Arbeit ohne jedes Vorurteil vielleicht ganz unmöglich sein, sie doch eher eine günstige Stimmung für das Vorhaben dieser Abhandlung erwecken mögen. Ist doch nur jenes Vorurteil, welches auf jegliches nachkommende Urteil verzichtet oder sich ihm gar störrig in den Weg stellen will, das schlechthin Unfruchtbare am Baume der Erkenntnis. Dagegen wird kaum jemals eine Lehre ihren eigentlichen Inhalt aufschliessen oder auch nur ihren Irrtum erkennen lassen, der nicht zuvor eine aufnahmsbereite Stimmung gleichsam wie ein günstiges Vorurteil entgegengekommen ist. Indem auf diese Weise eine interessierte Arbeitsfreudigkeit alle neuen, ja vielleicht gar fremdartigen Elemente der ihr entgegentretenden Anschauung bereitwillig aufgreift und mit der ganzen Kraft der aufnehmenden Persönlichkeit deren geistigen Bestand zu amalgamieren sucht, wird es nun am ehesten offenbar, wo dies unmöglich ist, und daher auf der einen oder anderen Seite das Erkennen in die Irre gehen mag. So ist es also keineswegs ein Majestätsverbrechen an dem erhabenen Charakter wissenschaftlicher Arbeit, von ihr einzugestehen, dass auch sie in der unnahbaren Höhe des ihr zur Pflicht gemachten objektiven Denkens den wärmenden Strahl doch nicht missen mag, der von der Sonne einer ihren Bemühungen geneigten Gemütsverfassung ihr schweres Werk durchleuchtet. Nur in der Abstraktion kann das wissenschaftliche Denken von der lebensvollen, allseitig in Anspruch genommenen Menschenindividualität getrennt werden, in deren Wirken allein ja das Wissen seine Existenz und historische Entwicklung findet. Und wenn es darum sicherlich wahr ist, dass also auch bei der grundsätzlichen Voraussetzungslosigkeit aller echten wissenschaftlichen Arbeit wir doch nie ohne die Voraussetzung unserer Persönlichkeit an sie herantreten können, dann wird die Disziplinierung unserer Vorurteile geradezu zur empirischen Bedingung eines ungestörten und kritisch freien Fortschrittes des wissenschaftlichen Denkens, also die Niederhaltung aller dogmatischen Machtgelüste bereits zur Geltung gelangter Denkweisen auf Alleinherrschaft und dagegen die Stimmungsbereitschaft, sein Inneres auf jeden neu angeschlagenen Ton harmonisch anklingen zu lassen. Um so mehr gilt dies wohl, wenn es überhaupt gar kein neuer Ton ist, der, wie in dieser Untersuchung, die Grundstimmung abgeben soll, sondern es jener gewaltige Akkord der kritischen Philosophie Immanuel Kants ist, der schon seit langem das menschliche Denken stets reicher mitklingen liess, wann immer sich dieses am tiefsten zu erfassen bestrebt war. Eine Stimmung, die hier sich beschränkt oder eigensinnig mit ihren bereits erreichten wissenschaftlichen Resultaten abschliessen wollte, müsste also wohl ohne weiteres schon deshalb allein jedem wirklich freien Denken gefährlich und widersinnig erscheinen.

Gefährlich aber ist jenes Vorurteil gegen erkenntnistheoretische Erörterungen noch besonders im Gebiete der wissenschaftlichen Grundlagen des Sozialismus, weil es den Lebensnerv alles wahrhaft entwicklungsfähigen Denkens und damit auch jeder echten Wissenschaft ertötet: die radikale, das heisst die bis auf die Grundlagen des Wissens reichende Kritik. Gerade weil durch die Denkmittel des Marxismus die Möglichkeit einer der naturwissenschaftlichen ähnlichen exakten Behandlung der sozialen Erscheinungen nähergerückt wurde, gerade weil diese Lehre es möglich macht, dass im Rahmen ihres Systems der an den Methoden des Naturerkennens gebildete Begriff der Wissenschaft trotz seiner mehrfach als abweichend erkannten inneren Beschaffenheit gleichwohl prinzipiell zum erstenmale mit voller Konsequenz auch auf das geistig-soziale Leben angewendet werden kann, gerade deshalb darf der Marxismus am wenigsten sich einer Kritik entziehen, die den Begriff der Wissenschaft selbst zum Gegenstande hat, die also auf die Möglichkeit und den Geltungswert der wissenschaftlichen Erkenntnis gerichtet ist.

Aber jenes Vorurteil ist auch widersinnig, weil es sich gegen die eigene Kraft kehrt, weil es verkennt, wie die marxistische Gedankenwelt selbst sich in einem grossartigen, auf ihre Erkenntnisgrundlagen gerichteten kritischen Prozess aus der Hegelschen Spekulation losgerungen hat. Dieselbe Selbstbesinnung des Denkens auf seine Tragweite und Geltung und damit das Streben, Klarheit zu gewinnen über das eigentliche Wesen der Wissenschaft, ihre Macht und ihre Schranken, welche in unseren Tagen mit so elementarer Macht gerade aus den Studien exakter Naturforscher allseitig eine neue Epoche der Erkenntnistheorie entstehen liess, war auch das Stichwort für das geistige Ringen von Karl Marx. „Reform des Bewusstseins“, „Selbstverständigung (kritische Philosophie) der Zeit über ihre Kämpfe und Wünsche“ [1], das waren die Leitsterne, denen folgend Karl Marx im Verein mit Friedrich Engels in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern seine kritische Arbeit begann. Diese Reform des Bewusstseins „nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins“ [2], wie es ihm zunächst in dem überwältigenden transzendenten Vernunftprozess der Hegelschen Philosophie und später in der auch noch nicht völlig auf unserer Erde heimischen Lehre Feuerbachs vom „menschlichen Wesen“ entgegentrat, lieferte die Vorstellung des realen, mit seinen Artgenossen eigentümlich verbundenen Menschen, der nur in dieser Verbindung zu schaffen, sich zu entwickeln, ja selbst seinesgleichen zu bekämpfen vermag, als Erkenntnisbedingung sozialer Wissenschaft, Wie sehr diese systematische Erkenntnis, die in ihrer weiteren Entwicklung zur materialistischen Geschichtsauffassung und damit zu einem Grundpfeiler des Marxismus ausgebaut wurde, ein Resultat methodologisch-kritischer Arbeit an der zeitgenössischen Philosophie war, das wissen wir nicht nur von Marx selbst, der sich deutlich darüber ausgesprochen hat, welche Bedeutung die Umformung der dialektischen Methode für seine Lehre gehabt hat. Viel ausführlicher noch erfahren wir dies aus dem Munde seines Mitarbeiters Engels, der in einem vor einiger Zeit veröffentlichten Aufsatze aus dem Jahre 1859 [3] bei Besprechung der kurz zuvor erschienenen Schrift von Marx Zur Kritik der politischen Oekonomie in knappen Zügen treffend auseinandersetzte, dass die neue in diesem Werke gegebene theoretische Grundlage des Sozialismus im Denken ihres Schöpfers nur durch eine Kritik derjenigen Methode gewonnen werden konnte, in welcher bis dahin die bedeutendsten sozialtheoretischen Einsichten zutage gefördert worden waren: der Hegelschen Dialektik. [4] Hatte diese Methode schon vom Standpunkte des „reinen Denkens“ bewundernswerte Resultate sozialhistorischer Erkenntnis gezeitigt, war sie trotz ihrer Metaphysik mit dem „enormen historischen Sinn“ Hegels vereinbar, so musste mehr in ihr hegen „als Sophisterei und Haarspalterei“. Es galt somit, ihren Kern gerade in Anwendung auf das historische Leben rein herauszuschälen, um derart, befreit von den Mystizismen der Hegelschen Philosophie, jenes Erkenntnisinstrument selbst zu gewinnen, welches „Hegels wirkliche Entdeckungen“ auf diesem Gebiete ermöglicht hatte. Und so gelangt Engels zu einer Konstatierung, die für das Verständnis von Karl Marx als einem bewussten Bahnbrecher der Sozialtheorie zu neuer, eigenartiger Entwicklung und nicht bloss als einem Denker, der, wie neuerdings manchmal Stimmen laut geworden sind, nur vor ihm bereits angedrehte Fäden weitergesponnen hatte, hochbedeutsam ist. Sie lautet: „Die Herausarbeitung der Methode, die Marx’ Kritik der politischen Oekonomie zugrunde liegt, halten wir für ein Resultat, das an Bedeutung kaum der materialistischen Grundanschauung nachsteht“. [5] Es wird erst im Fortgang dieser Studie die ganze Berechtigung dieses Satzes zu würdigen möglich sein, wenn sich später zeigen wird, in welchem innigen Zusammenhange tatsächlich diese Herausarbeitung der Marxschen Methode mit einer erkenntnistheoretischen Grundlegung der Sozialwissenschaft steht. Einstweilen genügt es, aus berufenstem Munde nicht nur dargelegt zu hören, wie das Bewusstsein über die neue Grundlegung der Sozialwissenschaft bei ihren ersten Verkündern in völlig zweifelloser Klarheit vorhanden war, sondern zugleich auch zu vernehmen, wie diese Grundlegung in einer methodologisch-kritischen Arbeit erfolgt ist

So also war es ein Stück Erkenntniskritik [6], Kritik des sozialen Erkennens, die dem Marxismus Methode und systematische Einsicht geliefert hat» eine Kritik, die keine Festung unberannt im Rücken liegen liess, sondern ihre Resultate gerade durch Aufsuchen und Bekämpfen des Gegners gewann. Das ist auch weiterhin so geblieben. Nur dass in der neueren Zeit, die aber jetzt auch schon bald Vergangenheit sein dürfte, ein gewisser philosophiefeindlicher Zug in ihm Macht gewonnen hatte, der ihm wohl noch aus den Tagen anhaftete, als er in den Massen seiner Anhänger mit dem naturwissenschaftlichen Materialismus der Siebziger- und Achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts eine Art Personalunion eingegangen war, Infolgedessen schien es» als ob der Marxismus nicht gewillt sei, der ausser seinem Lager vor sich gehenden philosophisch-kritischen Beschäftigung mit der Sozialtheorie die gebührende Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen, gleich als sei jene freilich oft in ganz entlegene Gebiete der Erkenntnistheorie ausmündende Arbeit gar nichts, was ihn selbst irgendwie angehe. Allein innerhalb des eigenen Bereiches die kritische Waffe mit aller Präzision handhaben, dagegen dieses Bereich selbst, den beanspruchten Wissenschaftswert seiner Einsichten, die Ausschliesslichkeit seiner am Leitfaden der Kausalität verlaufenden Gesetzmässigkeit gegen jeden Zweifel nicht nur für gesichert zu halten, sondern vielleicht gar noch die Augen vor der Fülle der Probleme zu schliessen, welche hier die allenthalben einsetzende Arbeit grosser Denker aufgezeigt hat, – wäre das nicht barer Widersinn? Hiesse das nicht die eigene Waffe verderben, sie aus einer Wehr im stolzesten Kampfe der Geister erniedrigen zu einem notdürftigen Werkzeug für recht und schlechten Hausgebrauch? Die ganze ihr noch verbleibende Schärfe würde dann wahrlich nur mehr dazu dienen, unser eigenes Denken förmlich abzuschneiden von der grossen geistigen Bewegung der Philosophie, die zwar nicht mehr den ausschweifenden Wunsch hat, das All im Denken zu durchdringen, dafür aber ihre grösste geistige Kraft gerade daher gewinnt, die Grenzen möglichen Wissens kennen zu lernen.

So sieht sich denn die moderne Sozialtheorie von ihrem Ursprung im Marxismus her ebenso wie durch den mächtigen Einfluss der Naturwissenschaft, die ihr als wissenschaftliches Ideal stets vorbildlich war, in die gleiche Richtung mit deren moderner Entwicklung gewiesen, nämlich auf die Theorie und Kritik der Erkenntnis, durch die sie zustande kommt und getragen wird, sodann auf die Methodologie, um von da aus für ihre Arbeiten jenen sicheren Gang der Untersuchungen und jene Selbstgewissheit über ihre Voraussetzungen und Methoden zu gewinnen, die ihr bisher durch die Ausserachtlassung einer bewussten Verbindung mit diesen grundlegenden kritischen Disziplinen nur zu oft gefehlt haben mögen.

Dazu kommt aber noch ein anderes. Man hat es oft schon mit Bedauern hervorgehoben, wie sehr die wissenschaftliche Arbeit der Gegenwart wegen der steten Vervielfältigung ihrer Aufgaben und des ins Unübersehbare wachsenden Reichtums ihres Stoffes sich mehr und mehr spezialisiert, und hat gar Vieles und Treffendes über die Gefahren dieser Spezialisierung beigebracht. Allein dabei darf doch nicht übersehen werden, wie gerade durch diese Besonderung, sobald man nur nicht die Dinge aus dem engsten Gesichtskreis irgend eines Nur-Fachmannes ansieht, die Einheit des ganzen Wissenschaftsbetriebes eine innigere, weil tausendfach verflochtenere geworden ist. Wenn schon August Comte den grundsätzlichen Zusammenhang aller Wissenschaften in seiner linearen Anordnung derselben zu einer Hierarchie deutlich zum Bewusstsein gebracht hat, so galt es noch, diese Einsicht dahin zu vervollkommnen, dass der tatsächliche Zusammenhang der Wissenschaften nicht wie nach einem logischen Schema bloss in einer Richtung verläuft, in welcher jeweils die abstraktere und einfachere Wissenschaft die weniger abstrakte und komplettere trägt, sondern, dass er ein allseitiger, sich wechselweise stützender und fördernder ist. [7] Der Physiologe und Biologe arbeitet zwar vorzugsweise mit den Resultaten der Physik und Chemie auf seinem eigentümlichen Gebiete, ohne doch der Richtpunkte entraten zu können, die ihm die Psychologie und die historischen Wissenschaften geben. Der Physiker und auf ihn gestützt der Chemiker verwerten beide den Kalkül des Mathematikers, verdanken aber viele ihrer weitestführenden Anregungen den physiologischen und psychologischen Untersuchungen. [8] Die Psychologie endlich und die verschiedenen Richtungen der Sozialwissenschaften bauen ebenso auf dem gesamten Resultat der Naturwissenschaften, als sie sich untereinander fördernd ausbilden und in Rückwirkung auf jene oft einen nachhaltig umgestaltenden Einfluss ausüben. Um nur einen Gesichtspunkt herauszugreifen: Operiert nicht die ganze moderne Entwicklungstheorie der Naturwissenschaft mit aus dem Bereich des geistigen Lebens genommenen Begriffen, wie vor allem jenen der Entwicklung selbst, der Anpassung, der Selbsterhaltung, der Zielstrebigkeit etc.? Sie alle aber gebrauchen die Methoden, welche eine ihrerseits an dem Fortgange der Einzelwissenschaften sich vervollkommnende Logik von ihnen zum gesonderten Gegenstand eigener Untersuchung macht, nunmehr mit grösserem oder geringerem Bewusstsein zum Ausbau ihrer Systeme. Indem sie endlich keinen Schritt tun können, ohne sich in Begriffen und Voraussetzungen zu bewegen, welche nur die Erkenntnistheorie sicherstellen kann, berührt sich alle theoretische Arbeit selbst dort, wo sie zu letzten praktischen Aufgaben in das gewöhnlichste Leben des Tages hinabsteigt, mit den tiefsten, allen praktischen Interessen scheinbar ganz abgekehrten Grübelproblemen der Philosophie. Wie könnte es daher auch nur für eine dieser so innig zusammenhängenden Denkarbeiten, die vereint das grosse Netz unseres theoretischen Erkennens darstellen, wahrhaft gleichgültig bleiben» was in irgend einem seiner Knotenpunkte sich fester schürzt oder nicht mehr halten will?

Es ist mit der wissenschaftlichen Arbeitsteilung nicht anders wie mit der wirtschaftlichen im Produktionsprozess, Wie bei diesem jede Einzelverrichtung, in die er zerlegt wird, nur Sinn und Bedeutung hat für das Ganze, auf dessen Erzielung der Produktionsprozess abgestellt ist, so hat auch jede noch so in ihrer Spezialisierung sich abgerundet zusammenschliessende wissenschaftliche Einzelbestrebung nicht in sich selbst Grund und Zweck, sondern beides nur als Mittel zur Herstellung des grossen Zusammenhanges menschlicher Erkenntnis. Und wie in dem wirtschaftlichen Produktionsprozesse keine der ihn zusammensetzenden Tätigkeiten ausfallen kann, wenn das ganze Werk zustande kommen soll, sie mag dem Unkundigen oft an sich noch so seltsam, unverständlich, ja manchmal wohl gar nicht zur Sache gehörig erscheinen, so gibt es im Bereiche der menschlichen Erkenntnisarbeit in Wirklichkeit kein echtes Problem (das also nicht etwa bloss als Scheinproblem das Denken narrte und in unfruchtbare Mühe versenkte), es mag noch so „unpraktisch“ erscheinen, wie man das wohl nennt, dessen Lösung zuletzt nicht etwa bloss zurückwirkte auf die exaktesten und praktischesten Untersuchungsgebiete, nein, geradezu für diese entscheidend wäre. Davon wird hoffentlich die vorliegende Arbeit selbst einen genügenden Beleg geben, wenn sich im Fortgange ihrer Erörterung zeigen wird, wie der spezifische Charakter der Wissenschaft, also auch der Sozialwissenschaft, und damit der bis in unsere gewöhnlichsten Urteile hinabreichende Geltungsanspruch aller von ihr getragenen Aussagen auf Objektivität und Gewissheit sich gar nicht abgetrennt von der Frage nach der Transzendenz der Aussenwelt und dem eigentlichen Sinn des vielgenannten und noch mehr verkannten „Ding an sich“ wird erhärten lassen.

Der so sich lückenlos von der höchsten Spitze des Denkens bis in die breite Basis seiner vielartigen Ausströmungen in das tägliche Leben ziehende Zusammenhang der Denkarbeit macht aber sogleich die Notwendigkeit der erkenntnistheoretischen Beschäftigung gerade für die Geistes- und Sozialwissenschaften an einem der wichtigsten Punkte in neuem Lichte ersichtlich. Es ist nun nicht mehr diese innige Verflochtenheit alles auf sichere Erkenntnis gerichteten Denkens allein, welche bewirkt, dass die wissenschaftliche Arbeit auf keinem ihrer Sondergebiete je den bewussten Zusammenhang mit dem Ganzen der Erkenntnis vertiefen darf, will sie nicht alsbald gewärtigen, ebendort, wo sie glaubte, für sich allein am besten zurecht zu kommen, beim ersten Augenaufschlag verwirrt und desorientiert zu werden durch die Menge der Einsichten, Standpunkte und Zweifelfragen, die sich ausserhalb ihres Bereiches aufgetan haben. Nicht mehr also diese theoretischen Lebensinteressen allein, sondern gerade und noch besonders die praktischen Ziele des Menschen, denen alle Wissenschaft ja als Pionier dienen will, sind es, die selbst die scheinbar entlegensten geistigen Regionen mit der Sphäre des vollen, eigentlichen Lebensinteresses, des zweckbewussten, methodischen Handelns verbinden: recht zum Spotte jener kurzsichtigen Leute, die unausgesetzt die Berufung auf das „Nur-Praktische" im Munde führen und damit nur dokumentieren, wie unpraktisch sie selbst für die Anforderungen wirklich konsequenten Denkens sowie jeder tiefer eindringenden kritischen Geistesarbeit sind. Diese eminent praktische Bedeutung aller erkenntnistheoretischen Untersuchung ist gar nicht zu verkennen, wenn man im Auge behält, dass es ihre vorzüglichste Aufgabe ist, den spezifischen Charakter der Wissenschaft sicherzustellen, die Wissenschaft aber wieder es ist, durch welche wir eine systematische, über die räumlichen und zeitlichen Schranken unseres Daseins umfassend hinauswirkende Praxis zustande bringen. Was die Wissenschaft für die praktische Naturbeherrschung geleistet hat, das lehrt die grossartige Entwicklung der industriellen Technik selbst dem stumpfsten Betrachter. Eine ähnliche Leistung der Geistes- und Sozialwissenschaft auch für die soziale Technik, eine auf Wissenschaft gegründete Politik ist der Traum alles Denkens über menschliche Dinge seit den Tagen Platons. Wenn wir nun sehen werden, wie gerade nach dieser Richtung durch die Gedankenarbeit Karl Marx’ die zahlreichen auf dieses Ziel hinführenden Strebungen in eine mächtige Kraft vereinigt wurden, die zum erstenmale wirklich eine Politik durch wissenschaftliche Einsicht in ihrer prinzipiellen Richtung und Zielsetzung zusammenhält, so rückt dadurch die unabweisliche Wichtigkeit der kritischen Frage nach der Beschaffenheit wissenschaftlichen Erkennens in grellster Deutlichkeit vor die Augen und wird es unübersehbar, welche grundlegende Bedeutung der sichergestellte Begrifl der Wissenschaft selbst für alles praktische Verhalten gewinnt. Weit entfernt davon, die Wissenschaft vielleicht zu überschätzen, vielmehr im klaren Bewusstsein, dass sie, wie später noch gezeigt werden soll, gar nie die ganze Realität des Lebens in sich aufnehmen kann, steht doch so viel fest, dass sie das mächtigste Mittel zur sicheren Ausgestaltung und Lenkung des äusseren Lebensverlaufes ist. Und so kann es gar nicht anders sein, als dass, wie schon früher für die Naturwissenschaft, nun auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften der Begriff der Wissenschaft selbst» mit dem die letzteren als einem ganz selbstverständlichen operierten, zum ernstesten Problem werde: was er ihnen bedeute, was er leisten könne und wie weit letzten Zieles die sichere Beeinflussung der Praxis gehe, die man von ihm erwarten dürfe. Unsicherheit über diese Grundfragen muss gerade dort am gefährlichsten werden, wo der Bezug der Theorie zur Praxis von jeher am meisten bestritten ist, bei der Betrachtung der sozialen Phänomene und des geschichtlichen Werdens, Darum war es auch konsequent, wenn die erst in Einzelpunkten gegenüber den Lehren von Karl Marx einsetzende und dann zu einer Revision der Grundlagen des Marxismus tendierende Kritik Eduard Bernsteins, da sie gleichwohl es doch unterliess, ihre eigenen Voraussetzungen kritisch zu klären und daher die mangelnde Prägnanz mancher ihrer Begriffe als ebenso viele Fehler des von ihr kritisierten Systems natürlich wiederfinden musste, schliesslich in einen skeptischen Zweifel an der Möglichkeit einer eigentlich wissenschaftlichen Sozialpraxis ausmündete, wie dies sein Vortrag: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich? zum Ausdruck gebracht hat.

Es geschieht nicht unbedacht, dass wir hier den Namen Ed. Bernsteins nennen und damit die noch frische Erinnerung an den langwierigen Streit innerhalb des Marxismus heraufbeschwören, dessen Wiedererwachen wohl niemand wünschen wird. Kein Zweifel, dass viele von den Fragen, die er anregte, noch ihrer Erledigung harren, und dass hier keine noch so achtunggebietende politische Körperschaft das entscheidende Wort sprechen kann. Kein Zweifel aber auch, dass die sozialdemokratische Partei mit Recht aufatmen durfte, als es ihr gelungen war, durch ihre politische Kraft und Einigkeit dieser Diskussion ein Ziel zu setzen. Denn sobald die so eingehend geführten Debatten ergaben, wie alle Revisionsgründe, die gegen den Marxismus vorgebracht wurden, so namentlich die behauptete Notwendigkeit der Einfügung eines idealistischen Moments in die materialistische Geschichtsauffassung, die Bezeichnung der Dialektik als eines gefährlichen, logisch-konstruktiven Schemas der Theorie, die Kritik der sogenannten „Zusammenbruchstheorie“ und „ökonomischen Notwendigkeit der Entwicklung“ und anderes mehr, in ihrer Beweiskraft durchaus davon abhängig erschienen, ob und welche präzise Anschauungen man über gewisse Grundbegriffe gewonnen hatte, auf denen alle diese Revisionsgründe beruhten, da musste es auch klar werden, dass auf dem Wege der in zahllose Einzelfragen sich verlierenden grossen Bernstein-Debatte unmöglich zu einem erspriesslichen Resultate zu kommen war. Diesen Grundbegriflen musste sich also vorerst gesteigerte Aufmerksamkeit zuwenden, um damit ein klares Bewusstsein darüber zu erwerben, was unter Begriffen zu verstehen sei, wie: Wissenschaft und Praxis, Gesetzmässigkeit überhaupt und Naturgesetzlichkeit insbesonders, historische und soziale Gesetze, Notwendigkeit, Freiheit und Zufall» Mechanismus und Teleologie, Entwicklung, bewusste Zwecksetzung, Wert etc. Wer, der nur einigermassen aufmerksam der wissenschaftlichen Diskussion sowohl in der Bernstein-Debatte als darüber hinaus in der sozialwissenschaftlichen Literatur überhaupt gefolgt ist, wüsste nicht, dass es immer wieder diese selben Grundbegriffe sind, an deren nicht eindeutig vorgenommener Bestimmung der Streit sich fortwährend entzündet, so dass er überall von den Einzelfragen» von denen er ausging, sich auf diese Fundamentalprobleme zurückgewiesen sieht! Ebenso hat auch der Revisionismus mit seinen Einzelaussteilungen zunächst innerhalb des Systems des Marxismus das Gefüge seiner Lehren an keinem Punkte prinzipiell erschüttert; ja eigentlich gilt von dieser unsystematischen und vielfach rein empiristischen Detailkritik ein Wort Ed. Bernsteins selbst, welches er einmal in sehr richtiger Einsicht einem englischen Beurteiler der deutschen Sozialdemokratie zurief, ohne freilich zu ahnen, wie sehr er damit der eigenen zukünftigen Richtung zum guten Teil ihr Urteil schrieb, nämlich, „dass die Marxsche Theorie noch lange nicht zusammenbricht, wenn die tatsächliche Entwicklung der Dinge in einzelnen Punkten sich nicht genau mit den Folgerungen deckt, die Marx aus dem ihm vorliegenden Material gezogen. Ihr wesentlicher Inhalt wird dadurch vielmehr in keiner Weise berührt.“ [9] Wohl aber hat er die dringende Notwendigkeit offenbar gemacht, die Unsicherheiten, Zweifelfragen, ja möghchcn Widersprüche bei der Auffassung und Weiterbildung seiner Ansichten von dorther zu beseitigen, von wo sie ihren Ursprung haben: aus der mangelnden Präzision der Grundbegriffe.

So ist es also nicht bloss die mächtige erkenntnistheoretische und methodologische Strömung auf dem Gebiete der modernen Naturwissenschaft und Philosophie, vereint mit den gleichen Bemühungen der sogenannten Geisteswissenschaften, die es dem Marxismus unmöglich machen würde, noch länger in einer Art naiven Positivismus alle diese Untersuchungen einfach zu ignorieren oder gar für sich selbst als überflüssig zu halten. Es ist vielmehr das Bedürfnis nach Klärung im eigenen Lager, der Wunsch, von einer Fülle ärgerlicher Missverständnisse sich befreit zu sehen, die oft durch den äusseren Anschein strenger Schlüssigkeit auch die eigensten Anhänger verwirren – kurz, es ist das eigene theoretische Daseinsinteresse des Marxismus, das zu einer erkenntnistheoretischen und methodologischen Bearbeitung jener Begriffe und Anschauungen drängt, die ein System der Sozialwissenschaft zu tragen geeignet sind.

Dass diese Arbeit bisher zum grössten Teile ausserhalb unseres Lagers durchgeführt wurde und dass in dieser Bemühung vielfach kritische Untersuchungen auf das Feld traten, die mit grosser Schärfe des Gedankens und Geschlossenheit der Argumentierung ebendieselben Begriffe, weiche die Möglichkeit einer Sozialwissenschaft sicherten und daher auch die Grundlage des Marxismus bilden, in ihrer Eignung für eine solche Aufgabe auf das nachdrückhöchste bestritten, das war es meines Erachtens, was den theoretischen Hintergrund für die sogenannte „Krise des Marxismus“ abgab. Ich halte es für kein zufälliges Zusammentreffen, dass die ersten Revisionsartikel Ed. Bernsteins in der Neuen Zeit sich zeitlich an das epochemachende Buch Rüd. Stammlers Wirtschaft und Recht [10] anschlossen, mit welchem die bewusste erkenntnistheoretische Erfassung der dem Marxismus im besonderen, der Sozialtheorie im allgemeinen zugrunde liegenden noëtischen Probleme ihren ersten systematischen Vorstoss in das Bereich der Sozialwissenschaften tat. Und wer sodann acht hatte, wie die Problemstellungen Ed. Bernsteins mehr und mehr in kritische Zweifelfragen über das Verhältnis von Notwendigkeit und Wollen, Natur- und sittliche Notwendigkeit, Wissenschaft und Praxis überging, der mochte unschwer die zahlreichen Fäden übersehen, die zu ihnen, vielleicht weniger durch eine direkte Beeinflussung als in der Art einer psychischen Endosmose gerade aus der Fülle der im Bereiche der kritischen Philosophie, der neukantischen ethischen Bewegung, der Methodenstreitigkeiten in der Nationalökonomie und sozialtheoretischen Literatur überhaupt geschöpften Anregungen, zogen. So war die „Krise des Marxismus“ im Grunde nichts anderes als das zündende Sich-ausgleichen und In-Beziehung-setzen zweier hochgespannter und bis dahin fast gänzlich isolierter Geistesmassen, eines theoretischen Systems einerseits und einer kritischen Problemstellung andererseits, bei deren tumultuarischer Begegnung freilich der erste Vermittler gar hart mitgenommen werden musste, wodurch ihm aber nie das grosse Verdienst benommen werden kann, eben dieser Vermittler gewesen zu sein. Was als eine Gefahr für den Marxismus angesehen wurde, das ist zu einem Jungbrunnen für ihn geworden. Getreu einem seiner grossen theoretischen Grundgedanken, der noch viel zu wenig gewürdigten Dialektik, ist gerade die intellektuelle Unlust, mit welcher man allseits das Ende des revisionistischen Streites ersehnte, zum Springquell erhöhten theoretischen Interesses geworden, indem sie allenthalben auf die Ursachen dieser Unlust aufmerksam machte und, sobald das Uebel erkannt war, als ein Stachel wirkte, es zu beseitigen. Gleichzeitig aber liess diese Einsicht uns erkennen, wie all das theoretische Anstürmen, das eine Zeitlang so bedrohlich war, damit zusammenhing, dass draussen, wo so lange selbst der Name von Marx und Engels unbekannt war, ihre Lehren eingedrungen waren, Gedankenverbindungen gezeitigt, Umformungen hervorgerufen, Widerspruch erregt, kurz, kräftigstes Leben erweckt hatten, welches, wie alles junge Leben, dem Erzeuger den Daseinsraum beengte, ob es gleich noch lange nicht seiner Führung entwachsen war. Klärung und Selbstbesinnung im Inneren, vordringendes Ausbreiten seines Einflusses, wachsende theoretische Beachtung, wenn auch Anfeindung von aussen – das war die „Krise des Marxismus“, die mit seinem Ende und Zerfall gerade so viel Aehnlichkeit hat wie das Aufspriessen der Saat aus dem zerfallenden Samenkorn. Dass der Marxismus jetzt erst darangeht, den ganzen Reichtum seiner theoretischen Gesichtspunkte zu eröffnen, nachdem er in den Fluss der ganzen geistigen Entwicldung gekommen, ist ein sicheres Kraftgefühl aller seiner Anhänger, Gerade deshalb aber wird wohl niemand mehr die Notwendigkeit jener abstrakt-theoretischen Bemühungen auch innerhalb seines Gebietes verkennen, welche wir hier zu rechtfertigen versucht haben.

So ist vielleicht die Hoffnung gestattet, dass Erörterungen, die, wie die folgenden, vorläufig davon absehen, auf die Lehren des Marxismus direkt einzugehen, aber doch nur im Hinblick darauf angestellt werden, um den Raum frei zu machen, auf dem eine ungestörte Arbeit an ihrer kritischen Darlegung und Entwicklung möglich ist, für ebenso notwendig als aktuell [11] angesehen werden dürften. Ich meine das selbstverständlich nur von der Richtung dieser Erörterungen und nicht etwa von ihrem hier vorliegenden Inhalt, dessen Lückenhaftigkeit mir selbst vollauf bewusst ist. Leider war dieser Mangel, abgesehen von der Frage der eigenen Kraft, nicht zu beseitigen, ohne dass die bloss als orientierende Einleitung gedachte Arbeit zu einem grossen Buche hätte anschwellen müssen. Auch galt es ja zunächst nur einen prinzipiellen Standpunkt für die bestrittene Frage nach dem Wesen des den sogenannten Geisteswissenschaften zugrunde liegenden Begriffs der Wissenschaft überhaupt zu gewinnen. Der ganze Komplex hochwichtiger anderer damit zusammenhängender Probleme muss, wie sehr er sich oft hier schon zur Diskussion aufdrängt, besonderen folgenden Arbeiten vorbehalten bleiben.

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Fussnoten

1. Vergl. Aus dem literarischen Nachlass von Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle, Herausgegeben von F. Mehring, Stuttgart 1902: I. Band, Seite 383.

2. Vergl. ebd., Seite 382.

3. Friedrich Engels über Karl Marx, mitgeteilt von Max Nettlau in den Sozialistischen Monatsheften, 1900, IV., Seite 35ff.

4. Ebd., Seite 42ff.

5. Ebd., Seite 44.

6. Dies freilich nur so weit, als es überhaupt vom Standpunkt des Marxismus möglich war, der ja vor allem eine Wissenschaft begründen wollte und dem daher Erkenntniskritik von vornherein nur in der Form seiner eigenen Methodologie, nicht aber als Selbstzweck erscheinen musste. Ueber die Schranken, welche ausserdem durch das historisch so eigenartig bestimmte, vor allem durch die Hegelsche Spekulation nuancierte philosophische Milieu des Marxismus einer direkten Aufrollung des erkenntnistheoretischen Problems im Sinne Kants gezogen waren, siehe spater Kapitel XI.

7. Vergl. Wilhelm Wundt, Ueber die Einteilung der Wissenschaften, Philosophische Studien, V. Jahrgang, 1889, Seite 21. – Diese richtige Erkenntnis darf jedoch nicht gegenüber dem Problem der Einteilung der Wissenschaften und der Aufgabe, einen strengen Begriff von der Wissenschaft selbst zu gewinnen, eingewendet werden. Wo das geschieht – und derartige, sich selbst ungemein kritisch dünkende, in Wahrheit aber heillos verwirrte Ansichten sind leider nicht zu selten – beruft man sich darauf, dass bei der durchgängigen Verknüpftheit aller wissenschaftlichen Arbeit nicht nur auf ihren verschiedenen Spezialgebieten, sondern sogar mit allen übrigen geistigen und Gemütskräften, jegliche Scheidung nur eine fliessende, relativ berechtigte und das Problem einer strengen Einteilung der Wissenschaften, wie gar das einer strikten Bestimmung des Begriffes der Wissenschaft selbst, nur durch eine Verkennung des lebensvollen Charakters der wissenschaftlichen Arbeit möglich sei. Da aber dieses so hochmütig abgeurteilte Beginnen eine Hauptaufgabe der folgenden Arbeit ausmacht, so sei schon hier auf den leicht aufzudeckenden Irrtum einer solchen Ansicht hingewiesen. Die tatsächliche Verflochtenheit des Wissensbetriebes, subjektiv mit der ganzen Aktualität des persönlichen Lebens, objektiv mit dem gesamten übrigen Kulturinhalte seiner Zeit, wovon bereits vorhin oben die Rede war, ist ein historisch-psychologisches Phänomen, die Frage aber nach der Einteilung der Wissenschaften und die ihr notwendig vorausgehende Begriffsbestimmung der Wissenschaft selbst ist ein logisch-noëtisches Problem. Jene Verflochtenheit ja nicht zu übersehen, ist Aufgabe einer Geschichte der Wissenschaften oder einer psychologischen Untersuchung ihrer Arbeitsweisen. Dagegen kann das logisch-noëtische Problem der Wissenschaft nur in einer bewussten Abstraktion gelöst werden, durch welche die sie konstituierenden Elemente aus der gesamten Tätigkeit unseres Geisteslebens zur gesonderten Erfassung gelangen. Und ebenso trennt sich dann unter logischem Gesichtspunkte in unverrückbarer Schärfe das Gebiet jeder einzelnen auf diese Weise als begrifflich eigenartig erkannten Disziplin von dem der anderen, wie sehr sie auch im faktischen Betriebe nicht nur durcheinandergehen, sondern vielleicht nicht einmal auseinandergehalten werden können. Die Unterscheidung dieses logischen (theoretischen) Begriffes der Wissenschaft von dem praktischen der konkreten wissenschaftlichen Arbeit wird sich in unserer Abhandlung als grundlegend zu legitimieren haben, wenn sie vielleicht zu zeigen im stände sein wird, dass nur so der logischen Verwirrung über den Wert und die Aufgabe der Wissenschaft ein Ende bereitet werden kann.

8. Vergl. E. Mach, Analyse der Empfindungen, 3. Auflage 1902, Seite V: „Durch die tiefe Ueberzeugung, dass die Gesamtwissenschaft und die Physik insbesondere die nächsten grossen Aenderungen über ihre Grundlagen von der Biologie, und zwar von der Analyse der Sinnesempfindüngen zu erwarten hat, bin ich wiederholt auf dieses Gebiet geführt worden.“ – Man erinnere sich auch hier an die grundlegende Beobachtung Robert Mayers über die hellere Färbung des venösen Blutes in den Tropen. Vergl. Alois Riehl: ,Robert Mayers Entdeckung und Beweis des Energieprinzips in den ,Philosophischen Abhandlungen zu Sigwarts 70. Geburtstag, Tübingen 1900, Seite 163.

9. Vergl Neue Zeit, XV,, Seite 435.

10. Rud. Stammlers Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung erschien im Winter 1895/96, Ed. Bernsteins erste Problemartikel fallen in den Herbst 1896, die eigentlich den Revisionismus einleitende zweite Serie derselben erscheint im Frühjahre 1898.

11. In der Tat ist die bisher bloss als Bewegung innerhalb der Philosophie zu konstatierende erkenntnistheoretische und methodologische Bemühung um die Sozialwissenschaft nunmehr auch schon in die ökonomischen und juristischen Fachkreise vorgedrungen. Vergl. Dr. W. Ed. Biermann, Wilhelm Wundt und die Logik der Sozialwissenschaft, in Conrads „Jahrbücher“, III. Folge, 25. Band (1903), Seite 50 ff.


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020