Max Adler

Kausalität und Teleologie

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I. Der Gegenstand des Streites


„Der Streit ist der Vater aller Dinge.“ – Es scheint, dass dieses Wort des dunklen Philosophen von den Geisteswissenschaften noch in einem ganz anderen Sinne gelte, als ihm sonst beigelegt wird. Welche verwirrende Mannigfaltigkeit zum Teile sehr sonderbarer Dinge hat nicht gerade hier der Streit der Meinungen hervorgebracht, und vor allem» was gibt es hier überhaupt, das nicht schon bestritten worden, welche mögliche Ansicht vom Wesen und von der Methode der Geisteswissenschaften lässt sich aufzeigen, die hier unversucht geblieben wäre! Es ist bestritten, wie weit das Gebiet der Geisteswissenschaften reiche, ja, ob sie überhaupt ein von dem der Naturwissenschaft abgesondertes haben, bestritten ihre Einteilung, höchst bestritten ihre Methode, und kein Wunder daher, dass selbst über den Namen keine Einigkeit zu erzielen ist, der diesen so problematischen Wissensgebieten charakteristisch genug anzuheften wäre. [1] Welche Gesetzmässigkeit ihnen zukomme, ob Zwang des Erfolgens im Sinne einer unerbittlichen Naturnotwendigkeit oder blosser Rhythmus des Geschehens, eine gelinde Regelmässigkeit, die auch Ausnahmen im Gesetz selbst zulasse, das sind Streitpunkte von äusserster Heftigkeit Aber damit rollt sich zugleich auch das ganze abgründige Problem der Willensfreiheit auf: was für eine Bedeutung der menschlichen Freiheit zukomme. ob sie wirklich nur Illusion sei, und welcher Platz, wenn sich ihre Reahtät erweisen lässt, diese dann im Gefüge der Geisteswissenschaften angewiesen erhalten müsste. Ja, zuletzt erhebt sich die skeptische Grundfrage, auf die seit jeher aller radikale Zweifel an der Möglichkeit der sogenannten Geisteswissenschaften immer wieder zurückgreift, ob des Menschen Tun und Handeln, da es überall auf sein Wollen sich gründet und dieses im Akte des Erlebens sich notwendig stets frei dünken muss, überhaupt in eine Gesetzeswissenschaft eingehen könne? [2]

Ueber diese und noch viele andere ebenso problematische Fragen wogt der Streit – aber vielfach nicht ein Streit, der irgend eine fest geschlossene Anschauung darüber von einer anderen ebenso in sich gefesteten her bekämpfte, sondern der hier und dort irgend ein Problem für sich herausreisst und so zu lösen sucht, unbekümmert darum, wie und ob sich diese Lösung in das Ganze einer die Geisteswissenschaften überhaupt tragenden Auffassung einfügen liesse. Es soll nicht verkannt werden, dass in allen diesen oft langwierigen und leidenschaftlich geführten Problemstreitigkeiten, wie in der Diskussion über Wesen und Aufgabe der Statistik, über das sogenannte Gesetz der grossen Zahlen und die Tatsachen der Moralstatistik u. s. w., viel wertvolle sozialwissenschaftliche Einzelerkenntnis zutage gefördert wurde, gleichwie ja auch der bis in unsere Tage hineinreichende Methodenstreit der Nationalökonomie und die immer wieder einander verdrängenden Grundlegungen einer neuen Sozialphilosophie manche fortwirkende Anregungen fallen gelassen haben. Der Streit war ja auch hier der Vater aller Dinge; aber dass er überhaupt jede gefundene Einsicht gleich und mit dem besten Schein in Frage stellen konnte, und was er auf diese Weise auch noch neben den spärlichen Wahrheiten zutage gefördert hatte diese zahllosen Wiedererweckungen alter» schon längst widerlegter Irrtümer, diese immer wieder aufs neue sich einstellenden Begriffsverschiebungen – man denke nur zum Beispiel an die alles Denken still setzende Beweglichkeit solcher unentbehrlicher Begriffe, wie Freiheit und Notwendigkeit, Motivation und Fatalität etc. – dies alles zusammen bewirkte, dass man nur mit einem Gefühl grossen Unbehagens und innerster Betrübnis an ein Wissensgebiet denken mochte, auf dem eine mehr als 150jährige bewusste Arbeit der umfassendsten Geister nicht mehr erzielt haben sollte als grösste Mannigfaltigkeit aller verworrenen und bestimmteste Bestreitung aller klaren Ansichten.

Gleichwohl ist es gar nicht zu übersehen, dass inmitten dieses scheinbaren Wankens ihrer Fundamente und Fliessens aller Anschauungen die Entwicklung der sogenannten Geisteswissenschaften einen steten und sicheren Fortschritt genommen hat. Ich sage „sogenannte Geisteswissenschaften“, weil wir ja nicht voreilig entscheiden wollen, dass es solche gibt, respektive was Geisteswissenschaften sind und in welcher Richtung daher ihre wahre Entwicklung liegt.

Denn eben an diesem Punkte hat sich in der letzten Zeit der alte Streit in den Geisteswissenschaften konzentriert und ausgestaltet zu einem Streit um die Geisteswissenschaft, ja eigentlich um die Wissenschaft überhaupt» in welchem alle Argumente früherer Einzeldiskussion gesammelt und mit neuer Kraft verwendet wurden in einer grossen Grundanschauung, die sich konsequent und mit kritischer Schärfe gerade gegen das wendet, was den Stolz der modernen Sozialtheorie ausmacht: ihre der Naturwissenschaft sich immer mehr nähernde Ausbildung ihrer Methoden und Aufdeckung ihrer Gesetze. Gerade weil die in so unermüdlicher Denkarbeit fortgesetzte Bemühung so vieler Denker, auch das sozial-historische Leben einer ähnlichen wissenschaftlichen Behandlung zuzuführen, wie es für die blossen Naturvorgänge schon lange gelungen war, in den alle Resultate seiner Vorgänger in sich aufnehmenden Gedanken von Karl Marx ihre höchste Förderung erfahren hatte, so dass nun selbst der Traum einer „Geschichte als Wissenschaft“ zwar nicht in dem unkritischen Sinne eines ihren Inhalt selbst konstruierenden, wohl aber eines die Gesetzlichkeit des Verlaufes und der Abfolge dieses Inhaltes erfassenden Systems der Erkenntnis logisch möglich erschien: gerade diese Vollendung des bisher den Begrifi der Wissenschaft tragenden naturwissenschaftlichen Denkens auch auf dem Gebiete des geistig-sozialen Lebens rief die heftigste Gegnerschaft hervor, die nun in einer neuen Wendung ihrer Stellungnahme dieser ganzen hohen Entwicklung theoretischer Einsicht in das soziale und geistige Geschehen überhaupt das Prädikat der Geisteswissenschaft abzusprechen gewillt ist. Die eigene Kraft wurde ihr zur eigenen Schwäche ausgelegt. Da sie eingestandenermassen den Titel einer Wissenschaft aus der Gleichheit ihrer Gesetzmässigkeit und Methoden mit denen der Naturwissenschaft ableitete, so sei sie auch nichts als ein Teil derselben. Die Eigenart geistig-sozialer Phänomene und die besondere, diese bestimmende Gesetzmässigkeit habe sie derart noch gar nicht erfasst und könne daher auch nicht einsehen, dass es jenseits der kausal ablaufenden Welt des Naturgeschehens noch eine andere Welt gebe, eben das Reich des Geistes, von deren durchaus eigenartiger Gesetzlichkeit darum auch nur eine besondere Wissenschaft, die Geisteswissenschaft, Kunde geben könne. Die Einheit der Wissenschaft sei daher ein unkritisches Dogma: die Geisteswissenschaften sind nicht nur ihrem Gegenstande, sondern auch ihrer ganzen Auffassung, ihrer logischen Art nach ein anderes als die Naturwissenschaften. Was hier die Einheit stiftet, das Gesetz, das schafft dort der Wert, und darum ist es auch nicht die Kausalität, sondern nur die teleologische, bewusst auf den Wert beziehende Betrachtungsweise, welche in den Geisteswissenschaften allein Erkenntnis der Gesetzmässigkeit zu vermitteln imstande ist. Nur aus der Verkennung dieses eigentlichen, von dem der Naturwissenschaft logisch gänzlich verschiedenen Charakters der Geisteswissenschaft [3] stammen dann die so betrüblichen Unklarheiten und Widersprüche in den naturwissenschaftlich betriebenen und trotzdem gleichfalls als Geisteswissenschaft bezeichneten Untersuchungen gesellschaftlicher oder historischer Erscheinungen, – Dies ist in Torläufiger Kennzeichnung der Standpunkt der teleologischen Auffassung, deren ganze, die kausale Auffassung sehr antastende Bedeutung wir erst werden übersehen können, wenn wir uns eingebend mit ihrer erkenntnistheoretischen Begründung beschäftigen werden.

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Fussnoten

1. Vergl. Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Leipzig 1883, Seite 6.

2. Vergl. Ed. Bernstein, Der Kernpunkt des Streites, Sozialistische Monatshefte, V. 2 (1901), Seite 781: „Meines Erachtens nun schliesst die Tatsache der menschlichen Willensfähigkeit die Möglichkeit aus, über gewisse allgemeine Sätze hinaus geschichtliche Entwicklungen wissenschaftlich vorher zu bestimmen! Aehnlich in seinem Vortrag: Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?“ Seite 21 bis 22 und schon früher Sozialistische Monatshefte, IV (1900), Seite 7 bis 8.

3. Vergl. schon bei Dilthey, a. a. O., Seite 30: „Die Geisteswissenschaften bilden nicht ein Ganzes von einer logischen Konstitution, welche der Gliederung des Naturerkennens analog wäre.“ Seite 136: „Diese Wissenschaften haben eine ganz andere Grundlage und Struktur als die Natur.“ Vergl. Seite 34 und 150,


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020