Max Adler

Kausalität und Teleologie

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II. Vorläufige Bestimmung des Begriffes
der Geisteswissenschaften


Gegenüber solcher Anfechtung der eben in ihrer naturwissenschaftlichen Denkweise sich Wissenschaft dünkenden Sozialtheorie mussten wir also wohl einstweilen von „sogenannten Geisteswissenschaften“ reden; und wenn wir vorhin von deren sicheren Fortschritt sprachen, so kann es sich für jetzt, wo der fragliche Begriff der Geisteswissenschaften noch nicht festgestellt ist, nur darum handeln, dass und ob ein Komplex von Anschauungen und Urteilen, der sich auf das Geschehen bezieht, soweit es durch den nur in Gemeinschaft mit Artgenossen angetroffenen Menschen geht oder diesen betrifft und insoferne vorläufig der Bequemlichkeit halber als Gegenstand der Geisteswissenschaften bezeichnet werden mag, tatsächlich seit der Zeit, da man angefangen hat, ihn einer systematischen Betrachtung zu würdigen, an innerem Zusammenhang und an Vermittlung stets mehr eindringenden Verständnisses gewonnen hat Um aber diesen behaupteten Fortschritt deutlich zu erkennen, ist es nötig, sich einen Leitfaden zu verschaffen, der uns durch das Labyrinth der verschiedenartigsten Meinungen unbeirrt hindurchführe, sei es auch auf die Gefahr, uns wegen dieser vorläufigen Nichtbeachtung aller ablenkenden und entgegenstehenden Gesichtspunkte den heftigen Vorwurf der Einseitigkeit zuzuziehen. Allein es geht nicht an, sich gleich vom Anfang an um alles zu kümmern, wo uns doch vorerst am meisten bekümmern muss, inne zu werden, welches unser Standpunkt ist, was wir selber wissen oder zu wissen glauben. Bevor wir in den Streit eintreten, der um die Geisteswissenschaften entbrannt ist, bevor wir auch nur die oben so vorsichtig klausulierte Frage nach einem Fortschritt der Geisteswissenschaften beantworten können, müssen wir einen, wenn auch nur vorläufigen Begriff von der Wissenschaft selbst gebildet haben. Und nur, indem wir diesen streng festhalten« ihn vielleicht uns noch besser zum Bewusstsein bringen, ist es möglich, ihn entweder im Kampfe der Meinungen zu erhärten oder klar zu ersehen, wo er fehlerhaft, ja ob er am Ende nicht gar aufzugeben ist. Die so oft irrig verketzerte Einseitigkeit des Standpunktes, so gefährlich und mit Recht zu bekämpfen sie ist als Prinzip des theoretischen Erkennens überhaupt, so begründet, ja unerlässlich ist sie als Maxime jeder theoretischen Diskussion. Hier ist bewusste Einseitigkeit des Standpunktes gar nichts anderes als ein Korollar des Denkgesetzes der Identität, welches erfordert, dass der im Denken einmal mit einem bestimmten Namen bezeichnete Inhalt auch stets unverändert bleibe, sobald der gleiche Name genannt wird.

Um also unter dem Namen der Geisteswissenschaften etwas Beständiges zu bezeichnen und sonach ihre fragliche Entwicklung zu verfolgen, nehmen wir als Leitfaden den Begriff der Wissenschaft in seiner Anwendung auf den oben bezeichneten eigentümlichen Komplex des Geschehens durch und an Menschen zunächst im gleichen Sinn, wie ihn das Naturerkennen ausgebildet hat. Hier ist ja der empirische Begriff der Wissenschaft zuerst entstanden, in dem Streben, zu wissen, wie es sich mit den Dingen verhält, die den Menschen umgeben, und was er von ihnen zu erwarten hat. Hier ist er dann auch in der Entwicklung der Naturwissenschaften und ihrer Methoden zur höchsten Vollkommenheit gediehen, um endlich in der erkenntniskritischen Untersuchung sein logisches Korrelat oder, besser gesagt, sein Archetyp auszubilden.

Als Aufgabe der Wissenschaft erscheint demnach, die Vorgänge der uns umgebenden Welt zu erklären, das heisst, sie unter immer weitere Allgemeinbeziehungen (Gesetze) zu befassen, welche alles Einzelne in ausnahmsloser Geltung bestimmen, so dass jedes Besondere in seinen konkreten Beziehungen als blosser Spezialfall aus jenen allgemeinen Gesetzen in ihrer Anwendung auf das ursprünglich Gegebene abgeleitet, respektive vorherbestimmt werden kann. [1]

Gehen wir also nach dieser Richtlinie vor, um zunächst aus der Masse der mit dem Menschen und seinem Leben sich befassenden Untersuchungen einen sicheren Tatbestand zu gewinnen, den wir in dem bezeichneten Sinn als Wissenschaft ansprechen können, so ist gar kein Zweifel, nicht nur dass ein solcher gefunden werden kann, wenn auch vielleicht mehr nur in dem Streben nach dem Erwerb einer solchen Wissenschaft als bereits in dem sicheren Besitz derselben, sondern dass wir überdies in diesem Sinne eine ganz gewaltige Entwicklung der Geisteswissenschaften vor uns haben.

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Fussnote

1. Bekanntlich hat sich an die viel berufene Darlegung Kirchhoffs, der als Aufgabe der Mechanik nur anerkennen wollte, ihre Vorgänge „vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben“, eine Opposition vieler positivistischer Naturforscher gegen die Forderung angeschlossen, dass die Wissenschaft Erklärungen zu geben habe. Wie sehr diese ganze Unterscheidung an logischen Unfertigkeiten leidet, ist schon oft gezeigt worden, ebenso, dass diese logischen Mängel gar nicht einmal völlig der eigenen Meinung Kirchhoffs zuzuschreiben sind, der vorsichtig genug in dem bezeichnenden Zusatz einer vollständigen Beschreibung doch wenigstens implicite alle jene von vielen seiner Anhänger übersehenen logischen Kriterien in seine Definition der Beschreibung aufnahm, durch welche diese erst sich als wissenschaftliche von jeder anderen unterschied. Dass derart die Folge einer solchen Unterscheidung eigentlich nur eine auf blossen Wortstreit hinauslaufende Abänderung der Terminologie ist die noch dazu die Gefahr der Verschleierung wirklicher Probleme mit sich führt, darüber siehe Heinrich Rickert, Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Tübingen und Leipzig 1902, Seite 132, und Wilhelm Wundt, Naturwissenschaft und Psychologie, Leipzig 1903, Seite 9–10. Vergl. übrigens auch Dr. Alois Höfler, Studien zur gegenwärtigen Philosophie der Mechanik, Leipzig 1900, Seite 41 ff,, und neuestens (erst während dieser Korrektur erschienen) Harald Höffding, Probleme der Philosophie, Leipzig, Reisland, 1903, Seite 56.


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020