Max Adler

Kausalität und Teleologie

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IV. Der Ursprung des Streites


Wenn dem nun so ist, wenn wir tatsächlich diese stetig wachsende innere Durchbildung der Geisteswissenschaften verfolgen konnten, woher dennoch jene Verwirrung, jene Unsicherheit der Methoden, jene Unbestimmtheit der Grundbegriffe und Verschwommenheit der Abgrenzungen? Wer erkühnte sich heute, etwa eine Definition der Nationalökonomie geben zu wollen mit der Prätention, dass sie allgemein anerkannt sei, oder vollends gar der Soziologie? Und was soll man dazu sagen, wenn die Gesellschaftswissenschaften heute noch so wenig eine einheitliche, klare Auffassung vom Wesen der Gesellschaft zum Gemeingut ihrer Arbeit machen konnten, dass es sogar Vertreter dieser Disziplinen gibt, die in dem Begriff der Gesellschaft nur einen Notbegriff erblicken, von dem es nie gelingen wird, ihn über eine brauchbare Allgemeinvorstellung zum scharf bestimmten Begriff auszubilden! [1]

Diese Verwirrung kommt meines Erachtens daher, weil die sogenannten Geisteswissenschaften von allem Anfang ihrer Entwicklung an gar nie einheitlich aufgefasst werden konnten, da, was erst heute allmählich bewusst zu werden beginnt, obzwar es schon eine alte Wahrheit ist, die naturwissenschaftliche Betrachtung eben nicht die einzige Art ist, in der das Geistesleben beobachtender Aufmerksamkeit zugänglich werden kann, ja, wie wir sehen werden, nicht einmal die nächstliegende, selbstverständliche. Indem nun aber die grundsätzliche Verschiedenheit der beiden hier möglichen Auffassungen, die wir vorläufig kurz als die der denkenden Betrachtung und des unmittelbaren Erlebens desselben bezeichnen wollen, der wissenschaftlichen Arbeit nicht bewusst ist oder doch bewusst bleibt, muss es geschehen, dass fortwährend Probleme bloss der einen, unmittelbaren Auffassung, wie zum Beispiel das der Willensfreiheit oder das der Persönlichkeit, sich notwendig als ungelöst, vielleicht sogar als unlösbar im Rahmen der anderen, naturwissenschaftlichen Auffassung erweisen, in welcher sie eigentlich gar keinen Sinn haben. Daraus entsteht dann für letztere das Gefühl von Widersprüchen und damit das eifrige Bestreben, die sich scheinbar offenbarenden Unfertigkeiten und Oberflächlichkeiten der naturalistischen Auffassung zu überwinden. Natürlich kann die nun erstrebte Gründlichkeit nur durch eine dem ganzen Wesen der naturwissenschaftlichen Methode fremde Art des Eingehens auf die subjektiven Faktoren des geistigen Lebens geschehen, und dies treibt nun zu jener aller Konsequenz naturwissenschaftlichen Erkennens so verderblichen Richtung, die seiner „Einseitigkeit“ zu entgehen sich rühmt, wenn sie die strengen und unzweideutigen Begriffe des naturwissenschaftlichen Denkens in direkte Beziehung, wohl gar Wechselwirkung, mit Kategorien des Zweckes und der moralischen Wertschätzung stellt und damit freilich auch diese Art sozialwissenschaftlicher Betrachtung vielseitiger gestaltet – bis zur allseitigen Unbestimmtheit ihrer Grundbegriffe. Von nun an wird es unmöglich, sich auch über die elementarsten Voraussetzungen zu verstehen; ob das soziale Gesetz, nach dem gesucht wird, eine objektiv gültige Allgemeinbeziehung ist oder, wegen der hineinspielenden freien Persönlichkeit, eine blosse unverbindliche Regelmässigkeit, die allemal gewärtigen muss, an einem herrischen „Quos ego“ kraftlos zu versagen; ob die Notwendigkeit auf geistig-sozialem Gebiete eine tatsächliche des Geschehens oder eine moralische des Sollens ist, und ob es sträfliches Banausentum ist, in der sozialwissenschaftlichen Untersuchung an Freiheit, Zwecksetzung und Wert vorüberzugehen, oder nicht im Gegenteil metaphysischer Atavismus, daran immer noch festzuhalten. Kein Wunder also auch, dass diejenigen, welche – und mit Recht – in der Heranziehung dieser subjektiven Kategorien die bisherige, nach Art der Naturwissenschaft streng objektive, Betrachtung des sozialen Geschehens gefährdet sahen, sich in heftigster Opposition gegen solche Bestrebungen kehren mussten. Weil sie aber leider sich gleichfalls meistens der Verschiedenheit der einander kreuzenden Auffassungsarten geistiger Phänomene ebensowenig bewusst waren wie jene, so Hessen sie nun ihrerseits sich nicht selten dazu verleiten, die Erscheinungen des unmittelbaren Erlebens als solche aus – Kausalbeziehungen abzuleiten, also etwa zu versuchen, die Geltung der ethischen Wertunterscheidung direkt auf von utilitarischen Erwägungen geleitete psychische Assoziationen zu gründen, oder den Charakter restlos aus dem Milieu zu erklären, um, wenn sie hie und da der Vergeblichkeit solcher Bemühungen inne wurden, tumultuarisch alles, was sich in den Formen der Kausalität nicht erfassen Hess, also Zweckerwägung und Wertbeurteilung, insbesonders aber alles Individuelle in seiner Bedeutung für die soziale Welt zu vernachlässigen, wenn nicht gar zu leugnen. Das gab dann freilich den Gegnern einen Schein des Rechtes, sich über solche „Einseitigkeit“ zu ereifern, die doch nur die Konsequenz eines Standpunktes war, der mit seiner auseinanderstrebenden Zweiseitigkeit jedes einheitliche Gedankensystem – das noch immer der sicherste Schutz gegen Einseitigkeit ist – unmöglich machen musste.

So kann man wohl sagen, dass trotz der vorhergehend charakterisierten und im ganzen so sicher aufsteigenden Entwicklung der Geisteswissenschaften jede für sich gleichwohl, solange und insoweit sie sich der erwähnten Verschiedenheit der Auffassung nicht bewusst wurde, wohl keinen Schritt ihrer Entwicklung mit ruhigem Gewissen machen konnte, angesichts der unabweislichen Probleme, die sie, weil aus ihrer eigenen Sphäre gar nicht stammend, ungelöst lassen musste. Daher zuletzt die so charakteristische Unsicherheit in diesen Wissenschaften. Denn mit jedem Fussbreit, den sie auf naturwissenschaftlichem Boden gewannen, sahen sie stets strenger ausgeschlossen, was sie doch nicht ignorieren konnten und darum irrig auch in seiner unmittelbaren Form als ihr eigentliches Objekt ansahen: das aktuelle Leben mit seiner gefühlten Freiheit, seinen gewollten Zwecken, seinen idealen Wertungen. Wieder nur die Lehre des Marxismus, die eben deshalb mit Recht als die konsequenteste Ausbildung der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise auch für das geistig-soziale Leben genannt werden darf, blieb von jener Unsicherheit bewahrt, indem sie weder den Kausalprozess mit dem Menschen als Spielball enden, noch etwa durch ihn eine Kette freier Zweckwirksamkeit an den Mechanismus anknüpfen lässt, sondern diese Kausalität durch den Menschen weiter in gleicher Stringenz auslaufen sieht, in dessen innerem Erleben bloss dieser ganze Prozess nunmehr die Form der Willensbetätigung, damit der Spontaneität, Zweckbewusstheit und Wertbeurteilung annehmen muss. Daher bedeutet auch für Marx die steigende Einsicht in die soziale Gesetzmässigkeit und die infolgedessen wachsende Fähigkeit der Menschen, die sie zuerst vergewaltigenden sozialen Prozesse immer mehr ihren Interessen gemäss zu beeinflussen, doch nicht den geringsten Abbruch an der Stringenz der Naturgesetzlichkeit des sozialen Geschehens, nicht die mindeste Einschränkung an der Geschichte „ehernem Muss“. Wie mit Bezug auf die bekanntlich auch an diesem Punkte sich häufig stossende Kritik Ed. Bernsteins [2], wie eine ausdrückliche Interpretation der seither so oft missverständlich gegen die Notwendigkeit des sozialen Lebens in jeder, auch der entwickeltsten, vernünftigsten Gestalt herangezogenen Stelle Friedrich Engels über den Sprung aus dem Reiche der Notwendigkeit in das der Freiheit lesen sich die Worte Karl Marx’: „Wie der Wilde mit der Natur ringen muss, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, um sein Leben zu erhalten und zu reproduzieren, so muss es der Zivilisierte, und er muss es in allen Gesellschaftsformen und unter allen möglichen Produktionsweisen. Mit seiner Entwicklung erweitert sich dies Reich der Naturnotwendigkeit, weil die Bedürfnisse; aber zugleich erweitern sich die Produktivkräfte, die diese befriedigen. Die Freiheit in diesem Gebiete kann nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden, ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen. Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendigkeit.“ Und selbst das von Marx jenseits dieser Sphäre bezeichnete „wahre Reich der Freiheit, nämlich das der menschlichen Kraftentwicklung für eigene, selbstgesetzte Zwecke, ist immer noch nicht die eigentümliche Freiheit, die wir im Wollen erleben, sondern nur die, welche wir im Handeln vollziehen, und die daher als ein Teil des Geschehens auch noch völlig unter . den naturwissenschaftlichen Gesichtspunkt fällt oder, wie Marx dies ausdrückt, „nur auf einem Reich der Notwendigkeit als seiner Basis aufblühen kann“. [3] In solchem das ganze geistige Sein des Menschen in eine Auffassung, die naturgesetzliche, einordnenden Verständnis, welches doch gleichzeitig seine andere, der Sphäre des unmittelbaren Erlebens angehörige Seite völlig unangetastet lässt, war es dem Marxismus möglich, die geschlossene Objektivität seiner wissenschaftlichen Anschauung gegen alle Trübung und Verflachung zu bewahren, wie sie durch die Einfügung sogenannter idealistischer Momente sich notwendig einstellen müsste; und es ist denn auch bekannt, mit welch heftiger Anfeindung von aussen und innen ihm diese Konsequenz gelohnt war.

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Fussnoten

1. Vergl. zum Beispiel E. Gothein, Artikel Gesellschaft und Gesellschaftswissenschaft in Conrad und Lexis, Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 2. Auflage, II., Seite 201 ff., speziell Seite 202 und 213.

2. Vergl. Ed. Bernstein, Voraussetzungen des Sozialismus, Stuttgart 1899, Seite 4–14.

3. Karl Marx, Das Kapital, III. 2, Seite 555. Vielleicht ist es gestattet, an diesem Punkt auf einige hierher gehörige Gedanken zu verweisen, die ich über das Verhältnis von Wollen und Müssen anlässlich des durch Ed. Bernstein ganz im Sinne Rudolf Stammlers aufgeworfenen Problems über den angeblichen Widerspruch von naturnotwendiger Entwicklung des zur sozialistischen Gesellschaftsordnung führenden geschichtlichen Prozesses und der gleichzeitigen Aufstellung dieses Zieles als einer sozialistischen Programmforderung kurz skizzierte. Es geschah dies in meinen beiden Artikeln Zur Revision des Parteiprogramms in der Wiener Arbeiter-Zeitung vom 22. und 24. Oktober 1901. Beiläufig bemerkt, hat dieses ganze, viele Genossen so beunruhigende und verwirrende „Problem“ seinen Grund in der nicht bewusst gewordenen, oben im Text charakterisierten Zweiseitigkeit des Standpunktes, ist also ein wahres Scheinproblem. „Wollen“ und „Müssen“ gehören zwei ganz verschiedenen Sphären der Auffassung menschlichen Geschehens an. Darüber speziell im zweiten Artikel in der Wiener Arbeiter-Zeitung.


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020