Max Adler

Kausalität und Teleologie

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VI. Vom logischen Begriff
der Wissenschaft


Durch das Danebentreten einer eigenen Geistes- oder Sozialwissenschaft von besonderer Art, welche alles tiefere Eindringen in das Wiesen des geistigen und sozialen Lebens gerade deshalb für sich auszeichnend beansprucht, weil sie nicht nach Gesetzen des Seins oder Geschehens forscht, ein Titel, auf den wieder die naturalistische Behandlung der psychisch-sozialen Phänomene ihren Charakter als die Wissenschaft vom Geistesleben stützte, ist die logische Bedeutung der naturwissenschaftlichen Auffassung im System des Erkennens arg genug angetastet, Die ganze Bedeutung dieses Gegensatzes zweier Arten der Wissenschaft eröffnet sich aber erst, sobald die naturalistische Richtung der Geisteswissenschaften ihr Recht zu behaupten unternimmt. Indem wir nun, um die vollen Konsequenzen der eben entwickelten Doktrin kennen zu lernen, den Verteidigungsversuch des Naturalismus auf diesem Gebiete mitmachen wollen, wird es nötig sein, sich zuvor zweier sehr naheliegender logischer Gefahren bewusst zu werden, die nur zu häufig dazu geführt haben, an dem gegnerischen Standpunkt direkt vorbeizulaufen und schliesslich sich allein mit sich selbst herumzuschlagen.

Vor allem wäre es ein verderblicher Weg, deshalb, weil die Konsequenzen, die wir bereits sich entwickeln sahen und die noch aggressiver folgen werden, vielleicht zunächst unannehmbar scheinen, gleich rundweg ihren Ausgangspunkt, nämlich die Tatsache der geschilderten doppelten Auffassung der Welt, ja noch mehr, die Ursprünglichkeit der aktuellen Auffassung zu bestreiten. Nicht nur, dass man dadurch schon mit der unmittelbarsten Erfahrung jedes Bewusstseins in Widerspruch geraten müsste; man würde sich damit zugleich auch jeder Möglichkeit berauben, gerade innerhalb des Naturganzen die psychisch-sozialen Lebenserscheinungen einordnen zu können. Denn nichts anderes hat uns ja die konsequenteste naturahstische Grundlegung der Geisteswissenschaften, die von Karl Marx, gelehrt, als dass nur in dem aktuellen oder, um sein Wort zu gebrauchen, „praktischen Menschen“, dieser aber in seiner vergesellschafteten Form erfasst, der Ausgangspunkt gefunden werden kann, von dem aus der Weg zur Lösung jener eigenartigen Probleme ftlhrt, die sich im Tatbestand der sozialen Phänomene darbieten. „Das gesellschaftliche Leben,“ sagt Karl Marx, „ist wesentlich praktisch. Alle Mysterien, welche die Theorie zum Mystizismus verleiten, finden ihre rationelle Lösung in der menschlichen Praxis und im Begreifen dieser Praxis. [1] Ein solches Begreifen ist aber unmöglich ohne energisches Aufgreifen der Aktualität der menschlichen Lebenseinheit. Eine blinde Negierung derselben müsste daher selbst eine nur durch Kausalerklärung fortzuschreiten gewillte Sozialtheorie schliesslich mit der Unmöglichkeit, die zu erklärenden Phänomene in ihrer Eigenart zu begreifen, um alle Möglichkeit ihrer Entwicklung bringen.

Aber die zweite Gefahr ist eine noch grössere, dass man nämlich einen vorgefassten, bloss an dem Naturerkennen orientierten Begriff der Wissenschaft bildet und nun folgendermassen „beweist“: Alle Wissenschaft bestehe in Erklärung der Erscheinungen aus den Ursachen und Auffinden der Gesetze des Geschehens. Weil nun aber jene andere Art der Auffassung des psychisch-sozialen Seins und Geschehens, die auf die Wertbeziehung zurückgeht, niemals zur Aufsuchung von Kausalzusammenhängen und somit Gesetzen des Geschehens führen kann – ein Umstand, der natürlich von der Gegenseite nicht nur nicht bestritten, sondern umständlich und breit dargestellt wurde – so könnten die von einer solchen Auffassung geleiteten Disziplinen überhaupt nichts erklären, somit keine Wissenschaft, also auch keine Geisteswissenschaften liefern. Es ist klar, dass mit einer solchen Argumentierung nichts anderes als eine petitio principii schlimmster Art zutage gefördert wird; dass man auf diese Weise eigentlich nur so viel sagt, als: ich nenne nun einmal bloss die Erklärung aus Ursachen und Systemisierung der so gewonnenen Einsichten unter AUgemeinbegrifien Wissenschaft. Das wäre dann sicher ein blosser Wortstreit, wie er denn auch in der Tat schon öfters geführt wurde und mit um so grösserer Leidenschaft sich entfaltete, als die Streitenden zu ihrem Ingrimm fühlten, dass ihre besten Hiebe nur leere Luft durchschnitten.

Nun ist aber nicht zu verkennen, dass, so logisch verfehlt diese Art der Auseinandersetzung auch ist, ihr doch der erkenntniskritisch entscheidend wichtige Gedanke zugrunde liegt, dass es eben kein blosser Wortstreit ist, darüber zu richten, was man als Wissenschaft bezeichnen dürfe. Man hat häufig wiederholt, was einmal Simmel bemerkt hat, dass, weil es jedem freistünde, den Begrifi der Wissenschaft in seiner Definition auf die Erkenntnis von Gesetzen zu beschränken, woraus dann von selbst folge, dass Geschichte insolange keine Wissenschaft ist, als sie nicht zu historischen Gesetzen vorgedrungen sei, diese ganze Unterscheidung „eine blosse Angelegenheit der Terminologie sei, auf die ein unbilliger Wert gelegt worden sei. Das Entscheidende für den Wert einer an sich wahren Erkenntnis ist doch nur das Interesse, das sich an sie knüpft. Sie mag einem vorgestellten Begriff von Wissenschaft noch so sehr genügen, so wird man ihr nicht nachgehen, wenn sie nicht an sich wertvoll erscheint; tut sie dies aber, so ist wiederum sehr gleichgültig, in welche formale Begriffskategorie sie gehört.“ [2] Und noch neuestens hat sich Heinrich Ricker t dieser Ausführung an- geschlossen. [3]

So einfach lässt sich nun die Sache doch nicht abtun; vielmehr zeigt gerade eine Haltung, die in dem Streit um das Anrecht auf den Namen der Wissenschaft nichts als „eine blosse Angelegenheit der Terminologie“ erblicken will, die eigene Stelle, wo sie verwundbar ist: nämlich, dass ihr der Begriff der Wissenschaft selbst gar nicht in eindeutiger Bestimmtheit gegeben ist. Das wird sich alsbald erweisen; zuvor aber wird es nötig sein, zu erkennen, wie falsch es überhaupt ist, in dem Streit um den Titel der Wissenschaft nichts anderes als einen müssigen Wortstreit zu sehen.

Es ist ein Durcheinandergehen des psychologischen und erkenntniskritischen Standpunktes, woran eine solche Meinung und auch im vorliegenden Falle die Simmelsche Erörterung leidet. Dazu kommt hier noch eine ganz disparate Anwendung des Begriffes Wissenschaft. Was zunächst das letztere betrifft, so wird gewiss nicht übersehen werden können, dass, mag man noch so liberal sein in der Einräumung, den Begriff der Wissenschaft beliebig definieren zu lassen, er doch sofort allen Sinn verliert, wenn er von einer isolierten Einzelerkenntnis gebraucht wird, auf deren Wert dann, wie es bei Simmel geschieht, reflektiert wird. Wissenschaft setzt – wie nachstehend begründet werden soll – immer eine irgendwie in Beziehung gesetzte, in Einheit gebrachte Mehrheit von Erkenntnissen voraus und erfordert nur eben wegen dieser eigentümlichen, erst noch klarzustellenden In-Einssetzung von Einzeleinsichten einen besonderen Namen, mit welchem sie allemal von blossem Wissen, von Lebenserfahrung sich scheidet und geschieden wurde. Sie kann wohl im Ganzen Gegenstand einer Wertung sein und ist es auch, wie sich uns am Schlüsse herausstellen wird, was aber ganz etwas anderes bedeutet als den Wert, den das Interesse im Einzelnen in ihren Resultaten finden kann.

Dies vorangeschickt, ist es nun – und hierin liegt die zuerst hervorgehobene Verwechslung des psychologischen mit dem kritischen Standpunkte der Betrachtung – freilich klar, dass es für die Befriedigung unseres Bedürfnisses nach Erkenntnis, also für den psychologischen Hergang ihrer Erwerbung, ganz gleichgültig ist, in welche formale Begriffskategorie ein gewisser Zusammenhang erworbener Einsichten, somit auch darin eingeschlossener Einzelerkenntnisse, gehöre und wie man ihn benennen wolle: genug, dass er uns die Erkenntnis bringt, nach der es uns verlangt. Eben deshalb aber ist das Interesse, das uns diesen Weg führt, nur entscheidend für das Dasein einer „an sich wahren“ Erkenntnis, aber nicht unterscheidend für diesen logischen Charakter des „An-sich-wahr-Seins“ selbst und des ganzen Wissenszusammenhanges, in welchem jede Einzelerkenntnis einen solchen besonderen Wert gewinnt. Der vom Interesse einer Erkenntnis zuerkannte Wert ist also noch nicht identisch mit ihrem Erkenntniswert. Denn ersterer bezeichnet lediglich ein affektives Verhältnis des erkennenden Subjekts zu seinen Erkenntnisobjekten und Erkenntniszielen, welches der ganzen historischen Zufälligkeit und Wandelbarkeit anheimgegeben ist, letzteres aber einen erkenntniskritischen Unterschied aller möglichen Arten zusammenfassender Erfahrung überhaupt. Und gerade weil Simmel, der für das Entscheidende das Interesse hält, das sich an eine Erkenntnis knüpft, dabei doch immer nur von einer „an sich wahren“ Erkenntnis spricht, ist die Frage naheliegend, ob es dann nicht ein gewisser besonderer Zusammenhang der „an sich wahren“ Erkenntnisse ist, welchen wir meinen, wenn von Wissenschaft die Rede ist, und in welchem sie einen neuen, besonderen Wert gewinnen? So dass also zwar sicherlich ohne ein daran geknüpftes Interesse keine wahre Erkenntnis uns wertvoll dünkt, dieses Interesse aber in wesentlich anderer und vielleicht vollkommenerer logischer Bedeutung von solchen wahren Erkenntnissen befriedigt werden kann, die sich einem derartigen Zusammenhang einordnen lassen, als von jenen, bei welchen dies unmöglich ist? Und wenn man ferner darauf acht hat, dass das Simmelsche „Interesse“ die „an sich wahre“ Erkenntnis in dieser Eigenschaft einfach voraussetzt, so erhebt sich noch die weitere Frage, ob nicht am Ende der fragliche Charakter der Wissenschaft gerade damit logisch zusammenhängt, was das „An-sich-Wahre“ der einzelnen Erkenntnis ausmacht, so dass also zwar nicht jede einzelne wahre Erkenntnis in dem Zusammenhang einer Wissenschaft in diesem Sinne Aufnahme zu finden braucht, aber doch nur zufolge desjenigen „an sich wahr“ ist, was von ihr in eine solche Wissenschaft eingehen kann? Gewiss entspricht der Freiheit jedermanns, seinen Begriff von Wissenschaft beliebig zu definieren, auch die andere Freiheit, diese eben bezeichneten Fragen zu stellen oder auch zu unterlassen. Aber so sicher dies letztere eine blosse Angelegenheit der Logik ist, so sicher ist auch dann die Bemühung, das klare Recht auf den Namen „Wissenschaft“ auszumachen, keine Angelegenheit blosser Terminologie.

Wollen wir also nicht in den Fehler verfallen, von einem bereits vor der Untersuchung feststehenden Begriff der Wissenschaft aus der teleologischen Auffassung von der Natur der Geisteswissenschaften das Recht auf diesen Namen zu bestreiten und gleichwohl aus Gründen an unserer Ueberzeugung festhalten, dass diese Ansicht berechtigt sei und kein blosser Wortstreit vorliege, so hilft nur eines: ehe wir etwas bekämpfen, bloss weil es neu oder unsympathisch scheint, sei vorerst Klarheit darüber hergestellt, was uns denn hindert, sofort den anderen Standpunkt einzunehmen. Dies muss sich entweder als ein blosser Affekt erweisen; dann müssen wir warten, bis er sich abgekühlt hat. Oder es ist ein logisches Raisonnement; dann wird es sicherer helfen als aufgeregtes Raisonnieren.

Es scheint nun in der Tat ein ernstes logisches Bedenken davon abzuhalten, die teleologische Auffassung vom psychisch-sozialen Leben, welche wir im Vorausgegangenen selbst mit klarstem Bewusstsein ihre Grundverschiedenheit von der kausalen entwickeln sahen, in ihren systematischen Resultaten gleichwohl mit demselben Namen zu bezeichnen, den die systematischen Ergebnisse der Kausalbetrachtung führen. Alle Klarheit, die durch die bewusste Scheidung dieser beiden so wesensungleichen Anschauungsarten der Welt immer mehr in jede theoretische Arbeit einströmen muss, wäre sofort wieder in Frage gestellt, sobald man dennoch weiterhin mit dem einen Wort der Wissenschaft zwei so ganz verschiedene Sachen bezeichnete. Oder wären es am Ende doch nicht zwei verschiedene Dinge, sondern, wie Simmel es meint, nur die eine grosse Sache der „an sich wahren“ Erkenntnis, zu der bloss zwei verschiedene Wege führten? Man sieht sofort: es geht zwar nicht an, in der früher getadelten barocken Weise den Begriff der Wissenschaft bloss für das naturwissenschaftliche Erkennen zu reklamieren, aber es ist andererseits doch kein blosser Wortstreit, der dies ernstlich durchzuführen bestrebt ist; vielmehr birgt sich darin die zuletzt ganz unumgängliche Bemühung, festzustellen, ob es möglich ist, für den Begriff der Wissenschaft ein logisch eindeutiges Kriterium zu bekommen, daran man sie unzweifelhaft erkennen kann, sobald es noch vorgezogen wird, auch andere Dinge mit demselben Namen zu bezeichnen. Es handelt sich wahrhaftig nicht um das Wort, sondern um den Begriff, der doch beim Worte sein muss. Wenn also der Streit darum geht, welche von den beiden in Betracht kommenden Auffassungen den Titel der Wissenschaft ausschliesslich für sich beanspruchen dürfe, oder der Zweifel rege wird, ob er nicht beiden gleichmässig zukomme, dann kann es nur darauf ankommen, ob es ein blosser Schall ist, der uns aus dem Worte „Wissenschaft“ so klangvoll durch alle Zeiten entgegentönt, oder ob dem Worte eine besondere Dignität der Sache entspricht. Diese, wenn sie anzutreffen ist, muss genau festgestellt werden, sie wird das Wesen der Wissenschaft im engeren Sinne des Wortes ausmachen; und dann erst mag man zusehen, ob die Eigenart beider oder vielleicht nur einer der einander gegenübergetretenen Auffassungen dieser Dignität entspricht. Das Resultat, zu dem wir auf diesem Wege gelangen, ist dann sicherlich keine blosse Nomenklatur, sondern eine Einsicht in die Natur unserer Erkenntnis überhaupt.

Was aber die Aufgabe, die hier ihre Lösung verlangt, so kompliziert, das ist nicht bloss die Schwierigkeit einer sicheren logischen Unterscheidung zweier ganz verschiedener Auffassungen, die sich beide dennoch gleicher Weise als Wissenschaft bezeichnen wollen, sondern noch viel mehr der Umstand, dass wir gar nicht den nächsten Weg einschlagen können,, aus dieser Verwirrung herauszukommen: nämlich einfach von der Bezeichnung auf ihren Begriff zurückzugehen, um so dessen eigentlichen Inhalt zu gewinnen. Und dies ist unmöglich, weil der Ausdruck „Wissenschaft“ gar keinen eindeutigen Begriff bezeichnet und damit zu Jenen in der Geschichte der Philosophie so gefürchteten unheilvollen Worten gehört, deren ewiges Schwanken im Gebrauche zum guten Teil die Unfruchtbarkeit so vieler ihrer Problemstreite verschuldet hat. Wenn man als Wissenschaft ebenso oft wie Physik und Chemie auch Ethik und Rechtskunde bezeichnen hört, wenn man von einer Wissenschaft der Heilkunde, des Maschinenbaues, ja sogar der schönen Künste oder der Musik spricht, wenn Gerichtssachverständige aus dem Schreibfache oder aus irgend einem Zweige der gewerblichen Technik in ihrem Eide beschwören, ihr Gutachten nach den Regeln „ihrer Kunst und Wissenschaft“ abzulegen, so ist wohl ohne weiteres klar, dass es einen Sprachgebrauch des Wortes „Wissenschaft“ gibt, dem nichts weniger eigen ist als Prägnanz seines Begriffes. Gleichwohl ist es gerade dieser allgemeine, weite Sprachgebrauch, von dem nicht nur meistens ausgegangen wird, wo es nicht gerade auf logisch präzise Begriffsbestimmung ankommt, sondern der selbst dort zugrunde gelegt wird, wo es sich um das berühmte, eminent logische Problem der Einteilung der Wissenschaften handelt.

Es wird sich aber sofort zeigen, dass dieser allgemeinere Begriff der Wissenschaft unmöglich hier ausreichen kann, wo wir nach einer besonderen Dignität in seinem Inhalte suchen. Denn er bietet uns erst nur eine Seite desselben, und zwar diejenige, mit welcher die spezifische (noch unbekannte) Eigenart einer bestimmten, als „Wissenschaft“ benannten Erfahrung mit einer allgemeinen Beschaffenheit zusammenhängt, die auch anderen Arten der Erfahrung zukommt, und welche daher jene auch nicht von diesen letzteren zu unter- scheiden vermag. In seinem weiteren Umfang bezeichnet nämlich der Ausdruck Wissenschaft offenbar alles menschliche Wissen überhaupt, aber als besonders qualifiziertes Wissen, eben als Wissenschaft, das heisst in einem Gegensatz zu dem vereinzelten, zufälligen, ungeordneten Wissen, wie es einfach Resultat der Lebenserfahrung ist: kurz, als zusammengefasstes, verarbeitetes, geordnetes Wissen. In dem Merkmal der Systematisierung der Erfahrung liegt also das spezifische Kennzeichen, durch welches sich die Einzelerkenntnis auf allen Gebieten der Erfahrung, somit ebenso in ihrem theoretischen wie in ihrem praktischen, moralischen und ästhetischen Bereiche in einem durchaus neuartigen und erhöhten Geltungswerte wiederfindet: dieses Merkmal konstituiert den Begriff der Wissenschaft im weiteren Sinne dieses Wortes. [4]

Wieso es möglich war, dass ein Wort so ganz verschiedene Seiten menschlich-geistigen Wirkens bezeichnen konnte, muss gewiss sonderbar genug erscheinen, besonders wenn man noch bedenkt, dass es ja nicht dabei stehen blieb, bloss das Uebereinstimmende des so Mannigfaltigen im Bewusstsein zu haben, sondern um dieser Uebereinstimmung willen direkt eine Gleichsetzung des Unterschiedenen vollzog. Aber so logisch widersinnig ein solcher Vorgang war, so psychologisch naheliegend erschien er in der historischen Entwicklung des Begriffes der Wissenschaft. Denn das Moment der Ordnung menschlicher Erfahrung war eben auf jedem ihrer Gebiete von so ausserordentlicher Bedeutung für die Lebenserhaltung und -förderung in materieller wie in intellektueller Hinsicht, es verlieh dem von ihm geleiteten Geiste eine derartige Ueberlegenheit über das unsystematische Denken, dass dieses Kriterium ausschlaggebend scheinen musste, den Charakter der Wissenschaft überhaupt festzustellen. Und bei dem Umstände, dass gerade auf dem Felde des Naturerkennens die Ordnung des Wissens am weitesten getrieben, Ja bis zur Vorherbestimmung des Naturlaufes in vielen seiner Richtungen fortgeführt werden konnte, erscheint es völlig begreiflich, dass nun der Begriff der Wissenschaft vorzüglich als eines Systems der Erfahrung gleichsam a potiori in Aufnahme kam, ja, dies um so mehr, als er damit zugleich zu einer Art Vorbild für die anderen, noch nicht so weit gediehenen Wissenssysteme wurde. So hat sich denn trotz der in logischen Unterscheidungen so oft schon aufgedeckten Aequivokation im Gebrauche des Terminus „Wissenschaft“ sein undifferenzierter Sprachgebrauch bis in unsere Tage erhalten, und dies – usus est tyrannus – oft bei denselben Denkern, die ihn 'in ihren logischen Einteilungen scharf genug verpönt hatten. Es ist jedoch ohne weiteres klar, dass ein Begriff von der Wissenschaft, der sich schon durch das Merkmal der Systematisierung der Erfahrung genügend konstituiert hält, durchaus unzulängüch ist, uns darüber Aufschluss zu geben, ob den verschiedenen, unter ihm befassten Systemen des Wissens irgend ein besonderer Charakterzug eigen ist oder nicht. Denn er vereinigt eben alle Systematisierungen menschlicher Erfahrung, seien sie nun auf theoretische Erkenntnis, auf praktisches Wirken oder auf ethische wie ästhetische Wertschätzung gerichtet. Gerade weil die im engeren Sinne ebenfalls Wissenschaften genannten besonderen Wissenssysteme sich derart bloss als koordinierte Unterarten eines Oberbegriffes ergeben, wird es klar, dass nun hier innerhalb des grossen gemeinsamen Rahmens eine Besonderung beginnt, über welche die gewöhnlich gleiche Benennung im nachlässigen Sprachgebrauche nicht täuschen darf.

Ich schreibe nun hier keine Abhandlung über die Einteilung der Wissenschaften und über das logische Wesen dieses Begriffes selbst. Es geht daher auch nicht an, in einer von Grund aus aufbauenden logisch-noëtischen Darlegung den Begriff der Wissenschaft hier zu akkreditieren. Das hiesse den ganzen Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen. Ohne dass es also möglich wäre, auf die verschiedenen Fassungen, die dieser vielumstrittene Begriff gefunden hat, hier einzugehen oder seinen mannigfachen Abgrenzungen von anderen Sphären menschlicher Betätigung (Philosophie, Kunst und Praxis) zu folgen, braucht für jetzt wohl nur auf das eine verwiesen zu werden, was vielleicht füglich als unbestritten bezeichnet werden darf.

Da wir fanden, dass alle Wissenschaft überhaupt systematische Erfahrung sei und dadurch erst eine über das isolierte Einzelerlebnis hinausreichende Erkenntnis schafft, um deretwillen eben jedem System der Erfahrung die Bezeichnung „Wissenschaft“ zuteil wurde, so ergab sich hieraus die Frage nach dem besonderen Charakter dieser verschiedenen Erfahrungssysteme. Dieser besondere Charakter ist nun entweder eine willkürliche Behauptung, das heisst die verschiedenen Systeme menschlichen Wissens unter- scheiden sich überhaupt nicht anders als bloss durch ihren Stoff; oder er liegt in einem verschiedenen Erkenntniswerte der einzelnen Systeme. Denn abgesehen von der Unterschiedenheit des Stoffes, welcher, wenn sonst keine Unterschiede bestehen, doch nur von logisch ganz nebensächlicher Bedeutung wäre, können alle Arten systematischer Erfahrung zunächst nur darin unterschieden gedacht werden, welchen logischen Erkenntniswert die einzelnen Systeme realisieren. Und da ist es denn offenbar, dass jene Systematisierung, die Einsichten von absoluter und objektiver Allgemeingültigkeit ermöglicht, die also einen absolut notwendigen Zusammenhang ihrer Erkenntnisse darlegt, sich scharf von jeder anderen wird abheben müssen, bei welcher dies nicht der Fall ist. [5] Selbstverständlich ist mit dieser ganz formalen Begriffsumschreibung noch gar nicht gesagt, welches der verschiedenen unter den weiteren Begriff der Wissenschaft fallenden Systeme dieser Anforderung entspricht. Aber gerade in dieser Unbefangenheit gegenüber den einzelnen unter die gleiche Bezeichnung zusammengefassten Doktrinen können wir jetzt sagen, dass sich mit logischem Rechte ein engerer Begriff der Wissenschaft aussondert, der allein noch weiter in Betracht kommt, sofern es sich um den Erwerb sicherer Erkenntnis handelt. Das System des absoluten und objektiv allgemein gültigen Wissens ist das der Wissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes. [6]

Diese Begriffsbestimmung darf nun ja nicht durch historische Auffassung ihrer Bestandteile missverstanden werden. Absolut allgemein gültig heisst also das System nicht etwa in dem Sinne, als ob dessen Einzelerkenntnisse jemals absolut feststünden und nicht vielmehr fortdauernd im Flusse geistiger Weiterentwicklung wären; sondern insoferne, als seine Ordnung (Gesetzmässigkeit) auf den gleichen Denk- und Anschauungsformen beruht, durch die auch jede einfachste Erfahrung zustande kommt; deren Standpunkt somit nicht ein solcher ist, der eingenommen werden kann oder auch nicht, sondern der zufolge der Beschaffenheit unseres Erkenntnisapparates bedingungslos, also absolut eingenommen werden muss. In dieser absoluten Allgemeingültigkeit unterscheidet sich dann dieses Erkenntnissystem von jedem anderen, dessen Ordnung (Gesetzmässigkeit) gerade so stringent sein kann wie die seinige, aber in ihrer Gänze nur für den besteht, der sich auf jenen Standpunkt begeben will, von dem aus erst diese Gesetzmässigkeit sichtbar wird. Bei aller Geschlossenheit und Ausnahmslosigkeit in ihrem Bereiche ist daher diese letztere Allgemeingültigkeit nur eine relative, denn sie muss erst von einem erkennenden Bewusstsein freigesetzt oder festgehalten sein. Jene andere Ordnung aber wird nicht von, sondern ist mit jedem Bewusstsein gesetzt und also absolut.

Weiter: objektiv allgemeingültig heisst unser besonderes Wissenssystem, weil die Allgemeingültigkeit seiner Sätze von jeder Beziehung auf ein Gebilligtwerden durch das erkennende Subjekt unabhängig ist, also im Gegensatz zu jenen Systemen, die zwar auch allgemeingültige Urteile enthalten, aber doch nur solche, von denen verlangt wird, dass sie jedes erkennende Subjekt anerkennen soll. Die Bedeutung dieses Unterschiedes liegt darin, dass wiederum auch die Sätze dieses letzteren Systems eine strenge Allgemeingültigkeit, welche nicht geringer ist als die des ersteren, darstellen für den, der sie aufstellt, dass sie aber diese Geltung nur dadurch erlangen, weil hier ein durchaus subjektiver Inhalt – nämlich das im Satz enthaltene Urteil – in einer Form ausgedrückt wird, die für den Urteilenden Allgemeingültigkeit bei sich führt, deren Anerkennung er daher von jedermann verlangt. Sagt zum Beispiel jemand, diese Gegend ist herrlich oder diese Tat ist edel, so meint er, solange er noch naiv urteilt und nicht aufmerksam gemacht wurde, dass er bloss von seinen Eindrücken sprechen dürfe, dass jeder die beurteilten Gegenstände ebenso finden müsse. Es ist aber keine Möglichkeit, in allen einzelnen Fällen eine weitergehende notwendige Uebereinstimmung des Denkens in diesen Punkten zu erzielen, als dass die Formen selbst als allgemeingültig aufgezeigt werden, in denen der eine dem anderen bestreitet, was dieser als herrlich oder edel bezeichnet. Und es gibt keinen Standpunkt, von dem aus ein wirklich innerlich auf diese Formen sich beziehendes Urteil als ein willkürliches, falsches, widerlegbares erwiesen werden könnte. Hier kommt die volle Subjektivität inmitten der Allgemeingültigkeit der Formen ihrer Betätigung zum Ausdruck; und so treten sie neben jene anderen Urteile, deren Allgemeingültigkeit aus den Bedingungen der Erfahrung überhaupt gegenüber einer subjektiven Laune oder Abirrung des Denkens in ihrem Rechte erwiesen werden kann, indem der Widerspruch dieses Denkens mit den Erfahrungsbedingungen aufgedeckt wird. Der objektiven Geltung dieser Sätze entspricht also dort nur ein subjektiver, in der notwendigen Form jener Urteile begründeter Geltungsanspruch auf Allgemeingültigkeit.

Gerade von diesem Standpunkt aus scheint nun das naturwissenschaftliche Erkennen leicht gewonnenes Spiel zu haben, sein ausschliessliches Anrecht auf den Namen der Wissenschaft zu behaupten. Denn die absolute und objektive Allgemeingültigkeit der Sätze in seinem Gebiete verbürgt ihm einfach der Umstand, dass dieselben Denkmittel des Raumes, der Zeit und der Kategorien des Verstandes, durch welche Überhaupt erst eine Welt von Objekten als Gegenstand des Naturerkennens da ist, auch die Mittel sind, aus denen die Gesetze sich aufbauen, dieses Dasein zu bestimmen. Die Ordnung, die Gesetzmässigkeit seines Systems wird also gar nicht gesetzt: sie ist so unumstösslich und ausnahmslos gültig, so unentrinnbar eben diese Denkmittel sind, um auch nur die einfachste Erfahrung zustande kommen zu lassen. [7] Eine gleiche Unentrinnbarkeit scheint aber Jenem anderen System, das wir als eine zweite Möglichkeit der Auffassung von der Welt des Menschen neben das des Naturerkennens treten sahen, zu fehlen. Die Wertbeziehung, welche hier einen allgemeinen Zusammenhang ermöglicht, beruht zwar auch auf einer prinzipalen Form des Bewusstseins, derzufolge die Polarität der Wertunterscheidung eben eine schlechthin allgemein gültige ist. Aber innerhalb derselben scheint doch jede konkrete Wertbeziehung eine durchaus subjektive und also die Gesetzmässigkeit des Wertes eine solche mit bloss subjektivem Geltungsanspruche. Ja noch mehr: die Wertunterscheidung selbst ist in diesem Lichte gesehen eine dem Subjekt nur mögliche, aber ganz und gar nicht notwendige. Nur sobald es werten will, ist ihm das Schema der Gegensätzlichkeit und damit die in ihm sich entfaltende Ordnung (Gesetzmässigkeit) unentrinnbar. Wer aber die Wertunterscheidung überhaupt verwirft, für den existiert dann auch die ganze von ihr abhängige Gesetzmässigkeit nicht mehr und mit deren Entthronung werden nun auch alle durch die Wertbeziehung allein getragenen Wissenschaften in ein äusserst prekäres Dasein verwiesen. Die Gesetzmässigkeit, welche der Wert erschliesst, wird so überdies eine nur relative. Dagegen besteht die Gesetzmässigkeit in der Natur, ob ich sie nun anerkenne oder nicht; und eine ihr Gebiet suchende Wissenschaft findet somit nur hier den festen, unerschütterlichen Boden, aus dem sie die Kraft und Schlüssigkeit ihrer Folgerungen gewinnen kann, die das zu bewirken imstande sind, was seit jeher den allgemeinen Charakter der wissenschaftiichen Wahrheit ausgemacht hat: dass diese unberührt bleibt gegenüber allem subjektiven Meinen, Werten und Wollen.

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Fussnoten

1. Marx über Feuerbach, 8. These, in Friedrich Engels’, Ludwig Feuerbach, 2. Auflage, Seite 61.

2. Georg Simmel, Probleme der Geschichtsphilosophie, Leipzig 1902, Seite 43.

3. Vergl. H. Rickert, Ueber die Aufgaben etc., a. a. O., Seite 146–147.

4. Im. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, herausgegeben von A. Höfler, Leipzig 1900: „Eine jede Lehre, wenn sie ein System, das ist ein nach Prinzipien geordnetes Ganze der Erkenntnis sein soll, heisst Wissenschaft.“ Seite 3.

5. Man darf nicht meinen, das sei eine petitio principii. Denn während es hier noch ganz dahingestellt bleibt, ob es einen solchen absolut notwendigen Zusammenhang als System unseres Erkennens gibt, ist zunächst allein entscheidend, dass wir doch jedenfalls den logischen Begriff des absolut und objektiv allgemein Gültigen haben. Und nur um eine von diesem logischen Blickpunkt ausgehende Orientierung in der Unterscheidung möglicher Wissenssysteme handelt es sich vorerst

6. Im. Kant, a. a. O., Seite 4, Eigentliche Wissenschaft kann nur diejenige genannt werden, deren Gewissheit apodiktisch ist.“

7. Hier liegt auch ein anderer Grund für jenes merkwürdige Zusammenfallen des Begriffes der Wissenschaft im engeren Sinne mit einem Merkmal eines viel weiteren Begriffes, nämlich des systematischen Wissens. Da sie nur in demselben Denkprozess erwuchs, dem alle Erfahrung überhaupt entsprang, erschienen die Kriterien der Erfahrung, eben ihre unumstössliche objektive und absolute Gültigkeit für alle Erfahrungssubjekte, gar nicht mehr als besondere Merkmale der Wissenschaft. Sie traten vielmehr als selbstverständlich zurück gegenüber ihrem so immer mehr sich als allein charakteristisch abhebenden Gattungsmerkmal einer Ordnung des Erfahrungsstoffes. Erst unter kritischem Gesichtspunkte wird die selbstverständliche Geltung der Erfahrung zum Rätsel, dessen Geheimnis durch die Aufdeckung der alle Erfahrung erst konstruierenden Regelhaftigkeit unseres Erkenntnisvermögens seiner Lösung näher gebracht wurde. Nun gewinnt die stete Berufung aller modernen Wissenschaft seit Baco auf diese Erfahrung eine ganz andere Bedeutung. Es ist nicht mehr der Dualismus eines in der Wissenschaft tätigen Denkens, welches sich eine solide Basis nur in einer seltsam fremden „Erfahrung“ ausserhalb seines eigenen Bereiches verschaffen kann, sondern Wissenschaft und Erfahrung bilden nun einen grossen Zusammenhang des Denkens selbst, indem Wissenschaft nur die bewusste Verarbeitung und begriffliche Ausgestaltung der bereits in der Erfahrung selbst vorliegenden Regelhaftigkeit des Gegebenen ist, und zwar mit denselben nur zur hewussten Entwicklung gebrachten Anschauungs- und Denkmitteln, mit welchen auch schon die gewöhnlichste Sinneswahrnehmung zustande kam. In diesem Sinne wird sofort klar, wie die Auffassung der Wissenschaft als einer ökonomischen Leistung des Denkens nicht nur nicht der oben im Text versuchten logischen Bestimmung ihres Wesens entgegentritt, sondern sich ihr vielmehr als bloss historisch-psychologische Darstellung der Art und Weise, in welcher jener logische Effekt in der geschichtlichen Entwicklung der wissenschaftlichen Arbeit sich realisieren kann, völlig einwandfrei einfügt. Und ebenso erscheint in diesem kritischen Sinne nun ein anderer Satz der positivistischen Erkenntnistheorie, nämlich dass das wissenschaftliche Denken gar nicht qualitativ verschieden sei von dem gewöhnlichen, jetzt nur als eine Bestätigung mehr unserer logischen Darlegung vom Wesen der Wissenschaft. Denn wenn die Sicherheit der Wissenschaft gewiss keine andere ist als die der unmittelbaren Realität, mit der die Erfahrung unser gewöhnliches Weltbild ausgestaltet, so nur deshalb, weil der sichere Boden dieser Erfahrung verankert ist in der Unentrinnbarkeit, mit welcher sie sich vermittelst der formalen Aktion des Bewusstseins aufbaut. Inwieferne derselben der Charakter der Allgemeingültigkeit immanent sein muss, kann erst der Fortgang unserer Erörterung ergeben.


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020