Max Adler

Kausalität und Teleologie

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IX. Zwischenbemerkung:
Wert und Bedeutung eines
philosophischen Streites


 

Motto: Wenn einzelne Individuen die moderne Philosophie nicht verdauen und an philosophischer Indigestion sterben, so beweist das nicht mehr gegen die Philosophie, als es gegen die Mechanik beweist, wenn hie und da ein Dampfkessel einzelne Passagiere in die Luft sprengt. [1] – Karl Marx.

Wie einstens das gewaltige Siegel Salomonis die Geister beschwor, um sie in den Kristall einer Flasche zu pressen, so scheint auch hier das Denken in die Fessel einer kristallklaren Logik geschlagen zu sein unter dem Bann eines neuen, gewaltigeren Geistesbeherrschers: denn es ist das Siegel der kritischen Philosophie, von dem diese wunderbare Wirkung ausgeht. Freilich erscheint diese hier nicht so sehr in jener Fassung, wie sie ihr von ihrem Begründer Immanuel Kant gegeben wurde, und die erst Jetzt in einem immer tiefer eindringenden und umfassenderen Verständnis ihre eigentlichen grossen Wirkungen auszuüben beginnt, sondern es ist mehr jene durchaus eigenartige und kühne Wendung, die sie in dem wesentlich von moralischen Gesichtspunkten geleiteten Denken Fichtes erhalten hat. So findet sich denn auch bei Windelband ausdrücklich betont, dass es die unvergängliche Grösse Fichtes ausmache, zuerst klar erkannt zu haben, dass die von Kant begründete kritische Methode ihre Vollendung erst in der vollbewussten Erkenntnis ihres teleologischen Charakters erlange; und wie sehr die Rickertsche Zurückführung des Seins überhaupt auf ein transzendentes Sollen im Geiste der Fichteschen Philosophie gelegen ist, spricht ohne weiteres für sich selbst. Vielleicht genügt es uns also, wenn wir von dieser Fichteschen Umgestaltung zu jener Form der Transzendentalphilosophie zurückgreifen, wie sie sich aus den von Kant gelegten Grundlagen fortentwickelt hat, den Bann zu brechen, der auch das naturwissenschaftliche Denken in die gläserne Kapsel des transzendenten Sollens sperren will. Vielleicht werden wir so auch gleichzeitig Klarheit darüber gewinnen, inwieferne das Befremden, das die vorgetragene Ansicht vom teleologischen Charakter alles Erkennens erregt, nicht dem blossen Schein einer Paradoxie entspringt, sondern wirklich die Regung eines gesunden Instinktes ist, der uns davon abhält, einen Irrtum anzunehmen, auch wenn er sich noch so berückend mit dem Gewande unbesieglicher Wahrheit bekleidet hat. [A]

Bevor wir aber an den Versuch einer solchen Widerlegung gehen, die sich also prinzipiell mit der gegnerischen Ansicht auf den gleichen Boden der kritischen Philosophie zu stellen gesonnen ist, scheint es mir nötig, eine Erörterung einzuschieben, deren Nutzen für die vorliegende Untersuchung dadurch gekennzeichnet ist, dass es um so besser um die letztere stehen wird, für je überflüssiger die erstere gehalten werden wird. Sie soll die schlichte Bemerkung rechtfertigen, dass deswegen, weil hier die Namen Kant und Fichte gefallen sind, es sich doch nicht etwa um eine „bloss“ in die Geschichte der Philosophie, ja wohl gar nur in das Gebiet der Kant-Philologie fallende Diskussion handelt.

Es ist freilich eines der verbreitetsten und lächerlichsten Schlagworte, dem gleichwohl eine Ueberzahl sonst sehr unterrichteter Köpfe huldigt, dass die Geschichte der Philosophie nichts anderes sei als eine beispiellose Häufung von alten, stets mit neuen Mitteln wieder aufgefrischten und ebenso widerlegten Irrtümern, eine Stätte grundloser Träumereien, willkürlicher Konstruktionen und endloser Wortgezänke.

„Allein die Philosophen wachsen nicht wie Pilze aus der Erde“, sie sind die Früchte ihrer Zeit, ihres Volkes, dessen subtilste, kostbarste und unsichtbarste Säfte in den philosophischen Ideen roulieren. Derselbe Geist baut die philosophischen Systeme in dem Hirn der Philosophen, der die Eisenbahnen mit den Händen der Gewerke baut. Die Philosophie steht nicht ausser der Welt, so wenig das Gehirn ausser dem Menschen steht, weil es nicht im Magen liegt; aber freilich, die Philosophie steht früher mit dem Hirn in der Welt, ehe sie mit den Füssen sich auf den Boden stellt, während manche anderen menschlichen Sphären längst mit den Füssen in der Erde wurzeln und mit den Händen die Früchte der Welt pflücken, ehe sie ahnen, dass auch der ,Kopf' von dieser Welt oder diese Welt des Kopfes sei.“ [2] Was Karl Marx im Jahre 1841, in einer Zeit, da philosophische Fragen noch wahre Tagesfragen waren, die vor ein£r breiten, in ihnen doch mehr oder weniger orientierten Oeffentlichkeit verhandelt wurden, zum Unmut reizte, die selbstgefällige Oberflächlichkeit, „die in einigen abgestandenen Zeitungsphrasen die langjährigen Studien des Genies, die mühsamen Früchte aufopfernder Einsamkeit, die Resultate jener unsichtbaren, aber langsam aufreibenden Kämpfe der Kontemplation wie Seifenblasen wegzuhauchen prahlte“ [3], es ist auch noch ein Uebel unserer Zeit und ein um so empfindlicheres, weil heute bei der (freilich schon allmählich im Schwinden begriffenen) Entfremdung der allgemeinen Bildung gegenüber der Philosophie solche nur von der unbedenklichen Kühnheit eigener Gedankenlosigkeit getragene Urteile um so weniger Gefahr laufen, kontrolliert und in ihrer inneren Hohlheit blossgestellt zu werden.

Dass nur der Blick auf den ganzen grossartigen geschichtlichen Prozess der Philosophie den hier langsam, aber stetig sich vollziehenden Fortschritt des Denkens klarlegen kann, muss freilich gerade Jenen verschlossen bleiben, die ihr absprechendes Urteil zumeist nur aus der flüchtigsten Gedankenarbeit schöpfen und denen überdies nicht selten ihr geistiges Unvermögen geradezu als Begründung für diese Art Urteil über die Philosophie gilt, wenn sie sich nämlich ausserstande sehen, die einander drängenden Probleme – Widersprüche nennen sie’s gerne – durch die Kraft eigenen Denkens zu vereinen.

Weil sie seltsamerweise meinen, dass zwar sonst zu allem in der Welt einige Mühe gehört, es zu erwerben oder fertig zu bringen, gerade nur aber die Welt der philosophischen Gedanken ein Reich sei, in das man ohne alle eigene Arbeit eintreten kann, ja, in welchem recht eigentlich alles so selbstverständlich sein müsse, dass sie jegliches auch selbst hätten denken können, wenn ihnen nur ihre wichtigeren Tagesgeschäfte dafür Zeit Übrig gelassen hätten, so geht nun die Klage Über die schwere Ausdrucksweise der Philosophie, über die Verworrenheit ihres Stiles und die Unverständlichkeit ihrer Redensarten mit wohlfeilen Witzen und einer Art satten Genügsamkeit des Denkens von Mund zu Mund. Es ist nur eine solche behagliche Verdauungsstimmung, in der die eigentlich intellektuellen Kräfte zugunsten des rein animalischen Lebens herabgesetzt sind, wenn man sich immer wieder auf das miss verstandene Wort beruft, dass jedes mit sich selber klare Denken auch anderen klar sein muss. Gewiss gilt das, aber nicht so, dass es schlechtweg allen anderen einleuchten muss, sondern doch wohl nur jenen, die nicht bloss bereits so viel Vorkenntnisse, sondern auch noch so viel guten Willen mitbringen, die Arbeit, die dem schaffenden Denken nötig war, am mit sich selbst ins klare zu kommen, nun auch für ihr eigenes Denken bei der Aufnahme der Resultate der ersteren anzuwenden. Mit Recht schrieb daher auch Karl Marx über die „unpopuläre“ Darstellungsweise in seiner Schrift Zur Kritik der politischen Oekonomie an Dr. Kugelmann (28, Dezember 1862): „Wirklich populär können wissenschaftliche Versuche zur Revolutionierung einer Wissenschaft niemals sein. [4] Und es war nicht einer aus der Zunft der Philosophen selbst, es war der Autodidakt und einfache Lohgerber Josef Dietzgen, dessen Denkarbeit nicht nur selbst ein leuchtendes Beispiel dafür ist, wie weit auch der ungeschälte Geist zu dringen vermag, woferne er „strebend sich bemüht“, sondern der es direkt als propädeutische Lehre ausspricht, dass das meiste ,,an der Klage über Unverständlichkeit die Denkfaulheit des Schülers“ schuldet. [5]

Aber freilich, es bleibt ja noch ein anderes Bollwerk gegen- über den peinlichen Anforderungen, welche die Philosophie an das oft angestrengteste Mitdenken stellt. Wer hätte denn nicht schon jene traurige Berufung auf den „gesunden Menschenverstand“ gehört, die in einem Atem beschimpft und verleugnet, was sie doch zu Ehren bringen will! Wahrlich, hier sollten die eindringlichen Worte Kants unvergessen bleiben, mit denen er diese Art von Behandlung schwieriger Denkarbeit als ein bequemes Mittel, „ohne alle Einsicht trotzig zu tun“, entlarvte: „In der Tat ist’s eine grosse Gabe des Himmels, einen geraden (oder, wie man es neuerlich benannt hat, schlichten) Menschenverstand zu besitzen. Aber man muss ihn durch Taten beweisen, durch das Ueberlegte und Vernünftige, was man denkt und sagt, nicht aber dadurch, dass, wenn man nichts Kluges zu seiner Rechtfertigung vorzubringen weiss, man sich auf ihn als ein Orakel beruft. Wenn Einsicht und Wissenschaft auf die Neige gehen, alsdann und nicht eher sich auf den gemeinen Menschen- verstand zu berufen, das ist eine Ton den subtilen Erfindungen neuerer Zeiten, dabei es der schalste Schwätzer mit dem gründlichsten Kopfe getrost aufnehmen und es mit ihm aushalten kann. Solange aber noch ein kleiner Rest von Einsicht da ist, wird man sich wohl hüten, diese Nothilfe zu ergreifen. Und beim Lichte besehen, ist diese Appellation nichts anderes als eine Berufung auf das Urteil der Menge, ein Zuklatschen, über das der Philosoph errötet, der populäre Witzling aber triumphiert und trotzig tut.“ [6]

Was derartiges Banausentum, das weiter verbreitet ist, als man denken mag, als das Laster der Philosophie bezeichnet, das fortwährende Kreisen ihrer Gedanken um die gleichen Probleme und das unausgesetzte Hinsinken und Wiederaufstehen ihrer Systeme, das gerade ist die Tugend und die Kraft der Philosophie. Denn ihre Probleme sind die ewigen Rätsel, an denen alles menschliche Denken vom Anbeginn in stets neuem Anlauf sich müht, das unversiegbare faustische Drängen:

Dass ich erfahre, was die Welt
Im Innersten zusammenhält,
Schau’ alles Wirkens Kraft und Samen
Und tu’ nicht mehr in Worten kramen.

Aber die Stellung des Denkens zu diesen Problemen wechselt, sei es bald, dass das Denken glaubt, bis in das Innere der Natur vordringen zu können, sei es, dass es sich zurückgewiesen sieht auf die Erkenntnis seiner Grenzen. Jedes philosophische System ist so, ganz abgesehen von seinen inhaltlichen Lehren, eine besondere Stellungnahme, deren allgemeiner Wert nur in ihrer historischen Erscheinungsform beschränkt ist, eben durch das Wissen und den Grad der Kulturentwicklung ihrer Zeit. Aus diesen historischen Beschränkungen rührt dann gewöhnlich das meiste, was in dem System selbst mangelhaft, irrtümlich, vergänglich ist, so dass ein neues, in entwickelterer Zeit auftretendes System zuweilen ein viel tiefer gedachtes, älteres für einige Zeit zu den Toten zu werfen vermag, bis das Einströmen des durch die Wissenschaft und allgemeine Geistesentwicklung überhaupt angesammelten Stoffes in die alte Form es auf einmal zu neuem glanzvollen Leben erstehen lässt, so dass nun alle die Tiefe einer Gedankenwelt anstaunen, die, Jahrhunderte vor ihnen zum erstenmale entsprossen, dennoch Bahnen eröffnet hat, auf denen sie, die Gegenwartsmenschen, zur grössten Einsicht über ihre eigene Welt zu gelangen vermögen. So leben uns heute noch Platon und Aristoteles, und zwar nicht so sehr durch das, was wir buchstäblich aus ihren Schriften für unser Wissen gewinnen können, als durch den Geist, der von ihren Werken ausgeht, also durch ihren Standpunkt gegenüber menschlichen Grundproblemen, der, haben wir ihn nur erst wirklich innerlich erfasst, auch heute noch, inmitten der noch so modernen positiven Entwicklung unseres Wissens nicht aufgehört hat, uns zu neuen Einsichten zu führen. Und auch abgesehen von dem bewussten Weiterwirken ihrer Gedanken, zeugt fast noch mehr für den eigentlich unvergänglichen Bestand derselben die Tatsache, dass unser modernes Denken auf seinen selbständigen Wegen an so vielen Punkten dazugeführt hat, an jene Denker anzuknüpfen.

Das gleiche aber gilt von jeder tiefen Philosophie. Ueberall zeigt sich, sobald wir ihre zeitliche Gestalt, die dem Irrtum verfallen ist, von dem Gedankenbau scheiden, der sie gestützt hat, dass sich dann ein Kern von Einsichten, eine Anzahl von Gesichtspunkten des Denkens oder der Weltanschauung ergeben, die, wenn sie Aufgaben des Erkennens betreffen, sich ebenso als einzelne Strahlen zusammensetzen zu einem Lichte, von dem die Wahrheit stets heller erstrahlt, wie dies die einzelnen Entdeckungen und Einsichten auf dem Gebiete der Wissenschaften bewirken, wenn sie aber sich auf ethische und ästhetische Probleme beziehen oder überhaupt an der Gestaltung einer Weltauffassung im ganzen arbeiten, jedesmal von einer anderen Seite her den ewig prozessierenden Ersatz eines Gesamtüberblickes verschaffen, welch letzterer einem einzigen Denker und einer einzigen Zeit überhaupt unerreichbar wäre. Wo also in der Philosophie wirklich ernste Gedankenarbeit vorliegt – und alles Oberflächliche, Wertlose, Falsche wird ja im Kampfe der Systeme selbst schonungslos ans Tageslicht gebracht und gedankenmässig derart vernichtet, dass es hinfort fast nur bei unphilosophischen oder pseudophilosophischen Köpfen noch Anklang findet, um von hier aus dann als Instanz gegen die Philosophie selbst ausgespielt zu werden – wo also echte philosophische Probleme mit heissem Bemühen zu lösen unternommen wurden, da geht diese Denkarbeit niemals verloren, weil sie stets einen Gesichtspunkt enthalten muss, der sie an irgend einer Stelle ihrer Ergebnisse zufolge der in allen Zeiten doch immer gleich bleibenden formalen Gesetzlichkeit ihrer Funktion mit einem wesentlichen Gnind- zug des realen Charakters unseres Erkennens in Zusammenhang gebracht hat. [7] In einer momentanen Intuition mag sich einem Denker der alten Zeit ein solcher Schimmer der Realität, des Wesens der Dinge erschlossen haben. Jahrhunderte vergehen nach ihm und alle diese Zeit findet in seinen Werken nur Phantasmen und seltsame Träume. So mag es den Griechen und noch späten Zeiten nach ihnen ein abenteuerliches Märchen gedünkt haben, wenn Anaximander lehrte, dass die lebenden Wesen aus einer stufenförmigen Entwicklung hervorgegangen, dass die Tiere aus dem Schlamm erstanden seien, ursprünglich alle fischartig gewesen sein sollten, bevor sie zu Landtieren wurden, und auch der Mensch durch diese Fisch- und Landtiergestalt hindurchgegangen sei. Heute zählt der Entwicklungsgedanke der Tierarten zu den stolzesten Errungenschaften des modernen Wissens.

In solchen Grundgedanken, die nicht immer so vereinzelte Gedankenblitze darstellen wie die eben dargelegte Lehre Anaximanders, sondern öfters ganze systematische Stellungnahmen bedeuten, liegt der bleibende Wert des philosophischen Denkens. Und das erklärt jetzt auch das stete Wiederanknüpfen der philosophischen Arbeit an die bereits ausgebildeten Lehren ihrer grossen Vertreter, so dass nun ein tiefer in das Wesen der Philosophie eindringendes Urteil sogar behaupten dürfte, dass es nirgends weniger fruchtlose Arbeit gibt als auf dem Felde der Philosophie und, wenn man, von der zeitlichen Gestaltung ihrer Lehren absehend, bloss den Fluss ihrer historischen Entwicklung im Auge behält, nirgends weniger der Fortschritt in der Grösse und Sicherheit ihrer Resultate verkannt werden dürfte als eben in der Philosophie.

Weil aber dieser Fortschritt sich hier nicht wie auf dem Ge- biete der Wissenschaften in zahllosen Arbeiten vieler Beobachter der Natur vollzieht, denen zwar auch alle glücklichen heiligen Zeiten ein grosser Geist neue Ziele oder Wege weist, der aber selbst wieder sein Werk durch die namenlose Arbeit der Myrmidonen der Wissenschaft vorbereitet findet, sondern weil in der Philosophie aller sichtbare Fortschritt ganz und gar an die grossen Schöpfer der einzelnen Systeme sich anschliesst, weil also Philosophie nicht ähnlich wie Wissenschaft Produkt einer Massenarbeit, sondern stets nur von einzelnen weitergebracht zu sein scheint, so treten hier die Namen der Denker und Schulen in den Vordergrund, so dass es den Anschein hat, als wogte da bloss ein Kampf der Meinungen, wo es sich doch tatsächlich um einen Ausgleich und eine Ineinssetzung der Gedanken über die Dinge handelt.

Wie kurzsichtig dieses so verbreitete Vorurteil ist, ergibt sich übrigens nicht nur daraus, dass es, wie gezeigt, der Unfähigkeit entspringt, den historischen Zusammenhang der philosophischen Arbeit zu bemerken, sondern wird noch ganz besonders deutlich und beklagenswert, wenn man acht hat, wie es ein an sich ganz zufälliger äusserer Umstand ist, der durch Hervorrufung eines falschen und für die Philosophie ungünstigen Unterschiedes derselben gegenüber der Wissenschaft diesem Vorurteil einen Anschein von Begründung gegeben hat. Es ist dies der Umstand, dass die Bekanntschaft mit den Lehren der Einzelwissenschaften nicht in historischer, sondern dogmatischer Darstellung vermittelt wird, während dies bezüglich der Philosophie bekanntlich gerade umgekehrt sich verhält, Insbesonders soweit die Schule in Betracht kommt, welche jenen festen Bestand des erworbenen Wissens ihrer Zeit zu überliefern hat, der die Grundlage der sogenannten allgemeinen Bildung ausmacht, werden die Wissenschaften ihren Schülern als ein Fertiges, Feststehendes mitgeteilt, so dass nur die Ordnung und Sicherheit in ihnen zum Ausdruck kommen, die Kämpfe und Irrtümer, die Zweifelfragen und Unbestimmtheiten, aus denen alle diese stolzen Errungenschaften der Wissenschaft sich erst im heftigsten Meinungsstreite ihrer Vertreter losrangen, den glücklich empfangenden Hörern aber fast gänzlich unbekannt bleiben. Und selbst wo der Unterricht historische Anmerkungen beibringt, ist es doch gewöhnlich nicht – worauf es hier zum Unterschied wesentlich ankommt – der historische Prozess der Wahrheitsgewinnung selbst, durch dessen innerUches Nach-Erleben in einer Art geistigen Ontogenesis die grossartige Philogenie der philosophischen Erkenntnisse in jedem Einzeldenken aufs neue zum Leben erwacht und sich weiter entwickeln kann, sondern es ist mehr der behagliche Rückblick des besitzenden Erben auf eine Vergangenheit, mit der er nicht so sehr durch das Bewusstsein der Mittel zusammenhängt, welche aus drangvoller Vorzeit zu seiner Gegenwart geführt haben, als durch den schmeichelnden Gedanken:

„Zu schauen, wie vor uns ein weiser Mann gedacht,
Und wie wir’s dann zuletzt so herrlich weit gebracht“.

Wenn erst einmal der abgeklärte» tief eindringende Geist historischen Verständnisses und historischer Kritik auch auf den allgemeinen Bildungsgang in den Schulen Einfluss genommen haben wird, mit welcher ein Ernst Mach uns gelehrt hat, die Naturwissenschaft historisch anzuschauen und daraus zu erkennen, wie gerade in dem Ringen nach wissenschaftlicher Erkenntnis das Denken eine stete Umwandlung und Anpassung seiner Denkmittel vorgenommen hat, bei welcher ihm Irrtum, Vorurteil und faule Denkgewohnheit ebenso oft hinderlich waren und die Wahrheit aufhielten, als ein Zufall oder ein voreiliger, durch seine Prämissen nicht gerechtfertigter, Phantasie voller Schluss sein Vordringen begünstigte, dann wird gewiss auch die ganze haltlose Lächerlichkeit einer Ansicht offenkundig geworden sein, die in der Philosophie nur ein Golgatha des Geistes sieht, auf welchem die Vernunft immer wieder gekreuzigt wird. Die starre Ruhe wissenschaftlicher Wahrheit, die, weil wir ihre Entstehung, ihre Wandlung durch so viele uns fremd gewordene Anschauungen vergessen oder vielleicht nie gekannt haben, in ihrer Vollendung uns fast wie ein Unpersönliches so imponierend entgegentritt, als sei, wie ihr der Irrtum fremd ist, sie selbst auch gar nichts Menschliches mehr, wird dann in dieser historischen Vertrautheit mit einem Male hineingerissen, gleichwie die Philosophie, in den einen grossen, uns persönlich innigst berührenden geistigen Wachstumsprozess der Menschheit, der stets durch Nacht zum Licht geht und nur im Streit der Meinungen, nur indem die Gedanken einander widerlegen oder sich zusammenstimmen, eine Kenntnis der Dinge verschafft.

Nun ist es freilich unvermeidlich, dass, ehe man widerlegen, ausgleichen oder in Eins setzen kann, man doch jenes Denken, demgegenüber sich solch eine Aufgabe erhebt» erst verstanden haben muss. Gerade also das Streben, über die Dinge ins klare zu kommen, führt daher in der Philosophie – wie überhaupt auf jedem Gebiete, wo die Erkenntnis der Gegenstände sich nur im heftigsten Streit der Ansichten über diese vollzieht, wie beispielsweise in der Nationalökonomie – zu der Konsequenz, dass die Feststellung des eigentlichen Sinnes der Lehren eine erste, unerlässliche Aufgabe wird. Der Vorwurf der Philologie ist gewiss jenen gegenüber berechtigt, denen die Philosophie aufgeht in der Geschichte der Philosophie, und man hat überall dort das Recht, wegwerfend von Scholastik zu sprechen, wo das Interesse nicht so sehr darauf geht, zu erfahren, was an der Sache ist, als was dieser oder jener über die Sache gesagt hat.

Wer aber, wie es hier darzulegen versucht wurde, die Geschichte der Philosophie auffasst als eine einzige, sich am Wissen der Zeit stetig vervollkommnende und in ihren eigenen Gedanken besser orientierende Stellungnahme zur Erfassung der menschlichen Grundprobleme, wie sie unser Dasein überhaupt, unser Wissen, Handeln und Geniessen bietet, der kann in der Auseinandersetzung des Standpunktes zweier Schulen oder Systeme keine Scholastik mehr erblicken, welche den Streit der Meinungen an Stelle der Erkenntnis von den Dingen setzte, da eine solche Vertauschung auf diesem Boden gar nicht mehr möglich ist. Nun bedeuten ja die Namen der Philosophen keine fertigen Systeme mehr, die es nur richtig zu interpretieren gilt, als ob durch den Nachweis eines Missverständnisses des Gegners nun auch schon die Richtigkeit der Lehre selbst erwiesen wäre; sondern sie sind nichts anderes als dem Kundigen eindeutige klare Bezeichnungen für gewisse durch sie geschaffene oder ausgebildete Denkmittel, Auffassungsweisen, mit denen die Sache selbst untersucht werden soll. Und wenn man nicht vergisst, was vorhin besonders hervorgehoben wurde, dass es nicht einmal diese Denkmittel in der ursprünglichen historischen Bestimmtheit des einzelnen philosophischen Systems sind, sondern dass sie sich stets mit neuem Stoff erfüllen, den ihnen die Geistesentwicklung ihrer Zeit zuführt; dass sie an den Anforderungen und Einsichten dieser neuen Materie sich selbst umbilden oder endlich ihr Unvermögen erweisen, auch diesen neuen Inhalt noch zu gestalten, und jetzt erst wahrhaft der Vergangenheit angehören; wenn man also sieht, dass die philosophischen Systeme, derart richtig gewürdigt, nichts weniger sind als feste, starr dogmatische Formen des Denkens, sondern vielmehr fortwährend in den Erkenntnisprozess eingehende wirksame Potenzen desselben, lebensvolle, mächtige Gedanken- hebel zu einer immer grösseren Vereinheitlichung und Sicherung unseres geistigen Daseins, dann sehen wir auch klar: es ist kein Streit der Doktrinen mehr, keine bloss im Bereich der Schulphilosophie sich abspielende Zwistigkeit, wenn in solcher Sinnesrichtung eine Untersuchung an den Namen eines grossen Philosophen anknüpft, um sich der Folgerungen zu erwehren, die aus dem Wirken eines anderen gegen sie angeführt werden. Es gelangt daher auch nicht die ganze Unsicherheit vergänglicher Lehrmeinungen des bezogenen philosophischen Systems in diese Untersuchung, Es wird vielmehr die ganze Untersuchung nur in jenen grösseren und tieferen Zusammenhang gerückt, der nötig ist, um ihrem Gegenstand von Grund aus gerecht zu werden, und mit der Nennung des Philosophen nichts mehr als der Standpunkt bezeichnet, der dabei massgebend sein soll aus Gründen, die sich nur in der logischen Geschlossenheit ihres Gedankenganges selbst und in dem Werte des Resultats, zu dem dieser führt, legitimieren können. Nur im, allgemeinen wird man sagen können: je entwickelter und tiefer die Philosophie ist, ans welcher der Standpunkt genommen ist, um so gesicherter wird er auch in seinen Resultaten sein.

Was so für die Philosophie überhaupt, das gilt auch für einen ihrer vornehmsten Zweige, die Erkenntnistheorie. Und so bedeutet also auch hier die Anknüpfung an den transzendentalen Kritizismus Kants nur eine bestimmte Richtung des Denkens, hat aber an sich zunächst gar nichts zu tun mit dem System der Kantschen Philosophie. Jeder der Vulgäransicht so behebte Hinweis auf die „Schwächen und Widersprüche“ der Lehrmeinungen Kants ist daher hier gänzlich deplaciert, da er vollständig erkennt, worauf es allein ankommt. Es handelt sich hier nicht um Kant-Dogmatik, sondern um jene grossartige Gedankenentwicklung, die in unserer Gegenwart überall treibend und reifend fortwirkt, vielleicht auch schon da und dort über die ursprünglichen Ansätze bei Kant hinaus gediehen ist, die aber trotz ihrer sich so erst unter uns entwickelnden Gedankenfülle den Namen Kants mit Recht trägt, weü er den ersten Keim in den Wunderboden der brütenden Gehirne versenkt hat. [8]

Es wird also nicht etwa im folgenden unternommen, mit dem, was ein grosser Denker, und sei es auch Immanuel Kant, gesagt hat, zu widerlegen , was ein anderer grosser Denker vorbrachte, wobei im allgemeinen nie mehr bewiesen wird als die Belesenheit des Disputierenden und seine Fixigkeit im Verwenden der zweckdienlichen Zitate, sondern nur darauf geht diese Arbeit, zu versuchen, was ein (hoffentlich) prinzipiell an Kant orientiertes, im übrigen aber vielleicht nur zu sehr auf sich selbst gestelltes redliches Bemühen dazu beizutragen vermöchte, jene Frage ins klare zu bringen, die, wie unsere Studie zuletzt gezeigt hat, aus einem anfänglichen, ganz zersplitterten Streit der Meinungen sich schliesslich zu einem erkenntniskritischen Gegensatze zwischen kausaler und teleologischer Auffassung vertieft hat: die Frage nach dem Wesen der Geisteswissenschaften, beantwortet aus dem Wesen wissenschaftlichen Erkennens überhaupt.

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Fussnoten

1. Karl Marx in Nr. 79 der „Kölnischen Zeitung, Nachlass, I., Seite 262.

2. Karl Marx, a. a. O, Nachlass, I., Seite 259.

3. Karl Marx, a. a. O., Seite 261.

4. Neue Zeit, XX 2, Seite 30.

5. Josef Dietzgen, Briefe über Logik, Seite 105, Stuttgart, J. R. W. Dietz, 1895.

6. Kant, Prolegomena, Einleitung, Reclam, Seite 33–34. – Eine solche Berufung muss nun auch vollends von dem dialektischen Standpunkt des Marxschen, Denkens verwerflich erscheinen, das ja noch ganz besonders geeignet ist, die hausbacken sichere Weise vor den Kopf zu stossen, mit welcher der gesunde Menschenverstand die ihm stets nur „in Stücken“ gegebene Welt ebenso fragmentarisch und stückhaft hinnimmt, wie sie sich ihm bietet. Und so finden wir dieses Bewusstsein auch ausgesprochen bei Marx, der 1847 (gegen Karl Heinzen) schrieb: „Es bezeichnet den ganzen Grobianismus des ‚gesunden Menschenverstandes‘, der aus dem ‚vollen Leben‘ schöpft und durch keine philosophischen und sonstigen Studien sich seine Naturanlagen verkrüppelt, dass er da, wo es ihm gelingt, den Unterschied zu sehen, die Einheit nicht sieht, und dass er da, wo er die Einheit sieht, den Unterschied nicht sieht. Stellt er unterschiedene Bestimmungen auf, so versteinern sie sich ihm sofort unter der Hand und er erblickt die verwerflichste Sophistik darin, diese Begriffsklötze so zusammenzuschlagen, dass sie ins Brennen geraten.“ Marx-Engels’ Nachlass, II. Band, Seite 456. Vergl. im selben Sinne auch Friedrich Engels, Umwälzung der Wissenschaft, 3. Auflage, Seite 7.

7. Vergl. die merkwürdige Stelle bei Karl Marx in den Briefen an Doktor Kugelmann: „Allerdings beweist andererseits, wie Sie richtig unterstellt haben, die Geschichte der Theorie, dass die Auffassung des Wertverhältnisses stets dieselbe war, klarer oder unklarer, mit Illusionen verbrämter oder wissenschaftlich bestimmter. Da der Denkprozess selbst aus den Verhältnissen herauswächst, selbst ein Naturprozess ist, so kann das wirklich begreifende Denken immer nur dasselbe sein (g. v. m.) und nur graduell nach der Reife der Entwicklung, also auch des Organs, womit gedacht wird, sich unterscheiden. Alles andere ist Faselei.“ Neue Zeit, XX 2, Seite 222.

8. Es war mir eine Freude, dieser Auffassung von der historisch an bestimmte Namen geknüpften Philosophie gerade in Bezug auf Kant bei demjenigen seiner modernen Vertreter in völliger Uebereinstimmung zu begegnen, der das Hauptverdienst für sich in Anspruch nehmen kann, uns die ganze Tiefe der transzendentalen Methode erschlossen zu haben, Hermann Cohen schreibt in dem Kritischen Nachtrag zur 7. Auflage von Fr. Alb. Langes Geschichte des Materialismus, 2. Auflage: „Wenn wir für unsere Umschau auf die kritische Methodik Kants uns berufen, so fühlen wir uns dabei frei von dogmatischer Abhängigkeit ... Kant bedeutet uns nichts anderes als einen Gipfel des Höhenzuges, der von Platon ausgeht und unter den Neueren über Descartes und Leibniz hinführt. Die Geschichte der Philosophie hat sich nicht auf die bezeichneten Häupter zu beschränken; manche kleinere Höhen sind nicht nur Aufsteigepunkte zu ihnen, sondern gewähren eigene freiere Aussicht. Nur die Richtschnur sollen die Grossen bezeichnen, nach welcher die kritische Philosophie, die Philosophie Kants sich definiert. Die historische Bernfung soll die charakterisierende Bestimmung dieser Philosophie eröffnen“. Seite 475. – Nach alledem ist schon hier klar, worauf ich übrigens, um ärgerliche Missverständnisse zu verhüten, die sich so gern an Schlagworte anschliessen, besonderen Nachdruck legen möchte, dass die hier vertretene Anknüpfung an Kant ganz und gar nichts mit der von der neukantischen Bewegung in- und ausserhalb der Partei versuchten Zurückführung der politischen Forderungen des Sozialismus auf die Lehren der praktischen Philosophie Kants zu tun hat, in welchem Sinne ja auch Ed. Bernslein und andere dem Revisionismus nahestehende Sozialisten in die Parole „Zurück auf Kant“ eingestimmt haben. Da es sich vielmehr um die theoretische Richtung der Kantschen Erkenntniskritik handelt und in Anwendung derselben um die Herausarbeitung eines strengen Begriffes der Wissenschaft auch für die Sozialtheorie, so ist gerade die hier vertretene Anknüpfung an Kant das Mittel jene andere in diejenigen Schranken zurückzuweisen, welche allezeit Ethik und praktische Beurteilung überhaupt vom Erkennen und theoretischen Urteil scheiden werden. Darüber mehr im folgenden.

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Anmerkung von MIA

A. Im Scan von Archive.org kommt folgender Text hier, aber wir haben noch nicht gefunden wo es im Buch sein soll: ‚der Philosophie hat sich nicht auf die bezeichneten Häupter zu beschränken; manche<“


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020