Max Adler

Kausalität und Teleologie

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X. Fixierung der Streitpunkte


Greifen wir nun auf die vorhin in grossen Zügen entwickelte Argumentierung der teleologischen Auffassung zurück, so müssen wir, getreu der bisher befolgten Methode, auch hier, ehe der Versuch einer Widerlegung unternommen werden kann, zunächst wieder dasjenige uns besonders zum Bewusstsein bringen, was in ihr richtig ist, um desto deutlicher zu sehen, wo der Widerspruch einsetzen kann.

Da ist denn erstens der Ausgangspunkt dieser Argumentation, von dem aus sie das Wesen der wissenschaftlichen Wahrheit in ihrer Art aufzuschliessen unternimmt, trotzdem unumwunden als richtig zuzugeben, dass nämlich Wahrheit nie und nimmermehr Uebereinstimmung des Urteils mit dem Objekt, welches Gegenstand der Aussage ist, sein kann, da wir von solchen Objekten weder wissen, ob sie sind, noch, wie sie sind. Die Arbeit des kritischen Denkens, welche dieses Resultat gezeitigt hat, ist heute in der Tat bereits so weit gelangt, dass man die Erwartung aussprechen kann, ohne befürchten zu müssen, Phantast gescholten zu werden, es dürfte nicht mehr allzulange dauern, bis die Ueberraschung des naiven Mannes, dem gesagt wird, dass er in seiner täglichen dinghaften Lebensanschauung die Welt eigentlich durchaus metaphysisch auffasse, geradeso komisch empfunden werden wird wie die Aufregung des berühmten Molièreschen Bürgers, als er erfuhr, dass er täglich Prosa spreche. Dass diese Welt für alle von uns ihre gegenständliche Form nicht davon hat, weil ungemütlich unbekannte „Realitäten“ uns überall umgeben oder sich in ihren „Eigenschaften“ uns mitteilen, sondern dass es überall unser eigener Geist, das heisst die feste Regel seiner Vorstellungsverbindungen ist, an der wir uns so hart stossen, das ist ein Gedanke, der erst fast ungeheuerlich scheint, um zuletzt die Ruhe der Selbstverständlichkeit zu verbreiten. [1]

Auch wer in den Gedankengängen der kritischen Auffassung wenig zu Hause ist, vermag sich doch leicht gerade aus seiner gewohnten Denkart die Möglichkeit eines besseren Verständnisses für diesen ihren Grundgedanken zu schaffen. Denn selbst wer noch im metaphysischen Denken verharrt und also von der Welt solider Dinge da draussen nicht lassen will, ist doch oft geneigt, mit der Naturwissenschaft anzunehmen, dass die Dinge ihrer eigentlichen Beschaffenheit nach ganz anders sind, als sie uns scheinen, und dass, was uns als starre, solide Form entgegentritt, als Wärme durchströmt, in Farbe und Ton ergötzt, nichts anderes sei als qualitätslose, in sich eigenartig abgestimmte Bewegung kleinster Teile. Und gleichwohl starrt es uns in der jäh entgegenspringenden Felswand unerschütterlich fest und lückenlos prall entgegen. Aber es gibt noch einen anderen Standpunkt der Naturwissenschaft, von dem aus alles das, was die Bewegung leisten soll, durch die Kraftwirkung imponderabler Kraftzentren erbracht gesehen wird, so dass der Atomistik eine dynamische Auffassung des Naturgeschehens entgegentritt. Jetzt verwandelt sich also – und zwar auf metaphysischem Standpunkt, der eine von unserem Bewusstsein unabhängige Realität keinen Augenblick in Frage gestellt sieht – das Sein der Dinge in ihr Wirken. Es ist nicht mehr die aus kleinsten Teilen zusammengesetzte ponderable Masse, sondern eine aas immateriellen Zentren ausgehende Kraftwirkung, welche diese ganze Welt ebenso real und greifbar aufstellt, so dass es nicht weniger blaue Flecken verursacht, sich an einer Kante zu stossen, die im Grunde nur blosse Energie ist, als an einer aus vermcLotlich ganz solidem, nur an sich unerkennbarem Stoffe. [2]

Nun gehe man in seinem Denken noch um einen Schritt weiter und vergegenwärtige sich, wie das, was so als Kraftwirkung erkannt wird, doch ganz und gar nur in Bewusstseinsformen erfassbar ist: dass die Zeit, in welcher, der Raum, durch weichen die Kraft wirkt, ebenso wie das Mass ihrer Wirkung nur durch Anschauungsformen des Bewusstseins möglich werden, dass der Kraftbegriff selbst wie überhaupt der Begriff des Wirkens Verstandesbegriffe sind, und dass endlich die ganze Realität jedes Einzelvorganges oder Einzelobjekts nur darin erblickt werden kann, dass die durch solche Anschauungs- und Denkformen vermittelte Masse des Empfundenen (des „Gegebenen“) durch die prinzipale Tätigkeit des Denkens in bestimmte Komplexe zusammengefasst ist, deren formal starrer Charakter den Substanzbegriff und damit die Dinge erstehen lässt. Das Ding, der Gegenstand ist so nicht das, was uns gegenübersteht, sondern das, was durch die Regelhaftigkeit unseres Denkens aus dem Empfindungsmateriale immer in gleicher Weise verbunden aufeinander bezogen wird und in dieser unausweichlichen Bestimmtheit des Denkens dann jene Einheit gewinnt, welche eben das Ding als den Träger der Eigenschaften im vulgären Verstände besitzt. Inwiefern diese Einheit des Dinges nur ein Abglanz der eigenen inneren Einheit des erkennenden Subjekts ist, das also wirklich, als eine Art Schöpfer, die Welt nach seinem Ebenbilde gestaltet und gestalten muss, kann hier nicht auseinandergesetzt werden, wo ja überhaupt weder Ort noch Möglichkeit ist, auf die erkenntniskritische Erörterung des Dingbegriffes einzugehen. Hier galt es nur, einige Gesichtspunkte anzudeuten, die das Verständnis eines Standpunktes für diejenigen erleichtern sollten, welche nur zu rasch geneigt sind, sich durch den äusseren Schein der Paradoxie abschrecken zu lassen. Sie werden nun vielleicht doch williger sich in einen Gedankengang einlassen, der ihnen möglicherweise zuerst gar keine Anknüpfungspunkte für ihr „positives“ Denken zu bieten schien, besonders, sobald sie noch bedenken, dass, wenn gewiss, wie Rickert irgendwo sagt, ein innerlich empfundenes Prinzip schon trotzigere Schranke sein kann als Ketten und Mauern, um so mehr also eine Regel des Denkens uns bannen wird, die nicht, wie ein Prinzip, bloss vom Willen gehalten wird, sondern eine Seite unseres Erkennens selbst ist, der wir also gar nicht zu entkommen vermögen. In ihren Schranken uns haltend, muss sie uns eine Welt aufbauen, an deren starrer, uns hart entgegentretender Objektivität wir so wenig zu rütteln vermögen als an der Natur unseres Denkens selbst.

Dies also ist das erste, was wir als richtig an der teleologischen Auffassung betonen müssen, wenn wir auch gleich sehen werden, dass sie an diesem kritischen Grundgedanken eine nicht zu rechtfertigende Umbiegung vornimmt, durch welche sie erst ihren teleologischen Charakter gewinnt: dass die Welt kritisch erfasst gar nicht anders in ihrer Realität – und mit dieser hat es ja gerade die Wissenschaft zu tun – verstanden werden kann, denn als eine Verarbeitung der Masse des im Bewusstsein Gegebenen unter einem grossen System von Regeln des Denkens, weil schon das nächstbeste Ding gar nicht anders widerspruchslos gedacht werden kann wie als eine Regel der Vorstellungsverbindung. [3]

Das zweite aber, was wir als richtig zugestehen müssen, ist, dass wir die Anerkennung der Wahrheit als ein Sollen empfinden. Dagegen wird auf das entschiedenste bestritten:

  1. dass diese Regelhaftigkeit des Denkens als ein Kanon für dasselbe aufgefasst werden könne, also für dieses ein Sollen bedeute;
     
  2. dass die Unterscheidung von Wahr und Falsch selbst, also nicht bloss die Anerkennung des bereits als wahr Erkannten und das Verwerfen des Falschen auf ein solches Sollen zurückführe.

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Fußnoten

1. Freilich darf man dabei diese kritische Grundansicht nicht mit der Verirrung des Solipsismus zusammenwerfen, der den Kritizismus metaphysisch missversteht, wenn er die transzendentale Beziehung alles Erkennens auf ein Erkenntnissubjekt zusammenfallen läisst mit der inhaltlichen Beschlossenheit alles Seins im empirischen Ich, Wie wenig tlie im Text entwickelte Ansicht mit einer solchen Meinung zü tun hat, wird unsere Untersuchung an einer späteren Stelle deutlich erweisen, wenn wir dazu gelangen werden, den isolierenden Schein des empirischen Ichs In einer als transzendental-sozialen erkannten Beziehung auf ein Bewusstsein überhaupt aufzulösen.

2. Vergl. Wilhelm Ostwald, Die Ueberwindung des Wissenschaftlichen Materialismus, Leipzig 1895: „Was erfahren wir denn von der physischen Welt? Offenbar nur das, was uns unsere Sinneswerkzeuge davon 2ukommen lassen. Welches ist aber die Bedingung, damit eines dieser Werkzeuge sich betätigt? Wir mögen die Sache wenden, wie wir wollen, wir finden nichts Gemeinsames als das: die Sinneswerk zeuge reagieren auf Energieunterschiede zwischen ihnen und der Umgebung ... Denken Sie sich, Sie bekämen einen Schlag mit einem Stocke! Was fühlen Sie dann, den Stock oder seine Energie? Die Antwort kann nur eine sein: die Energie. Denn der Stock ist das harmloseste Ding von der Welt, solange er nicht geschwungen wird. Aber wir können uns auch an einem ruhenden Stocke stossen ! Ganz richtig: was wir empfanden, sind, wie schon betont, Unterschiede der Energiezustande gegen unsere Sinnesapparate, und daher ist es gleichgültig, ob sich der Stock gegen uns oder wir gegen den Stock bewegen, Haben aber beide gleiche und gleich- gerichteie Geschwindigkeit, so existiert der Stock für unser Gefühl nicht mehr, denn er kann nicht mit uns in Berührung kommen und einen Energieaustausch bewerkstelligen. Diese Darlegungen zeigen, wie ich hoffe, dass in der Tat alles, was man bisher mit Hilfe der Begriffe Stoff nnd Kraft darzustellen vermochte, und noch viel mehr sich mittelst des Energiebegriffes darstellen lässt.“ Seite 26 und 29.

3. Vergl, Josef Dietzgen, Das Wesen der menschlichen Kopfarbeit, Stuttgart 1903: „Für unsere Sinne ist die Welt ein Mannigfaltiges. Der Kopf fasst sie zusammen als Einheit. Und was von der Welt, gilt von jedem besonderen Teile, Eine sinnliche Einheit ist ein Unding.“ Seite 56 und weiter: „Das allgemeine Streben des Geistes, von den Akzidenzen zur Substanz» vom Relativen zum Absoluten, über den Schein hinaus zur Wahrheit, zur Sache ,an sich^ zu gelangen, offenbart schliesslich das Resultat dieses Strebens, die Substanz, als eine vom Gedanken gesammelte Summe von Akzidenzen und somit den Geist oder den Gedanken als das allein substanzielle Wesen, welches aus sinnlichen Mannigfaltigkeiten geistige Einheiten erschafft, die vergänglichen Dinge oder Eigenschaften der Welt durch Verbindung als ein selbständiges Wesen ,an sich', als absolutes Ganze erfasst.“ Seite 73–74. – Wenn ich gerade an dieser Stelle am liebsten den Proletarierphilosophen Dietzgen zitiert habe, so nicht nur, weil er ein lebendes Beispiel ist, wie wenig die verschrienen Untiefen der Philosophie denjenigen zu schrecken brauchen, der nur willens ist, auf ihren allerdings oft pfadlosen Gewässern sein Denken als Kompass zu benutzen, sondern vor allem ans Gründen eines sachlichen Zusammenhanges. Denn seine nach mannigfachen Richtungen hin sehr merkwürdigen Schriften zeigen nicht etwa bloss in den eben zitierten Stellen ein stufälliges Zusammentreffen mit Gedanken der kritischen Philosophie, sondern enthalten überhaupt zur Gänze oft überraschende Berührungspunkte mit jener Form derselben, welche sie heute in dem positivistischen Kritizismus der Naturwissenschaft (zum Beispiel bei Ernst Mach) angenommen hat. Daher konnte auch schon die schöne Arbeit von Kornelie Huygens über Dietzgens Philosophie (Neue Zeit, XXI 1, Seite 197 ff.) dieselbe mit Recht von allem Materialismus abgrenzen und ihre Beziehungspunkte zu einem spinozistischen Monismus aufzeigen. (Hingegen scheint mir die von Anton Pannekoek der Neuausgabe von Dietzgens Wesen der menschlichen Kopfarbeit vorausgeschickte Einleitung keine zutreffende Würdigung des eigentlichen Charaktertypus sowie der Bedeutung der Dietzgenschen Philosophie zu bieten, von der es gleich der Marxschen so viel wie gar nichts sagen heisst, wenn man sie als materialistisch bezeichnet, während man zugleich zugeben muss, dass dieser Materialismus mit dem gewöhnlich so genannten kaum mehr als den Namen gemein haben dürfte. Wir kommen darauf Im nächsten Kapitel ausführlicher zu sprechen. Auch soll die barocke Art, in welcher Pannekoek in vermeintlicher Anwendung der materialistischen Geschichtsauffassuug die Geschichte der Philosophie als Geschichte des bürgerlichen Denkens darlegen zu können glaubt, hier nicht unwidersprochen bleiben.) Sodann aber ist die Zitierung obiger Stellen hier doppelt am Platze, weil es sich im Dietzgenschen Denken wirklich gleichzeitig um eine Seite des Marxschen Denkens handelt, wobei es, um Marxens Worte zu gebrauchen. (An Dr. Kugelmann, Neue Zeit, XX 2, Seite 381) „trotz einer gewissen Konfusion und zu häufiger Wiederholungen viel Vorzügliches und – als selbständiges Produkt eines Arbeiters – selbst Bewundernswertes enthält“. Die Auffassung des Denkens als eines Naturprozesses unter anderen Naturprozessen, der hierdurch bewirkte monistische Zusammenhang der Welt, welchen gegenüber seiner starren Dinghaftigkeit die Dialektik begreifen hilft, dagegen andererseits die Ordnung und Einheit schaffende Tätigkeit des Geistes und damit der kritische Begriff einer Wissenschaft, die nicht die Natur „abschreibt“, sondern im Denken rekonstruiert – diese Grundgedanken Dietzgens finden sich insgesamt bereits, wie wir zum Teil im nächsten Kapitel sehen werden, als immanente elementare Voraussetzung des logischen und methodologischen Standpunktes von Karl Marx gegeben. An einer anderen Stelle werde ich vielleicht die Auseinanderlegung dieses Teiles der Marxschen Denkweise in der Dietzgenschen Philosophie ausführlicher entwickeln können.


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020