Max Adler

Kausalität und Teleologie

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XII. Die Provenienz
des Zweckbegriffes


Indem sich die Erörterung nun wieder der teleologischen Auffassung zuwendet und sich anschickt, ihr jene Argumente entgegenzustellen, die ihr Unrecht erweisen sollen, wird der vorausgegangene Abschnitt kaum als eine diese Untersuchung hemmende Abschweifung empfunden werden können. Denn wenn es auch wahr ist, was zuvor schon betont wurde, dass Richtigkeit oder Unrichtigkeit seiner Ausführungen über das Verhältnis von Karl Marx zur Erkenntniskritik für den im folgenden gegenüber der Teleologie eingenommenen Standpunkt nicht entscheidend ist, der vielmehr ganz für sich genommen sich behaupten muss und daher auch nur so zu verstehen ist, so erscheint doch die Aufgabe selbst, an die wir jetzt schreiten, um so dringender, nachdem sich herausgestellt hat, dass nicht nur der wissenschaftliche, sondern auch der ihn tragende logisch-kritische Standpunkt von Karl Marx durchaus jener teleologischen Grundansicht entgegen ist, welche diese beiden Gesichtspunkte in sich hineinnehmen will. Wir haben so unsere Ueberzeugung gefestigt, dass es sich im Streit mit ihr tatsächlich um die Verteidigung der Grundlagen des Marxismus auf erkenntniskritischem Gebiete handelt.

Damit ist aber auch von selbst eine notwendige Begrenzung der Arbeit gegeben, dass es nämlich bei dem Versuch einer Widerlegung der teleologischen Auffassung in diesem Zusammenhang unmöglich auf eine Durcharbeitung aller jener Fragen ankommen kann, die wir in dem vorausgeschickten Resum6 über diese Ansicht sich in solcher Fülle aufrollen sahen. Wie gleichfalls bereits bemerkt, werden hier nur die, m. E., entscheidenden Gesichtspunkte bezeichnet werden können, von denen aus eine solche umfassende Durcharbeitung zu einem die entgegenstehende Anschauung aufhebenden Resultat führen dürfte. Denn diese ganze erkenntnistheoretische Erörterung ist hier ja gar nicht Selbstzweck, sondern der notgedrungene Umweg, den wir gehen müssen, um das Wesen der Wissenschaft im allgemeinen und das der Geistessowie Sozialwissenschaften im besonderen festzustellen. Alle eingehende Auseinandersetzung müsste eigentlich diesen Bezug verwischen, während andererseits doch die blosse Skizzierung des Standpunktes und Ganges der Untersuchung gegenüber der teleologischen Auffassung genügt, um von da aus sowohl ihre unmittelbaren Ergebnisse als ihre Tragweite nachzuprüfen.

Ob nun der Autor, der es einmal sich zugemutet hat, in einen theoretischen Streit einzutreten, den ersten Schritt nur zaghaft tut, ist wohl eigentlich durchaus seine Privatsache. Wenn ich dennoch dieses Eingeständnis öffentlich vorbringe, so ist es nicht so sehr der sicherlich für jedes Denken, das sich selbst zwar wert hält, aber doch gleichzeitig bescheidet, kaum zu unterschätzende Umstand, dass es eine der glänzendsten Richtungen der modernen kritischen Philosophie ist, die diese Umbiegung des Erkennens ins Teleologische vollzieht. Auch den vielen grossen Schwierigkeiten der Aufgabe entspringt Jenes Zögern nicht so sehr, als vorerst dem unbehaglichen und befremdenden Eindruck, dass der erste Schritt zur Widerlegung der Ansteht, die wir zu bekämpfen suchen, so überaus einfach und unverkennbar erscheint, – sobald man gefunden hat, wohin er zu richten ist. Es scheint dann ganz unfassbar, dass ein so naheliegender Einwand gegenüber einer so durchdachten Philosophie wirklich ausschlaggebend sein kann; und nur die Besinnung, dass diese Klarheit und Handgreiflichkeit des Einwandes doch selbst erst das Resultat einer mühsamen Sichtung der gegnerischen Ansichten und scharf logischer Scheidung der in ihr durcheinander gehenden ganz heterogenen Standpunkte der Betrachtung ist, beruhigt nicht nur über das anfängliche Befremden, sondern sieht nun die Kraft dieses Einwandes gerade in dieser seiner Einfachheit legitimiert.

Dieser Haupteinwand geht nämlich dahin, dass man alles das, was die teleologische Auffassung «über die unumgängliche Begründung jeder Realität allein durch die formale Gesetzlichkeit des Denkens ausgeführt hat, durchaus anerkennen kann – wie man wohl auch nicht anders wird umhin können – ohne nur irgendwie dadurch genötigt zu sein, die Umbiegung dieser Gesetzlichkeit selbst ins Teleologische, in ein Sollen vornehmen zu müssen. Wir folgen mit lebhaftem Interesse und ungeteilter Zustimmung den in durchsichtiger Klarheit sich entwickelnden Auseinandersetzungen Windelbands und Rickerts, in denen die ganze Erfahrung, auf der alle Wissenschaft ruht, aus der Regelhaftigkeit unseres Erkenntnisvermögens, aus der formalen Aktion des Bewusstseins ihre notwendige und allgemeingültige Bestimmtheit eben als Denknotwendigkeit empfängt. Allein von der so aufgedeckten Funktionalität des Bewusstseins scheint kein anderer als ein Schritt der Willkür dahin zu führen, die in ihr gegründete Denknotwendigkeit, welche eigentlich nur eine andere Bezeichnung für das Sein des Bewusstseins selber ist, als ein Sollen anzusprechen. Es scheint mir schlechterdings kein Grund auffindbar, der diese Umbiegung der Denknotwendigkeit aus einem Wirken des Bewusstseins in ein Sollen für die denkende Betrachtung, ich will nicht einmal sagen, nötig machen, nein, auch nur als naheliegendste vorläufige Annahme berechtigt erscheinen Hesse. Und deshalb trägt diese Lehre, wenigstens, so viel ich sehen kann, den Charakter barer Willkürlichkeit an sich, der freilich so unverhüllt in der gegnerischen Auffassung nicht auftritt, sondern vielmehr durch den Schein sehr bündiger Beweise verdeckt wird. Dass aber überhaupt ein solcher Schein entstehen konnte, hat seinen Grund in einem Umstand, in dem sich erst die eigentliche Bedeutung dieses Einwandes erschliesst, weil er eine der bedenklichsten Lücken im Gefüge des logischen Panzers der teleologischen Auffassung offenbar macht, die, einmal erkannt, geradezu die Grundlage für alle weiteren Ausführungen liefern wird, mit welcher wir ihr entgegentreten werden. Dieser Umstand ist das Durcheinandergehen des theoretischen und praktischen Standpunktes in einer Untersuchung von wesentlich nur erkenntnistheoretischem und logischem Charakter. Durch diese Vermischung allein kommt überhaupt der Zweckbegriff in eine theoretische Erörterung und tritt, insoferne seine Heranziehung zwar nur aus praktischen Gründen gerechtfertigt erscheint, nun gleichwohl infolge dieser Vermischung auch bereits als überhaupt legitimiert auf. Was eigentlich Willkür in der Behauptung ist, solange der theoretische Standpunkt eingehalten wird, scheint es nicht mehr zu sein, weil unversehens die Betrachtung unter den praktischen Gesichtswinkel gebracht wurde, aus dem nun freilich die Dinge anders gesehen werden. Das zeigt sich schon in dem kritischen Grundgedanken dieser Auffassung.

Man erinnere sich, wie Windelband darlegte, dass die Allgemeingültigkeit der Axiome des Erkennens in ihrer Notwendigkeit nicht anders als teleologisch begründet werden könne. Wir wurden ausdrücklich aufmerksam gemacht, dass es, abgesehen von dieser einzigen Möglichkeit, sonst durchaus ein Widersinn sei, die Gültigkeit eines theoretischen Axioms erweisen zu wollen. Nur aus ihrer unentbehrlichen, absolut notwendigen Erforderlichkeit, wenn wahre Erkenntnis zustande kommen soll, ergebe sich erst die eigentliche Begründung ihrer Allgemeingültigkeit, so dass also das Erkennen ebenso teleologisch durch einen obersten Zweck, den Wahrheitszweck, seinen gesetzmässigen Charakter erhält, wie das Wollen durch den Gutheits-, das Gewissen durch den Schönheitszweck. Auf diese Weise vollendete sich die kritische Methode in der teleologischen; und zweifellos stossen wir hier auf den festen Boden, in welchem sich die teleologische Auffassung am sichersten gegründet fühlt.

Wir wollen nun demgegenüber nicht die naheliegende Frage erheben, warum wir denn in aller Welt Wahrheit, Gutheit und Schönheit als oberste Zwecke anerkennen sollen? Denn darauf mag – das sei bis jetzt dahingestellt – die gewöhnlich gegebene Antwort genügend sein, dass jeder, der diese Zwecke sich nicht setzen will, ignoriert werden dürfe wie ein Tier oder Wahnsinniger. Aber eine andere Frage kann nicht in gleicher Weise umgangen werden: Wieso nimmt dies Reich des Allgemeingültigen auf seinen so verschiedenen Gebieten des Wahren, Guten und Schönen überall die gleiche Form, die Zweckgestalt an? Oder anders gewendet: Ich will gar nicht daran zweifeln, dass ich das Wahre, das Gute, das Schöne wollen soll. Aber ich frage, woher kommen uns diese obersten Zwecke? Ist es so selbstverständlich, dass die Aktion des Bewusstseins auch ausserhalb jenes Bereiches, auf dem uns die Form des Zweckes durchaus vertraut ist, dem des Wollens, Zweckcharakter besitzt, so dass diese Frage gar nicht entstehen könnte? Oder ist nicht vielmehr das Gegenteil der Fall, so dass uns der Zweck ausserhalb dieser Sphäre eigentlich durchaus unverständlich wird?

Die Axiome mögen daher immerhin ihre notwendige allgemeine Geltung nur unter der Voraussetzung eines wahren Erkennens als ihres Zweckes haben, so frage ich: Wieso kann ich eine solche Voraussetzung machen, mit welcher ein so komplizierter und dem Denkvorgang so inadäquater Begriff wie der Zweck ungeprüft an die Spitze der Erkenntniskritik tritt, deren Tugend mit Recht von jeher darin erblickt wurde, dass sie voraussetzungslos sei, das heisst, dass sie nicht mehr voraussetzen dürfe als ihren Gegenstand, die blossgelegte Tatsächlichkeit ihrer Probleme?

Es ist gewiss sehr bestechend für die Einheitlichkeit der Auffassung überhaupt, wenn zuletzt auch die Logik mit der Ethik und Aesthetik am selben Strange zieht: dem Menschenzweck. Wenn nur diese Einheit nicht so auffallend einer symmetrischen Konstruktion gliche! In der Tat scheint auch etwas von der alten naiven Teleologie, die für den Menschen alles gruppierte, indem sie überall einen Bezug auf seine Erdenzwecke fand, hier trotz der kritischen Form, in welcher sie jene alte Beschränktheit abgestreift hat, doch insoferne wieder aufzuerstehen, als zuletzt die Welt doch wenigstens um der obersten menschlichen Zwecke des Erkennens, Wollens und Geniessens oder richtiger durch diese Zwecke für uns da sein soll. Statt dass doch die gerade in dieser kritischen Auffassung so stark betonte Tatsache eines unreduzierbaren Restes des Gegebenen, den alles Erkennen bei sich führt und der sich keiner Notwendigkeit fügt, weder der logischen noch der ethischen oder ästhetischen, deutlicher Hinweis wäre, wie zwar diese Welt ganz und gar nur des Menschen Welt ist, aber, weil auch ihm bloss gegeben, weder von ihm als Zweck gesetzt noch in ihrem realen Prozess zu einem solchen zugerichtet, sondern nur, einmal vorhanden, in seinem Denken zu seinem Zweck gemacht werden kann.

Aber allerdings, so wie jegliches Ding in dieser Welt, vermag das Denken dann auch sich selbst in eine teleologische Beziehung zu seinen Inhalten zu bringen, also sich selbst in seiner Art zu funktionieren einer Beurteilung zu unterwerfen, von deren Standpunkt aus sein logischer Charakter – widerspruchslose Einheit der Erkenntnis – als Zweck seiner Aktion gegenüber einem bestimmten Erfahrungsstoffe erscheint. Dann tritt also freilich auch hier ein Zweck auf, der aber ein Zweck im Denken ist und hervorgeht aus einer Auffassung desselben als eines Mittels zum Erwerb inhaltlicher Wahrheit, somit aus einer Auffassung, deren Grundlagen, wie wir gleich sehen werden, nicht mehr der theoretischen, sondern der praktischen Sphäre des Bewusstseins angehören. Hütet man sich aber, den Standpunkt einer praktischen Beurteilung des Denkens ohne weiteres mit dem theoretischen zusammenfliessen zu lassen, der allein jener der Kritik des theoretischen Vermögens unseres Bewusstseins sein muss, dann kann das Denken nur losgelöst von jener praktischen Beziehung auf den Wahrheitszweck als eigentliches Objekt erkenntnistheoretischer Untersuchung in Betracht kommen, obwohl zuzugeben ist, ja nicht einmal übersehen werden darf, dass es in dieser Isolierung nirgends anders als in der zum Behuf der Erkenntnistheorie vorgenommenen Abstraktion vorkommt.

Also wird auch die Erkenntnistheorie zwar nicht vergessen dürfen, dass sie mit der kritischen Erörterung des theoretischen Verhaltens des Bewusstseins noch lange nicht dessen ganzes Wesen erschöpft hat; sie wird bereitwilligst ihre Erkenntnis, die sie über diese eine Seite des Bewusstseins gewonnen hat, ergänzen und vervollkommnen aus der durch die praktische Philosophie verschaffen Erkenntnis seiner anderen Seiten. Aber um überhaupt nach jeder dieser besonderen Richtungen hin irgendwelche sichere Einsichten zu gewinnen, muss die Untersuchung für Jedes einzelne Gebiet den ihm charakteristischen Standpunkt ausschliesslich festhalten. Das im politischen Leben so mächtige „Divide et impera“ gilt auch im theoretischen Bereiche: nur durch die Vielheit der vor der Abstraktion gelieferten Standpunkte zur einseitigen Betrachtung der Dinge kann die Totalität ihrer Vielseitigkeit theoretisch überhaupt bewältigt werden.

So wird gewiss auch uns der praktische Zug des Erkennens noch besonders interessieren. Aber zuvor ist es nötig, ihn für die erkenntnistheoretische Betrachtung ganz auszuschalten und sich deutlich zu machen, dass diese, ohne willkürlich zu werden, als ihr Objekt nichts anderes voraussetzen darf als die reine Gegebenheit des Bewusstseins in seiner spezifischen Funktion, also das Sein, oder besser gesagt, die Aktion des Bewusstseins. Die in der Allgemeingültigkeit der theoretischen Axiome sich dokumentierende Denknotwendigkeit, – das ist der Tatbestand der Erkenntnistheorie, welcher ihr aufgegeben ist. Dagegen diese Denknotwendigkeit für ein Sollen ausgeben, die Axiome demnach nur als unentbehrliche Mittel zu einem von diesem transzendentalen Sollen gesetzten Zweck verstehen, das ist voraussetzungsvollste Deutung jenes Tatbestandes und im Grunde nur eine kompliziertere Wiederholung des erkenntniskritischen Problems, ein verwirrendes idem per idem. Denn die absolute Setzung des Wahrheitszweckes als kritische Grundlage wahrer Erkenntnis überhaupt kann, da sie doch auf kritischem Boden gewiss nicht als Ausfluss eines metaphysischen Prinzips verstanden sein will, als Autonomie im analogen Sinne, wie die des Sittengesetzes dagegen gar nicht als bestehend aufzuzeigen ist (was freilich erst später nachgewiesen werden kann), nichts anderes bedeuten als einen anderen Ausdruck für das Dasein der ihrer Eigenart nach erst noch zu bestimmenden Funktionalität, Gesetzlichkeit des Denkens selbst. Ob Jene Deutung berechtigt ist oder nicht, ergibt sich also allererst aus der Antwort auf die vorige Frage, zu der wir uns wieder zurückgeführt sehen: woher ich Wahrheit als Zweck habe?

Und das ist keine müssige Frage, die einfach mit dem Hinweis darauf erledigt werden kann, wie es etwa bei Windelband geschieht, dass wir in unserem Bewusstsein die Geltung der Axiome doch in „unmittelbarer Evidenz“ vorfinden. Es geht nicht an, mit Bezug darauf zu sagen, dass wir also den Wahrheitszweck in der sichersten Ueberzeugung unseres Inneren einfach haben. Denn was wir allerdings in unmittelbarer Evidenz des Bewusstseins haben, das ist einzig und allein bloss der Anspruch der Allgemeingültigkeit in allen Betätigungsweisen des Bewusstseins, nicht aber, dass wir uns ebenso in allen damit auf Zwecke beziehen. Dies letztere ist uns unmittelbar nur im Gebiete des Wollens evident, darüber hinaus aber kein ursprünglicher Besitz unseres Bewusstseins mehr, sondern eine Schlussfolgerung des Denkens, die sich daher wohl oder übel mit Gründen wird ausweisen müssen.

Gewiss kann die unmittelbare Evidenz der Allgemeingültigkeit in ihren verschiedenen Erscheinungsweisen unseres Bewusstseins als logische, ethische und ästhetische Allgemeingültigkeit in keiner Weise erklärt oder bewiesen, sondern eben von der denkenden Betrachtung nur aufgenommen werden. Aber das gilt nur von diesem Charakter der Allgemeingültigkeit des Bewusstseins selbst, nicht auch von den Axiomen und Normen, in welche sich die spezifische Allgemeingültigkeit zerlegt. Ist daher erst der Charakter der Allgemeingültigkeit in ihren verschiedenen Gebieten aus der Beschaffenheit der jeweiligen Aktion des Bewusstseins, um die es sich gerade handelt, aufgezeigt, beschrieben, dargelegt, so erklären sich dann die Axiome in ihrer Geltung aus ihm und vermögen so auch durch Aufdeckung ihres Zusammenhanges mit ihm bewiesen zu werden.

Sobald daher die Axiome des Erkennens als Normen im selben Sinne wie die der Ethik hingestellt werden, nur dass sie hier im Dienste nicht eines praktischen, sondern eines theoretischen, des Wahrheitszweckes, stehen, so genügt es nicht, sich darauf zu stützen, dass doch das Streben nach Wahrheit eine unerschütterliche Tatsache unseres geistigen Wesens sei. Denn zunächst wäre dagegen aufmerksam zu machen, was wir zwar erst später werden genauer darlegen können, aber schon jetzt als hoch bedeutsamer Richtpunkt nicht übersehen werden sollte, dass auch hier Zweierlei unter dem einen Begriff des Wahrheitsstrebens ineinanderfliesst, nämlich die theoretische Scheidung des Falschen und Richtigen im Urteil überhaupt und die praktische Anforderung an das fremde Denken, das bei sich im eigenen Denken als wahr Erkannte gleichfalls anzuerkennen. Allein auch abgesehen von dieser sehr folgenschweren, die ganze Urteilstheorie Windelbands tragenden Unbestimmtheit des Wahrheitsbegriffes, blieben wir mit jener Berufung auf das fundamentale Wahrheitsstreben immer noch im praktischen Bereiche, wo es gar kein Wunder ist, dass wir auf Zweckbeziehung stossen. Nur wenn aus der spezifischen Eigenart der als „wahr“ bezeichneten Allgemeingültigkeit in ihrer rein theoretischen, in solcher Reinheit sich nur der strengsten Abstraktion darbietenden Gestalt des Erkennens auch jetzt noch der Zweck hervorspringt, dann wäre die Zweckbeziehung selbst als Charakterzug auch des theoretischen Verhaltens unseres Bewusstseins aufgezeigt. Eine solche Darlegung ist aber – das wird sich im Fortgange unserer Erörterung schrittweise bestätigen – gar nicht einmal möglich vom Standpunkte der gegnerischen Auffassung, die bewusstermassen diese abstrakte Heraushebung des rein theoretischen Problems des Erkennens gar nicht vorzunehmen gewillt ist, weil sie, überwältigt von der an sich grossen Entdeckung, wie reichen Anteil das praktische Verhalten des Menschen an dem Prozess der inhaltlichen Wahrheitserwerbung habe, der Meinung zugeführt wurde, nur in der Vereinigung beider Gesichtspunkte, des theoretischen und praktischen, die richtige Stellung für die umfassende Lösung ihres Problems genommen zu haben.

Aber Vereinigung der Standpunkte ist noch immer nicht Begründung solch theoretischen Vorgehens. Und insolange daher die Zweckbeziehung aus dem Charakter des theoretischen Bewusstseins selbst nicht zutage gefördert wurde, bleibt die Frage bestehen, woher denn in aller Welt der Zweckbegriff, den es in seiner eigenen Sphäre nicht findet, ihm anfliegen konnte. Da ist es denn gerade der Vorwurf, dass die Frage, woher und wieso wir die obersten Zwecke des Bewusstseins haben, eine müssige sei, der uns rasch zur gesuchten Antwort führt. Denn diese Frage ist allerdings eine müssige auf ethischem (praktischem) Gebiete, auf dem Gebiete des Wollens. Und die ganze Kraft der mit dem Wahrheitszweck als grundlegenden kritischen Begriff operierenden Beweisführung der teleologischen Auffassung des Erkennens beruht zu einem sehr grossen Teil darauf, dass durch eine stillschweigende Gleichsetzung der ethischen mit der theoretischen Allgemeingültigkeit die dort gar nicht in Frage zu stellenden Konsequenzen aus der ersteren auch auf die letztere übertragen werden. Auf dem Gebiete des praktischen Verhaltens des Menschen kann naturgemäss die Frage gar nicht aufkommen, wieso die hier waltende Allgemeingültigkeit der Normen Zweckgestalt annehme, da ja ihr Substrat zwecksetzendes Wollen ist. Eine Gesetzmässigkeit des Wollens kann immer nur eine solche des Zweckes sein; jene andere, oft auch sogenannte Determination des Wollens ist ja nur eine Gesetzmässigkeit des Geschehens. Wollen und Zweckwollen ist ein und dasselbe, ein Wollen als leerer Drang nichts mehr als eine Abstraktion der Psychologie, mit welcher die Erkenntnistheorie sicher auf unrechtem Wege wäre. Hier also, im praktischen Gebiete, ist der Zweckbegriff autochthon, hier ist er, an die Spitze der kritischen Untersuchung gestellt, nur die bloss tatsächliche Voraussetzung des Gegenstandes der Erörterung, somit eine berechtigte, weil notwendige Voraussetzung.

Wenn es sich nun vielleicht so verhielte, dass auf den Gebieten der anderen Formen der Allgemeingültigkeit des Bewusstseins, also der ästhetischen und, worauf es uns hier besonders ankommt, der logischen, gewisse Erscheinungsweisen derselben, ja vielleicht ihre ganze historische, also bei der letzteren in der Form der Geschichte der Wissenschaften sich entwickelnde Gestalt in den praktischen Bereich fiele, so wäre es erklärlich, wieso ein nur in diesem heimischer Begriff, der Zweckbegriff, dennoch auf jene Formen selbst Anwendung finden konnte und so die eigenartige Verbindung des theoretischen mit dem praktischen Standpunkte ermöglichte, zumal noch dazu die bereits berührte Unklarheit eines zwieschlächtigen Wahrheitsbegriffes einer Urteilstheorie mit neuen Argumenten zustatten zu kommen schien, die zu dem gleichen Resultate gelangte. Und diese blosse Möglichkeit gewinnt an Wirklichkeitswert, wenn wir bedenken, dass die Allgemeingültigkeit der Wahrheit und Schönheit ihren ganzen Inhalt ja tatsächlich erst unter Menschen entfalten kann, also erst, sobald sie das empirische Einzelbewusstsein überschritten und unter einer Vielheit von solchen Bewusstseinszentren wirksam geworden ist. Alles aber, was in ein Verhalten einer Vielheit von Subjekten eingeht, wird damit auch sofort Gegenstand der das gegenseitige Verhalten einer solchen bestimmenden, es zu einer Einheit verschmelzenden ethischen (praktischen) Gesetzmässigkeit. Die weitere Entwicklung der vorliegenden Untersuchung wird diese blosse Vermutung hoffentlich mit sehr realen Gründen rechtfertigen. Ueberhaupt muss ich bemerken, dass dieses Kapitel erst durch das im nachfolgenden Ausgeführte ebenso seine notwendige Erläuterung wie etwa noch fehlende Begründung finden kann. Dies rührt daher, dass hier bereits einige Ergebnisse der künftigen Erörterung vorweggenommen werden mussten, um die ganze Richtung unserer Darlegung besser kenntlich zu machen und ihren Leitgedanken voranstellen zu lassen, als welcher sich wohl einstweilen schon für akkreditiert halten wird dürfen und folgendermassen ausgedrückt sei:

dass die teleologische Auffassung ihren Grundbegriff, den Zweck, ohne Legitimation über jenes Gebiet hinaus anwendet, aus dem sie ihn allein holen konnte, dem ethischen, und dies nur vermöge einer ihr nicht in prinzipieller Unterschiedenheit klar gewordenen Trennung des allerdings auch im theoretischen Erkennen enthaltenen praktischen Elementes, wodurch sie schliesslich noch verhindert wird, einen eindeutigen Begriff der Wahrheit selbst zu gewinnen, in dessen Handhabung sie vielmehr unausgesetzt zwischen einem logischen und praktischen Gebrauche desselben schwankt.


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020