Max Adler

Kausalität und Teleologie

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XVIII. Das logische Gewissen


Nach allem Vorausgegangenen wird nun die Frage wohl kaum noch Schwierigkeiten bereiten, woher denn trotzdem die Möglichkeit eines Sollens auch im Gebiete des theoretischen Verhaltens rühre? Sie ist eigentlich bereits beantwortet und es bedarf nunmehr nur, in einer grösseren Uebersichtlichkeit die mehrfachen zu einer klaren Antwort leitenden Ansätze auch in einer ausdrücklichen Darstellung entwickelt und zusammengefasst zu sehen. Das Sollen, welches sich auch im Denken mit seinen Forderungen an uns wendet und dem wir bereits mehrfach bei der erkenntnistheoretischen Untersuchung des Denkens begegnet sind, fanden wir gleichzeitig nirgends in der eigenen Gesetzlichkeit des Denkens begründet, sondern überall aus einer anderen Sphäre des Bewusstseins, aus der beurteilenden in die des urteilenden hineinragen. Wir erkannten die Möglichkeit dieses Vorganges darin, dass diese Beurteilung sich stets auf den jeweiligen Inhalt der Denknotwendigkeit bezog, sobald sie als Glied eines möglichen Gedankenaustausches betrachtet wurde und in diesem Zusammenhange kraft eigener Denknotwendigkeit den Anspruch erhob, im Denken des anderen bekannt zu werden. Damit gelangt der ganze bisher bloss logische Denkprozess in den sozialpraktischen Bereich des Wollens und Handelns, womit er freilich auch sofort der für beide bestehenden Gesetzlichkeit unterliegt: dem sittlichen Gesetze. Und so ist das im Theoretischen auftretende Sollen nicht eine ihm eigene Gesetzlichkeit, sondern gar nichts anderes als die allgemeine ethische Beurteilung, hier angewendet auf einen besonderen Fall, den Prozess der Wahrheitsgewinnung, wie er sich nur durch die unzähligen im Wahrheitsstreben der einzelnen gesetzten und aufeinander wirkenden Denkhandlungen vollzieht.

Diese völlige Klarheit stiftende Rückführung des Sollens im intellektuellen Gebiete auf die moralische Wertung desselben wird nun überdies noch aus einem Phänomen erst ganz unverkennbar, welches die teleologische Auffassung gerade als ein durchaus für sie spezifisches hervorhebt und worin sie in tadelloser Analogie zum sittlichen Gebiet einen erdrückenden Beweis für ihre Deutung des Erkenntnisproblems gefunden zu haben glaubt, aus dem Phänomen des sogenannten intellektuellen Gewissens. Sehen wir zu, ob sich die Analogie in diesem allerdings entscheidenden Punkte wirklich haltbarer erweisen wird, ah wir sie früher befunden haben.

Schon Windelband schrieb: „Für den reifen Kulturmenschen gibt es nicht nur ein sittliches, sondern auch ein logisches und ein ästhetisches Gewissen ... er kennt, wie für sein Wollen und Handeln, so auch für sein Denken und Fühlen eine Pflicht, und er weiss, er empfindet mit Schmerz und Beschämung, wie oft der naturnotwendige Lauf seines inneren Lebens diese Pflichten verletzt.“ [1] Ja, weil den Verletzungen des logischen Gewissens kein direkt fühlbarer Nachteil, keine bürgerliche Strafe oder religiöse Drohung folgt, so darf man sagen, dass hier das blosse Bewusstsein, einem Gebot unterworfen zu sein, wirke und also das logische Gewissen noch feiner zum Ausdruck komme wie das sittliche. Noch stärker hat Rickert diesen Gedanken eines logischen Gewissens herausgearbeitet. Indem er das Erkennen in einem transzendenten Sollen gegründet fand, gelangt er ganz konsequent dazu, auszusprechen, dass hiermit der Begriff eines wertenden Erkenntnissubjekts als letzte Voraussetzung der Erkenntnistheorie gegeben sei, und zwar eines derart wertenden Subjekts, dem dieses Sollen ein „kategorischer Imperativ“ ist, so „dass auf dem voraussetzungslosesten Standpunkt, der für den nach Wahrheit suchenden Menschen mögüch ist, es noch eine objektiv gültige Pflicht gibt“. [2] Diese Pflicht geht auf eine freie Anerkennung des Wahrheitswertes, wodurch das Streben nach Erkenntnis erst Sinn erhält. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist das „Urteilen, welches im Dienste der Wahrheit steht, nur eine besondere Art des pflichtmässigen Handelns“, und der Wert der Wahrheit selbst, somit alles logische Denken, beruht durchaus auf dem Begriff der Pflicht, das heisst auf einem überlogischen Willen, welcher ein Sollen um seiner selbst willen anerkennt, nicht anders wie auf sittlichem Boden. [3]

Was nun hier die Situation ausserordentlich verwirrt, das ist, dass die teleologische Auffassung an diesem Punkte zu ihrer besonderen Tugend macht, was doch ihr Hauptfehler ist, indem sie gerade in dem, worin der Springquell ihres Irrtums gelegen ist, eine ihr aufgegangene wertvolle Erkenntnis erbückt. Wie nämlich schon Windelband in seiner Urteilstheorie die Komplexität des theoretischen und praktischen Charakters im einzelnen Urteilsakt bewusstermassen nicht zum Ausgangspunkt einer methodischen Scheidung für die Erkenntnistheorie genommen hat, sondern in Einheit belassen hat, was doch nur psychologisch geeint war (siehe Seite 332), so hören wir auch hiervon Rickert es als eine Maxime der – Erkenntnistheorie aussprechen, dass wir den wollenden und erkennenden Menschen nicht mehr in solchen Gegensatz zueinander bringen können, als ob beide gar nichts miteinander gemein hätten, sondern dass die theoretische und die praktische Seite nur als zwei verschiedene Arten der Aeusserung seines Pflichtbewusstseins sich darstellen. Wir aber legen gerade darauf den grössten Nachdruck, dass nur in der scharfen Trennung des wollenden und erkennenden Menschen zum Behufe der Erkenntnistheorie es dieser überhaupt möglich wird, ihre Aufgaben einer Lösung näher zu bringen, und dass die Folgerung Rickerts, der freilich zuletzt den Unterschied zwischen dem er- kennenden und wollenden Menschen immer mehr schwinden sieht, nur dadurch möglich wurde, weil seine Theorie des Erkennens eben von allem Anfang an wesentliche nur dem Wollen angehörige Charakterzüge als solche des Denkens, des Erkennens beibehalten hat. Dies hat ja die vorausgegangene Erörterung hoffentlich zur Genüge begründet, und dies erlaubt uns, jetzt auch das „logische Gewissen“ und das intellektuelle Pflichtbewusstsein dorthin zu verweisen, wohin es ganz und gar gehört, in die moralische Gewissensbeurteilung des an sich völlig amoralischen logischen Denkens.

Damit soll gesagt sein: wenn das logische Gewissen, wie wenigstens bei Windelband, verstanden werden soll als eine dem ethischen nur gleichartige, doch dem Denken eigentümliche innere Stimme, die ein besonderes Sollen des Denkens verkündet, so ist dies eine durch nichts ausser durch eine Verrückung des Standpunktes vom logischen ins praktische Gebiet begründete Konstruktion; wenn es aber so zu verstehen wäre, dass es als ethisches Pflichtbewusstsein auch zum Grund des Wahrheitswertes gemacht wird, wie Rickert dies tut, so unterläuft hier wieder die schon bekannte Verwechslung des inhaltlichen mit dem formalen Wahrheitscharakter. Beides lässt sich nun leicht erhärten, soweit es nicht ohnedem schon aus den bisherigen Ergebnissen unserer Untersuchung einleuchtend geworden ist.

Wir sahen, wie die inhaltliche Wahrheit eine bestimmte historische Gedankenverbindung ist, die in diesem bestimmten Individuum im Zusammenhange aller seiner sonstigen Erfahrungen in keiner anderen Verbindung gedacht werden kann. Dabei spaltete sich der Wahrheitsbegriff in diesen historisch wechselnden Inhalt und in dessen Art, im Denken verbunden zu sein, aus deren in der gesetzlichen Aktion des Bewusstseins bedingten formalen Beständigkeit und Gleichartigkeit eben erst in jedermanns Denken dem historisch wechselnden Inhalt der Charakter der Wahrheit verliehen wurde. Wir sahen dann weiter, wie die Geschlossenheit der Denknotwendigkeit in ihrem jeweiligen Inhalte fortwährender Beunruhigung ausgesetzt ist, sowohl durch das eigene Erfahren und daran sich schliessende Nachdenken als auch durch den Meinungsaustausch. Sobald in dem so bedingten fortwährenden Wechsel des Denkinhaltes irgend eine neue Lagebeziehung seiner Teile entsteht oder eine Bereicherung seines Bestandes bewirkt wird: kurz, sobald entweder neue leitende Gedanken oder neue Erfahrungen auftreten, kann es geschehen, dass die bisherige Verbindung der Gedanken unfähig ist, das neu aufgefundene Gedankenglied in sich aufzunehmen, dass sie also angesichts desselben nicht mehr gedacht werden kann. Das Denken gerät in Bewegung, bis es seinen Inhalt in eine denknotwendige Beziehung gebracht hat, und so erkannten wir die sogenannte Einheit des Denkens nicht als ein Gebot, dem es zustrebt, sondern als eine Formel seines Gleichgewichtes, als formale Bedingung der Erfassung seines jeweiligen Inhaltes; denn das Denken ist ja gar nicht anders möglich, als durch Einheit seines Inhaltes unter den besonderen empirischen Bedingungen des denkenden Menschenkopfes. Solange ihm diese Einheit fehlt, denkt er eben die ausser der Einheit liegende Qualität noch gar nicht; er bezweifelt, ignoriert sie wohl gar, oder er ist von ihr überwältigt, betet sie an in stupider Furcht oder gedankenloser Bewunderung: kurz, er nimmt alle möglichen Arten affektiven Verhaltens gegen sie ein, nur die eine nicht, welche der Gesetzlichkeit des Denkens, der Denknotwendigkeit entspricht, dass er sie, wenn auch nur auf seine Weise, verstünde.

Aber freilich haben wir auch das gesehen, dass diese Einheit des Denkens, welche die formale Bestandmöglichkeit der neuen Wahrheit ist, für das Einzeldenken oft erst das Resultat einer langen Arbeit oder, was uns hier ebenso interessiert, eines langwierigen Streites der Meinungen ist, denen beiden es dann als schliesslich zu erreichendes Ziel vorschwebt. Beidemale ist aber dann das Denken als zwecksetzendes Handeln betrachtet, also als etwas durchaus verschiedenes von dem, was die Erkenntnistheorie im Auge hatte. Diese ging nur auf das Resultat des zeitlich verlaufenden Denkprozesses, in welchem derselbe zur Ruhe kommt: die für wahr gehaltene Erkenntnis. Jetzt aber wird dieser Prozess selbst betrachtet in seiner auf dieses Resultat erst hinarbeitenden Aktivität: also das Streben nach der für wahr zu haltenden Erkenntnis. Und dieses Streben unterliegt nun wie Jedes andere praktische Verhalten der ethischen Beurteilung.

Sicher hat die teleologische Auffassung recht, wenn sie den Anteil des praktischen Verhaltens am Erkennen so scharf herausarbeitet; nur setzt sie damit am unrechten Punkt ein. Die Natur und die Gesetzlichkeit des theoretischen Erkennens klar aufzudecken, muss man dasselbe erst rein konstruieren. Dann erst ist die Besinnung am Platze, an die auch wir jetzt anknüpfen, dass alles theoretische Erkennen, wie schon die unmittelbare, naive Erfahrung eine unbewusste, so das methodisch geleitete Erkennen und Forschen eine bewusste Tathandlung ist. Das heist im Grunde nichts anderes, als dass uns das Erkennen nicht anfliegt wie eine Krankheit, sondern dass es sich nur in einem historischen Prozess vollzieht, der durch das tätige Verhalten der Menschen verläuft. Und nur wegen der alles Tun ergreifenden und vor ihr Forum ziehenden Bedeutung des moralischen Standpunktes, die, wie sie alles Wollen, dem das Tun entspringt, so auch das Wollen der Wahrheit umfasst, fällt auch deren Gebiet unter das Sollen der ethischen Gesetzgebung.

Nicht also der Wahrheitscharakter des Denkens selbst entspringt einem obersten Gebote, zufolge dessen Wahrheit absoluter Zweck sein soll, sondern nur, wie sich in der Tathandlung, durch welche die Denknotwendigkeit in ihrer inhaltlichen Gestalt bewusst erworben, erhalten oder umgeändert wird, der einzelne benimmt, kurz, das Verhalten des Erkennenden wird wie jedes andere Verhalten Gegenstand der moralischen Beurteilung und erfährt die Anforderungen ihres Sollens, welches er freilich, da es sich eben auf ein Verhalten in theoretischen Dingen bezieht, nur zu leicht mit der logischen Natur dieser selbst vermischt. Vortrefflich hat diesen eigentlichen und unverwischbaren ethischen Charakter des Sollens im intellektuellen Gebiet die Volksdichtung ausgedrückt:

Wer die Wahrheit weiss und saget sie nicht,
Der ist fürwahr ein erbärmlicher Wicht!

Erst das Sagen, das Tun bringt die Wertung an den Denkprozess heran. Gewiss ist also das in den Dienst der Wahrheit gestellte Urteilen eine pflichtbewusste Handlung, aber nicht zufolge eines ganz missdeuteten Primates der praktischen Vernunft über die theoretische, so dass etwa auch der logisch formale Begriff der Wahrheit erst durch eine transzendente, pflichtmässig erfolgende Anerkennung eines obersten Wahrheitszweckes zustande käme, sondern einfach weil der Wahrheit die Ehre geben nichts anderes als die moralische Pflicht bedeutet, das, was man bei sich nicht anders denken kann, auch, wo es darauf ankommt, auszusprechen, das heisst durch seine Tat zu bekennen. Wo es darauf ankommt – das ist eben auf dem Gebiete des Erkennens, der Wissenschaft. Denn hier wird ja nichts anderes durch alles so mühsame Tun zu bewerkstelligen gesucht als die immer grössere Abrundung und Vollendung inhaltlicher Wahrheit. Das bewusste Nicht-So-Urteilen-Wollen, wie es die eingesehenen Prämissen im eigenen Denken verlangen, erfährt eine allgemeine ethische Missbilligung, weil es hier direkt einer besonderen Pflichtverletzung auf einem bestimmten Gebiet des Handelns gleichkommt. Die innere Unruhe, die wir selbst empfinden, wenn wir im wissenschaftlichen Streite etwas behaupten, dessen Unrichtigkeit wir selbst einsehen oder dessen logischer Widersinn uns eben bewiesen wurde, ist daher keine Mahnung eines besonderen intellektuellen Gewissens, sondern ganz dieselbe moralische Gewissensunruhe, wie sie den Lügner quält. Darüber ist wohl kein Zweifel, dass das Gebot: „Du sollst nicht lügen“ ein sittliches ist und seine Sanktion nur im moralischen Gewissen findet. Es ist aber im Grunde gar kein anderes Gebot als dieses, das auch in dem vermeintlich so eigenartigen Phänomen des logischen Gewissens, des theoretischen Pflichtbewusstseins wirkt. „Du sollst nicht lügen“ aus der Sphäre des Aussagens im täglichen Verkehr in die Sphäre der Urteilsfällung im theoretischen Arbeitsprozess versetzt, lautet nun: du sollst nicht bewusst am Widerspruch, an der Denkunmöglichkeit festhalten wollen, du sollst nicht als eine Wahrheit behaupten, was dir selbst doch so zu denken unmöglich ist, oder – wo dann noch besser der ethische Charakter dieser Forderung hervortritt – du sollst nicht blosse Worte machen, also anders reden, als du wirklich denken kannst.

Es ist also sicherlich das Denken in jeder Faser seines Inhaltes unzertrennlich von einer Wertung und kann demgemäss den Anforderungen eines Sollens nirgends entrinnen. Aber diese Wertung ist eine ethische und setzt, weit entfernt den Wahrheitsbegriff erst zu konstituieren, diesen vielmehr voraus. Sie hat es nur mit der Stellungnahme zu tun, die der Wille des erkennenden Subjekts zu diesem Wahrheitsbegriff einnimmt, das heisst mit der Bereitwilligkeit des erkennenden Wesens, sein Handeln mit seinem Denken in Uebereinstimmung zu bringen.

Diese ethische Anforderung aber, der Wahrheit auch Ausdruck zu geben, sie also zu bekennen, resultiert daher – und damit vollendet sich, wie ich glaube, die Ablehnung eines teleologischen Charakters der Denknotwendigkeit – weil die Wahrheit in ihrem historischen Sinn, das heisst also die Idee eines jeweils festgestellten Systems inhaltlich wahrer Erkenntnis für uns einen moralischen Wert hat. Zwar gibt es kein moralisches Gebot, das überhaupt nach Erkenntnis streben hiesse. Auch hierin zeigt sich der wertfreie Charakter der Erkenntnis in ihrer rein logischen Qualität betrachtet. Die moralische Schätzung setzt aber sofort ein, sobald nach Erkenntnis gestrebt wird, das heisst sobald über das blosse fortwährende Erfahren hinaus, wie es der Lebensverlauf mit sich bringt, das Zustandebringen einer methodischen Erfahrung bewusst herbeizuführen gesucht wird. Den Willen zu dieser Erfahrung also vorausgesetzt, erscheint sofort nunmehr das System der inhaltlichen Wahrheit als ein sittliches Gut, weil sie als die äusserlich kundgegebene Uebereinstimmung mit der jeweiligen inneren Denknotwendigkeit das einzige Mittel ist, auch die durcheinandergehenden Meinungen und Urteile der Menschen in jene Einheit einer Gemeinschaft frei wollender, das heisst sich selbst gleich beschränkender Menschen einzufügen, wie es bezüglich aller übrigen Handlungen das moralische Ideal, das Sittengesetz verlangt. Und wie so die inhaltliche Wahrheit ein ethisches Gut wird, so muss nun auch ein Unterschied im theoretischen Verhalten gemacht werden, der, solange wir nur das erkenntnistheoretisch-logische Gebiet im Auge hatten, also Möglichkeit und Geltungsanspruch des Wahrheitscharakters überhaupt, zu machen ganz unmöglich war. Denn nun wird ein solches theoretisches Verhalten wertvoll erscheinen, in welchem der konstante Wille besteht, der Denknotwendigkeit auch im Aussprechen, im mitgeteilten Urteil, kurz also im Handeln, in der wissenschaftlichen Tätigkeit gegenüber jeglichen entgegengesetzten oder hemmenden Instinkten unbedingte Geltung zu verschaffen. Nun erst, also im historisch-sozialen Produktionsprozess der Wahrheit wird das Urteilen eine pflichtgemässe Handlung. Und gerade weil das Urteil seinem logischen Charakter nach gar nicht verlangt nach einer Mitteilung – wenn auch psychologisch das Aufkommen isolierter Urteile ganz undenkbar ist, – deutet auch der Umstand, dass die Attribute eines Verlangens nach Anerkennung und eines Strebens nach Verwerfung oder Missbilligung im Urteil erst von dem mitgeteilten Urteil einen Sinn haben und durchaus das Aufnehmen dieses Urteils durch das urteilende Denken anderer voraussetzen darauf hin, dass alle diese Wertphänomene nichts mit dem formalen Charakter der Wahrheit zu tun haben, sondern sich ganz und gar nur auf die Beurteilung des tätigen Verhaltens der Menschen zueinander in ihrer gemeinsamen Arbeit am Inhalt der Wahrheit beziehen.

Nicht also unterscheiden wir erst durch eine Wertbeziehung Wahres vom Falschen, sondern umgekehrt, was zufolge der Denknotwendigkeit jeweils für den entwickelten Geist einer Zeit ein System des Wahren bildet, weil es mit den geistigen Mitteln dieser Zeit nicht anders gedacht werden kann und was als solches gänzlich von jeder Wertbeziehung frei ist, das gewinnt nun unter dem Gesichtspunkt des Wollens, also als ein Ziel menschlichen Handelns betrachtet, selbst ethischen Wert. Und weil diese ethische Wertung noch überdies nicht etwa eine höchst sublime sittliche Anforderung darstellt, sondern im Gegenteil im wirklichen Lebensprozess sich ebenso als psychologische wie als biologische Notwendigkeit geradezu aufdrängt, das heisst weil der Fortschritt zum Streben nach Wissen durchaus notwendig ist, um dem Kampf ums Dasein als Individuum und als Gattung immer besser zu bestehen, so eint sich mit der moralischen die biologische Auffassung zu dem fast wie eine Selbstverständlichkeit anmutenden Resultate, das wahre Erkennen als das schlechthin Wertvolle, als einen absoluten Zweck zu schätzen. [4] Es bedarf dann einiger logischer Anstrengung, um dem gegenüber sowohl den ethischen als insbesonders den rein logischen Tatbestand des Erkennens wieder herzustellen, von welch letzterem nun wohl mit Recht behauptet werden darf: dass ihm in seiner eigenen Sphäre jede wie immer geartete Wertbeziehung durchaus fremd ist. Hier gibt es nur Denknotwendigkeit im Sinne eines So-denken-Könnens und Widerspruch im Sinne eines gar Nicht-mehr-denken-Könnens.

Und daraus folgt nun weiter: alle inhaltliche Wahrheit ist ein historischer Prozess, der sich vollzieht durch die Kraft des Widerspruches, das heisst des Nicht-mehr-so-denken-Könnens wie bisher, und der sozial wird durch die Verbundenheit aller geistigen Arbeit in einem Bewusstsein überhaupt. Den besonderen Charakter eines inhaltlichen Wahrheitswertes, der als solcher anzustreben ist, erlangt er aber nur dadurch, weil die Herstellung einer Uebereinstimmung zwischen dem Denken und Tun unter den Menschen eine unumgängliche sittliche Forderung ist. Der inhaltliche Begriff der Wahrheit – und er ist der gewöhnliche, der vornehmlich gemeint wird, wenn von der Wahrheit die Rede geht – ist also, wie wir es zuerst noch als Paradoxie bezeichneten – tatsächlich nicht so sehr ein logischer als ein historisch-ethischer Begriff, ein Begriff, der als solcher gar nicht Objekt der Theorie und Kritik des Erkennens, sondern Gegenstand der Methodologie ist – kurz, er ist ein praktischer Begriff. [5] Das, worauf die teleologische Auffassung ihre Deutung der Denknotwendigkeit als eines Sollens gründen wollte, die Polarität der Unterscheidung von Wahr und Falsch, ist im reinen Tatbestand des Erkennens gar nicht gegeben. Hier besteht, wie wir sahen (vergl. Seite 392), durchaus nur Einheit des Denkens, die gar keinen Gegensatz hat, sondern nur an die Unmöglichkeit des Denkens oder an das Nichtdenken = Abwesenheit des Denkens, grenzt; und die Polarität von Wahr und Falsch ist nun freilich mit der ethischen Unterscheidung von Gut und Böse analog, aber nur, weil sie sogar mehr als bloss analog ist, nämlich mit ihr zusammenfällt, kurz, weil sie mit ihr ein und desselben Charakters ist. Und erst rückwirkend durch Reflexion gelangt der Begriff der Wahrheit in den reinen Bestand des Erkennens, indem das, worauf alle historische Wahrheit beruht, wodurch sie möglich gemacht wird, nun gleichfalls ihren Namen erhält, nämlich die durch allen wechselnden Inhalt hindurchgehende, diesen formende und selbst in den Gesetzen des Bewusstseins begründete Denknotwendigkeit. Dieser Wahrheitsbegriff, der also nur die unbedingte Geltung des Urteils betrifft, in welchem eine historische Wahrheit ausgesagt wird, ist ein von jeder Wertung freier theoretischer Begriff. Auf den praktischen Begriffen beruht die Möglichkeit einer Weltanschauung, die von einer Wertung ihres Objekts stets unzertrennlich ist. Auf dem theoretischen Begriff der Wahrheit aber gründet sich eine Betrachtungsweise der Dinge, die es in ihrem ganzen Bereiche nirgends mit Werten zu tun hat, wenn auch sie selbst sich ganz und gar nur in einem der sittlichen Wertung durchaus unterworfenen Verhalten ihrer einzelnen Träger und Vermittler entwickelt. Mit der Einsicht in diese fundamentale sachliche Differenz zweier Standpunkte, die beide doch gleich bedeutungsvoll für das Zustandekommen der wahren Erkenntnis, also für die Existenz und Entwicklung von Wissenschaft überhaupt sind, und deshalb so wenig auseinandergehalten werden, ist der Boden gewonnen, auf dem nun die Entscheidung der Frage möglich ist, welche der beiden hier in Betracht kommenden Auffassungen dem logisch bereits festgestellten Begriff der Wissenschaft entsprechen, respektive ob dies bei beiden in gleicher Weise zutrifft oder nur eine von ihnen als adäquates Mittel der spezifischen Aufgabe der Wissenschaft zugeordnet werden kann.

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Fussnoten

1. W. Windelband, Präludien, 2. Auflage, Seile 254–255.

2. H. Rickert, Grenzen des Naturerkennens, Seite 697.

3. H. Rickert, a. a. O., Seite 697–700.

4. Die Bedeutung des biologischen Moments für die Entwicklung des psychologisch-historischen Wahrheitsbegriffes und seinen Hervorgang aus dem Irrtum hat besonders W. Jerusalem in seinem mehrerwähnten Buch: Die Urteilsfunktion in den Vordergrund gestellt. (Vergl. namentlich den 5. Abschnitt dieses Werkes.) Dagegen hat ihn seine polemische Stellung zur Transzendentalphilosophie daran gehindert, auch den logischen Begriff der Wahrheit sicherzustellen, den er schliesslich in seinem spezifischen Charakter, dem unerschütterlichen Geltungsanspruch, nur ontologisch zu festigen weiss, „nämlich auf Grund der Annahme eines extramentalen, vom Urteilenden unabhängigen Geschehens, dessen Gesetze und dessen tatsächlicher Verlauf vom Urteilenden in der dem menschlichen Bewusstsein einzig möglichen Form bestimmt wird.“ Seite 187.

5. Vergl. neuestens Harald Hoffding, der in anderem Zusammenhange trefflich darlegt, wie die Erkenntnistheorie seit Kant dahin geführt wurde, „statt des üblichen naiven Begriffes der Wahrheit einen neuen Wahrheitsbegriff zu setzen“. – Philosophische Probleme, Seite 45, 46.


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020