Max Adler

Kausalität und Teleologie

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Schluss


Der Streit der kausalen und teleologischen Auffassung um die Wissenschaft und die richtige Abgrenzung der Naturwissenschaft von sogenannten Geisteswissenschaften war nicht anders zu schlichten, als indem ein strenger Begriff der Wissenschaft selbst zum Schiedsrichter eingesetzt wurde. Die Art aber, wie durch ihn der so verwirrende Konflikt zur Lösung kam, bietet den seltenen Fall dar, dass beide Streitteile gewannen. Denn musste auch die teleologische Auffassung ihr Anrecht auf das Gebiet der Wissenschaft fahren lassen, so erschien sie doch als unumschränkte Herrin auf einem viel grösseren und bedeutsameren Felde; und unsere Untersuchung würde sich eines Fehlers schuldig machen, der geradezu einer Fälschung ihres ganzen Resultates gleichkäme, würde sie auf diesen Punkt nicht zuletzt noch in Kürze eingehen. Die bewusste Einseitigkeit der Auffassung, in der allein der strenge Begriff der Wissenschaft gewonnen werden konnte, darf nicht so weit festgehalten werden, dass sie nun ganz und gar verhinderte, zu sehen, was auf diese Weise zunächst unbeachtet bleiben musste.

Die Tatsache nämlich, dass wir die teleologische Auffassung, deren Fülle von Ausblicken wir sich so reich entfalten sahen, doch völlig ausserhalb des Standpunktes der Wissenschaft belassen mussten, vermittelt uns eine Einsicht, die gegenüber den noch bis in unsere Tage nachwirkenden Anmassungen des Vulgärmaterialismus und der kurzatmigen Selbstgenügsamkeit des Positivismus nicht oft und stark genug betont werden kann: dass die Wissenschaft nur eine Seite des Daseins überhaupt, somit auch des geistig-sozialen Lebens erschliessen kann, nämlich diejenige, welche in Objektform gefasst, in Allgemeinbegriffen abstrahiert und unter Gesetze gebracht werden kann. Somit ist alle Wissenschaft eine Abstraktion, in welcher wir niemals die ganze Realität der Welt zu erfassen vermögen; vielmehr wird derjenige Standpunkt, der nur die Wissenschaft kennt und nichts als diese will, eben weil er in ihr allezeit nur eine Seite der Welt vor sich hat, immer auch nur ein einseitiger bleiben, dies in der strengsten, gefährlichsten Bedeutung dieses Wortes.

Wer nun vollends eingesehen hat – was darzulegen sich dem Zwecke dieser Studie entzog – wie die volle Realität unseres Wesens wirklich nur im Wollen liegt, und also die eigentliche Gesetzgebung des Menschen, die seine aktuelle Wirksamkeit betrifft, sich im Bereiche des Wollens vollzieht, eine Gesetzgebung, die, wie wir gesehen haben, ihm ja allererst aufträgt, Wahrheit als Pflicht zu bekennen und Wissenschaft zu pflegen, der wird zwar nie mehr dazu kommen, sich die Kreise der Wissenschaft durch den Wertbegriff stören zu lassen, aber er wird die Wissenschaft selbst gar nicht anders mehr betrachten, denn als Mittel für moralische Zwecke, als einen zu realisierenden Wert. Das ist der wahre Primat der praktischen Vernunft, dass er nicht in die Sphäre der Logik hineingemischt werde, sondern diese selbst in ihrer durchaus wertfreien, von keinerlei Beurteilung durchbrochenen Geschlossenheit als wertvoll erfasse; das ist der unverwirrte Sinn jener unvergänglichen Lehre vom praktischen Primate.

Der Mensch ist in erster Linie ein praktisches, wollendes und zielsetzendes Wesen. Sein eigentliches Dasein liegt durchaus nur in dieser Sphäre des Wirkens, nicht, wie man ihn oft hat glauben machen wollen, in der intellektuellen Sphäre des theoretischen Erkennens. „Wissen, um zu leben“, muss das echte Motto der Wissenschaft sein, durch welches sie erst aus einer sonst fast lächerlichen Bemühung geadelt wird zu einem wahrhaft menschlichen Unternehmen, das als solches allerwege ein Instrument des Ideals sein muss. „Wissen, um zu leben“, – in diesem Worte bemächtigt sich der Wissenschaft der sittlich-soziale Geist des Menschentums, in dessen immer kräftigerer Erstarkung der volle Atem der Wirklichkeit viel mächtiger lebt als in der intellektuellen Entwicklung. Die teleologische Beziehung, die im Gebiete des wissenschaftlichen Erkennens nicht konstitutive Bedeutung gewinnen konnte, wird praktische Tat im Bewusstsein des realen, das heisst seiner ganzen Aktualität sich hingebenden Menschen, indem er die Wissenschaft für seine Zwecke in Bewegung setzt, um damit die Welt zu gestalten nach seinem Ebenbilde. [1] Ist der Mensch im theoretischen Felde der Gesetzgeber der Natur gerade zufolge des strengen Ausschlusses aller teleologischen Auffassung, indem allein die in der Gesetzlichkeit seines Erkenntnisvermögens wirkenden Denknotwendigkeiten jene strenge Ordnung einrichten, welche die Wissenschaft als Naturgesetzlichkeit widerspiegelt, so ist er im praktischen Bereiche, indem Masse, als er der Gesetzmässigkeit des Wollens, wie sie im Sittengesetze sich ankündigt, auch äussere Geltung verschafft, sogar der Neuschöpfer und Wandler der irdischen Welt. Nur in der praktischen Tat, welche die erkannte Naturgesetzlichkeit selbst ge- [2]

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Fussnoten

1. Vergl. die berühmte Stelle in den Fragmenten Imm. Kants (Band VIII, Werke, Ed. Hartenstein, Seite 624): „Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen, oder auch die Zufriedenheit bei jedem Fortschritte. Es war eine Zeit, da ich glaubte, dies alles könnte die Ehre der Menschheit machen, und ich verachtete den Pöbel, der von nichts weiss. Rousseau hat mich zurecht gebracht. Dieser verblendete Vorzug verschwindet; ich lerne die Menschen ehren und würde mich viel unnützer finden als die gemeinen Arbeiter, wenn ich nicht glaubte, dass diese Betrachtung allen übrigen einen Wert geben könne, die Rechte der Menschheit herzustellen.“ – Und hierzu die Worte von Karl Marx, die P. Lafargue in seinen Persönlichen Erinnerungen mitgeteilt hat: „Die Wissenschaft soll kein egoistisches Vergnügen sein: diejenigen, welche so glücklich sind, sich wissenschaftlichen Zwecken widmen zu können, sollen auch die ersten sein, welche ihre Kenntnisse in den Dienst der Menschheit stellen.“ Neue Zeit, IX 1, Seite 10.

2. Die letzte Seite fehlt in der Quelle. [Anm. von MIA]


Zuletzt aktualisiert am 16 December 2020