Max Adler

Karl Kautskys Urchristentum

(1. Jänner 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 4, 1 Jänner 1909, S. 176–186.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Von jeher hat die Zeit des Urchristentums einen tiefen Eindruck auf die Gemüter der Menschen ausgeübt; und es war dies nur natürlich von einer Zeit, die der gläubigen Seele so viel zu sagen vermochte. Hier fand die religiöse Sehnsucht noch den Himmel offen, von dem die göttliche Gnade sich unmittelbar der bedürftigen Erde mitteilte. Hier sprang der Quell der Heilsverkündigungen noch ungetrübt, und erklang das Wort des Herrn noch direkt vor der selig erschauernden Menge, da verkündete sich noch überall und vor aller Augen die Herrlichkeit und Allmacht Gottes in überwältigenden Wundertaten. Und dann das grösste Wunder: das faszinierende Bild der Verbreitung der neuen Heilslehre in die ganze Welt, gerade da sie durch den Tod ihres Stifters auf das tiefste getroffen schien. In dieser glorreichen Erhebung der Lehre aus tiefster Erniedrigung, aus der Schmach des Kreuzestodes ihres Verkünders zum idealen Führer einer Welt, in diesem völlig unbegreiflich scheinenden Triumph des Christentums musste fürwahr das Werk der Gottheit selbst erblickt werden: denn es schien zu gross für menschliches Wirken, zu erhaben und alle Masse persönlichen Einflusses übersteigend, um hier etwas anderes als göttliche Kräfte selbst am Werk zu sehen. Eine Zeit, die derart die unmittelbare Kundgebung der Gottheit an sich erfahren, deren Abglanz man liegen sah auf der Heiligkeit der Apostel, auf der Brüderlichkeit und Glaubenstreue der ersten Christengemeinden, auf dem Todesmut und Martyrium der ersten Blutzeugen des Evangeliums, – wie hätte diese Zeit nicht gerade das religiöse Interesse und fromme Gemüt stets für sich einnehmen müssen? So ist es erklärlich genug, dass der Rückblick auf das Urchristentum dem gläubigen Christen stets teuer war als ein Blick auf die Reinheit des Evangeliums, auf den Idealzustand seiner Religion, von dessen Höhe er nur zu oft seine Gegenwart herabgeglitten finden mochte.

Allein wenn es so vornehmlich das gläubige Interesse war, welches seine Aufmerksamkeit immer wieder in die grosse Vergangenheit der Anfänge des Christentums gebannt sah, so zeigt das letzte Jahrhundert und besonders das gegenwärtige Zeitalter ein fast noch intensiveres Interesse für jenen wunderbaren Abschnitt der Menschheitsgeschichte, das keineswegs seinen Ursprung der Gläubigkeit, wenigstens im kirchlichen Sinn dieses Wortes, verdankt, ja das zuweilen sogar direkt religionsfeindlich ist. Es ist die Gedankenwende des 19. Jahrhunderts, die dem modernen Geschlecht auch hier eine neue Stellung und neue Aufgabe gegeben hat, welche in diesem fast leidenschaftlichen Bedürfnis nach historischem Verständnis des Ueberkommenen zum Ausdruck gelangt. Es ist jene Gedankenwende der neuen Zeit, die ihren Schwerpunkt nicht, wie man oft geurteilt hat, in den naturwissenschaftlichen Triumphen des 19. Jahrhunderts hat, sondern in der Ausbildung des historischen Geistes, des geschichtlichen Entwicklungsgedankens seit den Tagen Hegels her, des Geistes, der zu einem Selbstbewusstsein über den ganzen Zusammenhang seines modernen Besitzes mit der Arbeit der Vergangenheit gelangen will und für den Marx das grosse Wort von der Selbstverständigung geprägt hat.

Wenn wir heute unter dem Eindruck stehen, mit dem 19. Jahrhundert einen Zeitabschnitt erlebt zu haben, der Epoche macht, so wie der Zeitabschnitt des Unterganges des weströmischen Reiches oder der Entdeckung Amerikas, so liegt der Grund dafür nicht allein in der unerhörten Veränderung, die das äussere Weltbild durch die technischen Erfindungen der neuesten Zeit erfahren hat. Es ist noch mehr geschehen in diesen hundert Jahren, als „bloss“ die Indienststellung der Naturkräfte für den Produktionsprozess der Güter des täglichen Lebens, als diese märchenhafte Ueberwindung von Raum und Zeit durch die Elektrizität, als diese zauberhafte Festhaltung der sonst verhallenden Stimmen im Phonographen und der rasch verfliegenden Bilder im Kinematographen, als diese rätselhafte Durchdringung der Materie mit geheimnisvollen Strahlen! Es ist noch mehr geschehen als alles dieses: es ist das Wunder der Wiederbelebung des längst Gestorbenen, der Wiedererweckung der Vergangenheit vollbracht werden: es hat die Geschichte unsere Welt, unsere Erfahrung, unseren geistigen Besitz vergrössert und sie ist noch unablässig daran, ihn zu vergrössern, bis in Zeitfernen, in denen nie eines Menschen Erfahrung Kenntnis erwerben konnte, weil sie vor aller menschlichen Existenz, ja vor der Existenz dieses unseres Planeten liegen. Hat man von der Entdeckung der neuen Welt mit Recht eine neue Zeit gezählt, da der Blick und das Denken der Menschen mit einemmale so weit ausgerichtet wurden über den seit uralten Zeiten gewohnten Bereich, ja um die Erde herum geführt wurden zu der Vorstellung ihrer Antipoden, zu dem Gedanken einer Erdkugel, so musste diese Entdeckung der alten Welt, dieses Hervorgehen der Erde aus einem grossen Weltprozess und des Menschen aus dem Tierreich, diese allseitig verflochtene Abfolge der Geschlechter und Völker bis zu ihren heutigen Geschicken das Denken abermals mit gewaltigem Anstoss in neue Bahnen lenken. Die Fortschritte der Naturwissenschaft, so riesig sie waren, brachten keine neue Auffassungsweise in das von der Vergangenheit überkommene Weltbild; sie bewirkten nur eine stetige Vervollkommnung der Methoden und Bereinigung der Begriffe. Die Ausdehnung der naturwissenschaftlichen Denkweise auf die Erscheinungen des geistigsozialen Lebens war ein Fortschritt von enormer methodologischer Bedeutung für die Entstehung der Geisteswissenschaften. Aber für sich allein hätte er nur die Selbständigkeit dieser Wissenschaften gefährdet, wie denn auch diese Gefahr gerade von der marxistischen Sozialwissenschaft gegenüber dem blossen Naturalismus einer vulgär materialistischen Sozialwissenschaft stets bekämpft wurde. Dem Uebergreifen des naturwissenschaftlichen Denkens auf das soziale Gebiet entspricht vielmehr ein solches des historischen Denkens auf das naturwissenschaftliche, aus deren Vereinigung die Eigenart des modernen Standpunktes entspringt. So ist es erst der historische Gesichtspunkt, der in der Denkweise eines Kant und Laplace, eines Hegel und Marx, eines Lyell und Darwin jene neue Weltauffassung erstehen lässt, die keine ruhige Betrachtung mehr gestattet, sondern ein stetes Hinaustreiben über das unmittelbar Gegebene verlangt, zurück zu seinem Werdegang, voraus zu seinen Entwicklungstendenzen. Die irdische Welt, die erst eine ruhende Scheibe war, dann eine im Raum rotierende Kugel, sie ist nun Bewegung schlechtweg geworden, aber nicht die qualitäts- und sinnlose Bewegung der Naturwissenschaft, sondern die gestaltende, zu stets neuen und grösseren Bildungen heraufflutende Bewegung der Geschichte. Es ist die Nachwirkung dieser grossartigen Gedankenwende, ihr Eindringen in alle Arbeitsgebiete der Wissenschaften, die eifrige Bemühung, ihren ganzen Inhalt sich auch in den philosophischen, methodologischen und metaphysischen Konsequenzen zu eigen zu machen, was unsere Gegenwart so vollständig im Bann jener grossen Geister stehen lässt, die hier Bahnbrecher waren, dass kurzsichtige Beurteiler dieser Zeit den Vorwurf eines Epigonenzeitalters machen konnten. Es ist aber nicht die Armut eines Epigonenzeitalters, die überall noch an das Werk jener grossen Geister gebunden ist, sondern der Ueberfluss eines neuen geistigen Lebens, das von ihnen ausgegangen ist mit der Fülle der Probleme, die sie gestellt hatten und noch nicht lösen konnten, der Gedankenkeime, die sie ausgestreut, der neuen Aufgaben, die sie ermöglicht haben. Was jene das Epigonentum schelten, das gerade ist die Ausbreitung des neuen Geistes, seine Besitzergreifung von den Köpfen und Gemütern der Menschen, die Durchsetzung des Historismus als a Igemeine Weltanschauung.

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Kaum irgendwo ist die Neuheit dieser Anschauung, ihre wahrhaft revolutionäre, das heisst weltumwälzende und neuschaffende Kraft augenscheinlicher geworden als auf jenem Gebiet, das am härtesten im Bann der Tradition, des Alten und Herkömmlichen gefesselt lag, auf dem Gebiet der Religion. Hier bedeutete die Entdeckung der alten Welt, das Eindringen in die alten und ältesten Formen der Religion, das Verständnis für den Werdegang der bestehenden Religionen, kurz diese ganze Verlebendigung einer vergangenen religiösen Welt zugleich die Befreiung unserer gegenwärtigen Welt aus der Erstarrung überkommener unverstandener und unverständlicher Begriffe und sinnlos gewordener Formen. Die Religion trat aus der heiligen Isolierung heraus, in welche sie einerseits die Ekstase des Glaubens, andererseits die Exklusivität des Dogmas gebracht hatte. Sie wurde ein Element des geschichtlichen Prozesses überhaupt, nicht anders wie das Recht und die Sitte, das Staatsleben und die Kriege, der Handel und Verkehr. Nicht mehr war ihr Gebiet der Platz für wunderbare Kräfte, die sonst nirgends anders sich ebenso offenbarten. Vielmehr waren es auch hier dieselben Kräfte, die überall das bunte Band der Geschichte wirkten: menschliche Kräfte, menschliche Leidenschaften und Triebe, Hoffnungen und Aengste, Einsichten und Irrtümer. Wessen der historische Gedanke überall triumphierend genoss, der Einheit der Entwicklung, das sah er auch hier sich immer mehr vollenden, die Einheit des Prozesses sozialer Kräfte auch an den Erscheinungen des Göttlichen. Das Walten der Götter erwies sich schliesslich als wirklich die Schicksale der Menschen bestimmend, aber nur deshalb, weil dieses göttliche Walten nichts anderes war als das in einem eigenartigen Geistesprozess von den Menschen verselbständigte und sich gegenübergestellte Schalten ihrer selbst.

Der Grossartigkeit dieses neuen Gesichtspunktes hat sich nun auch die Religionswissenschaft selbst nicht verschlossen, – und das macht eigentlich diese Grossartigkeit erst aus, deren Konsequenzen heute schon eine neue und noch ungekannte Blütezeit eines gänzlich reformierten religiösen Bewusstseins ahnen lassen. – Die moderne, das ist protestantische Theologie hat insbesondere mit einer Kraft des Gedankens und einer Freiheit der Kritik den neuen Standpunkt aufgenommen, die an Weite des Gesichtskreises und Tiefe der Auffassung sehr zu ihren Gunsten abweicht von jenen älteren Produkten historischer Religionskritik, die eigentlich blosse Tendenzschriften eines vulgären Rationalismus oder dogmatischen Atheismus waren. Ja man kann es ruhig sagen: die kirchliche Orthodoxie und Dogmengläubigkeit, die Religion als Superstition und Volksbetrug, als Asyl der Unwissenheit und Herrschaftsinstrument hat heute nicht im Materialismus und Atheismus ihren gefährlichsten Feind, nicht im rationalistischen Freidenkertum oder in der agnostischen Naturwissenschaft, deren Kritik überall nur äusserlich bleibt und an den Lebensnerv der Religion, an den Glauben, gar nicht rührt, weil allen diesen Richtungen das Verständnis für das religiöse Problem als solches fehlt, für jene eigenartigen psychischen Gesetzmässigkeiten, welche die Realität des religiösen Bewusstseins ausmachen, wo sie nur Illusion, Dummheit oder Pfaffentrug sehen; sondern der wirklich gefährliche Feind aller überlebten Formen der Religion ist jene psychisch-historische Kritik, die innerhalb der Theologie selbst begonnen hat und ihre Arbeit zwar zumeist noch in dem Bewusstsein fortführt, nur an der Weiterbildung der überkommenen Religion des Christentums zu arbeiten, mit welcher sie aber kaum mehr als den Namen gemein hat. Und in der gleichen Richtung mit diesen Theologen, die durch das Bedürfnis ihrer Religiosität mit der Realität des religiösen Bewusstseins zusammengehalten sind, wirken jene anderen Forscher, die in den Bestrebungen der vergleichenden Religionswissenschaft, mögen sie nun für ihre Person gläubig sein oder nicht, doch von dieser Realität des religiösen Bewusstseins ausgehen müssen, dessen ethnische Erscheinungsformen sie als ebensoviele Betätigungen einer fundamentalen Wirkungsweise der menschlichen Psyche darzulegen bemüht sind.

Für alle diese Richtungen: die entwicklungsgeschichtliche, die religiöse und die religionswissenschaftliche, ist nun begreiflicherweise die Zeit des Urchristentums von hervorragender Wichtigkeit; denn in ihr liegen ja die Anfänge der heute herrschenden Weltreligion. Diese Urzeit ist keine unserem heutigen Leben entlegene, sondern unsere noch wirkende Vergangenheit, mit welcher die Gegenwart durch eine der stärksten Ideologien, die der religiösen Tradition, derart unmittelbar verbunden ist, dass der Gedanke der historischen Kritik fast nichts dagegen vermag, wenn er darauf verweist, wie die Einheit des Christentums durch die Jahrhunderte eine kirchliche Fiktion ist und es eigentlich ein Christentum in der Geschichte gar nicht gibt. Und in dieser Urzeit des Christentums wirken in einer schon hochentwickelten Welt dieselben geistigen Kräfte, die auch heute wirksam sind, Kräfte der Unterdrückung und Befreiung, des Verfalles und der Erhebung, der Resignation und der Zukunftshoffnung, so dass der Vergleich beider Zeitalter sich seit dem Hervortreten des modernen Klassengegensatzes, seit Weitling immer wieder aufgedrängt hat. So sind es mannigfache Interessen, die den Blick unserer Zeit rückwärts wenden: Interessen des Kampfes, Interessen der Erkenntnis und Interessen des Glaubens. Und alle diese Interessen tauchen aus dem glühendsten Leben der Gegenwart auf: Kampf gegen die Klassengesellschaft und Bekämpfung eines wissensfeindlich und völkerbedrückend gewordenen Kirchenglaubens einerseits, heisses Ringen um die Erhaltung echter Religiosität und ihres Kontaktes mit dem Volk andererseits, dazwischen die unablässige Arbeit der Wissenschaft an dem Verständnis unserer Zeit, in der das religiöse Problem eine solche Bedeutung hat. Ist es da zu verwundern, dass auch der Sozialismus seine Blicke jener Zeit zuwendet, der Sozialismus, der mit seiner gigantischen Bewegung der Geister den innigsten Zusammenhang mit allen Problemen hat, die das moderne Leben am tiefsten bewegen? Das Gegenteil wäre verwunderlich; und so müssen wir Karl Kautskys Buch über den Ursprung des Christentums als zeitgemäss im besten Sinne dieses Wortes begrüssen. Ja, dass gerade jener Denker des modernen Sozialismus uns mit diesem Werke beschenkt, der die feinste Empfindung für die geschichtlichen Realitäten hat, dessen theoretische Arbeit bei aller Weite des Blickes und Frische der Auffassung doch nie das Gefühl für Aktualität und Zusammenhang mit den Aufgaben der Zeit verliert, das bekräftigt ebensosehr die lebendige Verbundenheit des Sozialismus mit den Kulturproblemen der Gegenwart als die reale Bedeutung, die innerhalb derselben der religiösen Krise zukommt. Kautskys Buch ist derart keine Arbeit von bloss historischem Wert, es befriedigt nicht etwa bloss antiquarische Interessen. Es ist ein Buch aus dem Leben der Gegenwart heraus, bestimmt, in die Fragen und Probleme dieses Lebens einzugreifen, und deshalb auch ein so lebensvolles Buch. Diesen Ort dem Buche zu bestimmen als einem Werke, das mit seinem scheinbar den Kämpfen der Gegenwart entlegenen Gegenstand doch dem Leben unserer Tage zugekehrt ist, wo es am kraftvollsten pulst und wirkt, waren diese einleitenden Ausführungen bestimmt. Nun soll uns das Buch selbst Führer sein.

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Das Problem, dem Kautskys Untersuchung sich zuwendet, ist eben jene dem ersten Anblick so wunderbare Erscheinung, von der wir anfangs sprachen: wieso die Lehre, die in einem abgelegenen Winkel der römischen Welt und bei dem gehassten Volke der Juden aufkam, zur Weltreligion werden konnte. Es wird gelöst, indem uns Kautsky jene beiden Kulturen, aus deren Zusammentreffen das Christentum hervorging, die römisch-griechische und die jüdische, in ihrer ökonomischen Entwicklung zur Darstellung bringt und jenen Denk- und Fühlweisen nachforscht, die in ihr zur Entfaltung gelangen mussten. Es sind knappe, jedoch überaus eindrucksvolle Geschichtsdarstellungen, die Kautsky da entwirft, und man muss sagen, dass hier mit seltener Meisterschaft der Versuch gelungen ist, das Wesentliche und Eigenartige grosser geschichtlicher Entwicklungsprozesse so anschaulich darzustellen, dass niemand dieses Buch weglegen wird, ohne von den Zuständen der alten Welt im ganzen ein klares Bild gewonnen zu haben. An Stelle des wirren Vielerlei von Tatsachen und Geschehnissen, in welchem die Geschichtserzählung sonst notwendig jeden Ueberblick verwehren muss, wirkt hier das Bild der allgemeinen Zusammenhänge und Entwicklungstendenzen in der alten Welt mit lebensvoller Eindringlichkeit. Es ist die materialistische Geschichtsauffassung, die hier in wahrhaft glänzender Weise ihre eigentliche Bedeutung offenbart, die meines Erachtens nicht darin gelegen ist, worin sie Gegner und auch manche Anhänger erblicken, die Ideologien zu erklären, sondern uns in das innere Getriebe des geschichtlichen Lebens Einblick zu gewähren und damit jene Bedingungen zu erkennen, welche den nicht in ihnen, sondern in Funktionen des Geisteslebens wurzelnden Ideologien geschichtliche Wirksamkeit gewähren oder versagen.

So enthüllt uns Kautsky zunächst die glanzvolle, sieghafte und machtstrotzende Römerwelt als eine Welt des Verfalles. Man hat schon oft diesen Verfall geschildert und Sittenverderbnis sowie Entartung auf der einen Seite, Massenelend auf der anderen als Ursachen angesprochen. Aber die Notwendigkeit dieses Verfalles war damit nicht erkannt; es blieb immer die Empfindung, als ob eine Besserung der Sitten, eine Rückkehr zu den alten männlichen Tugenden den Verfall hätte aufhalten können: so wie ja auch wohlmeinende, aber oberflächliche Berater unserer Zeit ihr gern das Schicksal des Römerreiches als warnende Mahnung zur Umkehr vorhalten. Eine wirklich in die Ursachen des geschichtlichen Prozesses eindringende Betrachtung wie die der materialistischen Geschichtsauffassung lässt dagegen erkennen, wie diese Sittenverderbnis, Entartung und Verelendung selbst nur Wirkungen einer viel tiefer liegenden Ursache waren, die gar nicht mehr vom Wollen der Menschen abhing, weil sie ihre Lebensmöglichkeit selbst betraf, ihr gesellschaftliches Dasein, ihre Produktionsweise: nämlich die Tatsache, dass die gesamte antike Kultur auf der Sklavenwirtschaft aufgebaut war. Die Darlegung der ökonomischen Bedeutung und Wirksamkeit dieser Tatsache gehört zu den lichtvollsten Teilen dieses lichtvollen Kautskyschen Werkes. Sie bringt nicht nur den Unterschied des antiken Kapitalismus und Proletariats gegenüber den modernen gleichnamigen Erscheinungen zu einem unverlierbaren und präzisen Ausdruck, sondern sie legt vor allem die Wurzel des Verfalles der alten Welt bloss in den Nachweis, dass die antike Wirtschaftsordnung der Sklavenwirtschaft eine solche der notwendigen Produktionshemmung war, der Herabdrückung der Produktionstechnik, der Vergeudung und Entwertung menschlicher Arbeit, kurz, dass sie trotz ihres scheinbaren äusseren Fortschrittes zum Sklavengrossbetrieb und zu einer hochentwickelten Geldwirtschaft doch ein technischer und ökonomischer Rückschritt war hinter die Stufe der kleinbäuerlichen Landwirtschaft, die sie verdrängte. Uebersieht man die Kette der Wirkungen, die aus dieser Grundtendenz hervorgingen und die Kautskys gedrungene Vorführung mit fast dramatischer Kraft auf uns wirken lässt, überall ihren Ursprung nicht verleugnend, die Produktion nur auf Kosten der Produktivität zu betreiben: Landhunger, der die Römer in verheerenden Kriegen über die ganze Welt führt und zugleich ihre Volkskraft vernichtet, Ausbeutung des Bodens in der Plantagenwirtschaft bis zur Verödung desselben, Ausbeutung der Sklaven bis zur Vernichtung jedes Menschenwertes in ihnen, Plünderung der Provinzen bis zur Verarmung weiter Gebiete, dazu als Folge eine Kapitalsakkumulation, die, aus dieser „Produktion“ entnommen, in keine neue Verwertung abfliessen kann und jetzt jene grandiose Genusssucht und Sittenverderbnis erzeugt, die stets dem arbeitslosen Ueberfluss entspringt – übersieht man dies alles, dann ergreifen einen die Worte Kautskys, mit denen er die Römerwelt schon in den glanzvollen Tagen eines Augustus als dem Tode verfallen erklärt, wie das Urteil eines Arztes, der uns von einem blühenden Menschenleben versichert, dass es den Todeskeim einer schleichenden Krankheit in sich trägt. Ich halte den mächtigen Eindruck, den diese klare Aufdeckung des Unterganges der antiken Kultur ausübt, als einen in seiner ökonomischen Verursachung begriffenen und so als notwendig erkannten Prozess, für den ersten grossen wissenschaftlichen Gewinn aus Kautskys Buch. Diese reale und unentrinnbare Verfallsrichtung der alten Gesellschaft gibt nun ihrem Geistes- und Gemütsleben die Grundstimmung, aus der jene Denk- und Fühlweisen entsprangen, die der Lehre des Christentums so aufnahmsbereit entgegenkamen. Von dieser Seite her erfährt also das Problem von der Weltherrschaft des Evangeliums seine erste Enthüllung aus dem Nebelreich überirdischer Wunderwirkungen: dass in der Herausbildung gleichartiger Lebensverhältnisse durch das ganze Weltreich mit einer gleichartigen praktischen Lebensauffassung, die von Staat und Gesellschaft nichts erhoffen konnte, dagegen alles von der Verinnerlichung und Veredlung des Individuums und dem Zusammenschluss der Gleichgesinnten über alle Schranken der Nationalität hinaus; dass in dieser allgemeinen Resignation auf der einen und dem ebenso verbreiteten Erlösungsbedürfnis auf der anderen Seite; dass endlich in der Ausrichtung des menschlichen Denkens auf eine göttliche Hilfe, wo alle irdische zu versagen schien, – dass in alledem die moralische und intellektuelle Anlage des Christentums schon überall vorhanden war, noch ehe das Christentum selbst historisch erschien. Nicht das Christentum eroberte die Welt, sondern die römisch-griechische Welt zog die ursprünglich ganz anders geartetete jüdische Heilslehre an sich und erfüllte sie dann auch, wie Kautsky im späteren Teil seines Buches zeigt, derart mit ihrem eigenen Geist, dass sie etwas ganz anderes wurde, als die am Kreuz zum erstenmal vernichtete Lehre Christi.

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Wie die Lehre des Christentums allgemein werden konnte, hat der erste Teil gezeigt. In einem weiteren Abschnitt behandelt Kautsky das Judentum, um zum Verständnis darüber zu führen, wie jene Lehre entstehen konnte. Im einzelnen wird hier mancher Widerspruch laut werden, insbesondere nach der Seite, ob es Kautsky gelungen ist, dem grössten Problem der jüdischen Geschichte, der so frühzeitigen Entwicklung des Monotheismus völlig gerecht zu werden. Allein was in diesem Abschnitt sich gleichfalls als ebenbürtiger wissenschaftlicher Gewinn dem Resultat des vorhergehenden anschliesst und vielleicht noch aufklärender fortwirken wird als jenes, das ist die glänzende Charakteristik der Rolle und Bedeutung, die das Judentum in der ersten römischen Kaiserzeit als revolutionäres, demokratisches und politisch reifes Volkstum gespielt hat, welches nach nationaler Einigung und Selbständigkeit strebte. „Nur wenige Stätten,“ sagt Kautsky, „gab es im römischen Weltreich, wo sich nach Cäsars Sieg noch Reste eines politischen Lebens erhielten. Auch diese Reste wurden von den Nachfolgern Cäsars rasch ausgestampft. Am längsten erhielt sich ein kraftvolles politisches Leben in der Grossstadt Palästinas, in Jerusalem. Es bedurfte der gewaltigsten Anstrengungen, um auch diese letzte Festung politischer Freiheit im römischen Reich niederzuwerfen.“ (Seite 102) Dieses revolutionäre Volkstum wurzelte im Messianismus, der selbst nichts anderes war, als die Idee der Wiedererringung der seit dem Exil mit kurzer Unterbrechung der Makkabäerzeit verloren gegangenen staatlichen Unabhängigkeit und der Zurückführung aller in die Welt zerstreuten Volksgenossen zur neu geeinten Staatsgemeinschaft. Wie unter dem Einfluss dieser im Grunde politischen Idee das Diasporajudentum niemals seinen Zusammenhang verlieren konnte, wie es die Idee der Nationalität religiös vertiefen musste, weil in dem gemeinschaftlichen Glauben und Kultus, vor allem in dem gemeinschaftlichen Kultusmittelpunkt, dem Tempel in Jerusalem, die einzige noch vorhandene äussere Einheit des Judentums vorlag, die alle Juden umschloss, – das hat Kautsky mit dankenswerter Aufhellung vieler Einzelheiten (wirtschaftliche Bedeutung der Juden im Altertum als exilierte Kaufleute, Weltbürgertum der Juden, Propagandakraft ihres zwar nicht der Philosophie, aber der Volksweisheit der Heiden überlegenen Geisteslebens) dargelegt. Das hellste Licht geht aber von jener vorhin erwähnten Feststellung des revolutionären Charakters des Judentums aus; und es ist nur zu bedauern, dass die zum Schluss noch zu besprechende Unterschätzung der selbständigen Bedeutung der religiösen Kraft menschlichen Denkens und Fühlens Kautsky gehindert hat, auch die Vervollkommnung des jüdischen Monotheismus mit dieser revolutionären Volksseele als eine fortlaufende sozialethische Schöpfung in Verbindung zu bringen, so wie ja schon der erste Ursprung eines eigentlichen, rein ethischen Monotheismus der ersten revolutionären Klassenkampfzeit des Judentums, der Zeit der grossen Propheten entsprang. [1] Aber auch so erleuchtet die Kautskysche Charakterisierung des Judentums zur Zeit des anbrechenden Kaiserreiches das Dunkel, in welches die Anfänge des Christentums fallen, so stark, dass wir nun den Reiz dieser Bewegung verstehen, der ihr in ihrer allerersten Zeit in Judäa das Volk so stürmisch zuführen konnte, dass selbst der Tod des Stifters sich ihrem Glauben an ihn verwandeln musste in die wunderbare Auferstehung vom Grabe und Erhöhung in den Himmel: es war die lang erträumte, glühend ersehnte nationale Revolution, aber begonnen und ins Werk gesetzt durch diejenigen, die sie gleichzeitig nur als soziale Revolution durchführen konnten: es war der Messianismus, dem alle Klassen anhingen, zur Verwirklichung strebend durch die eine Klasse der Ausgebeuteten und Unterdrückten allein. So strömte die revolutionäre Kraft der jüdischen Ideologie als einer solchen des ganzen Volkes, in welcher Form sie ihre oppositionelle Eigenart im Gegensatz zu allen anderen Völkern ausgeprägt hatte, über in die revolutionären Bestrebungen der aufwärts ringenden Teile des eigenen Volkes, ähnlich, wie auch später noch jedesmal die nach Emanzipation strebende Klasse den gesamten Kulturbesitz ihres Volkes den eigenen Klassenbestrebungen einverleibt, respektive diese durch jenen vergeistigt hat. So wird der Messianismus in der Lehre Christi zum Rebellentum, so spitzt sich der jüdische Revolutionarismus in dieser Lehre zu einer sozialen Rebellion zu, die in gleichem Mass, als sie nun mit gewissen Schichten des Judentums, den Reichen und den vom Volk sich abschliessenden Nationalisten (Pharisäer), in Gegensatz gerät, eben so viele neue Gesichtspunkte sozialen Kampfes schafft, für welche auch ausserhalb Judäas ein Verständnis möglich war. „Der nationale Messiasgedanke musste naturgemäss auf das Judentum beschränkt bleiben ... Nur der soziale, nicht der nationale Messias konnte die Schranken des Judentums überschreiten.“ (401 bis 402)

Der soziale Messias – das war die eigenartige Synthese, die nur die Geschichte hervorbringen konnte, Revolution und Religion in einem, äussere und innere Erhebung zugleich, Seligkeitshoffnung und Zukunftsstaatssehnen vereint. Der ganze Abschnitt über die christliche Messiasidee, vor allem aber das Kapitel über das Rebellentum Jesu, bezeichnet so einen Höhepunkt der Kautskyschen Darstellung nicht minder wie einen der tiefstdringenden Erklärungsgründe gegenüber dem Problem von der Ausbreitung des Christentums. Von dieser Seite her wird nun der blosse Rahmen, den die Analyse der ökonomischen und ideologischen Zustände der römischen Gesellschaft gegeben hat, erfüllt mit dem elementaren Drang einer sozialen Abwehrbewegung, die endlich zum bewussten Ausdruck gelangt ist, zugleich aber hierdurch mit dem tiefreligiösen Geist einer messianischen Lehre durchsetzt wird. Die blosse Latenz eines allgemeinen nach moralischer und religiöser Befriedigung lechzenden Bedürfnisses gewinnt so mit den ihr vom Judentum zuströmenden Anregungen aus den vitalsten Existenzbedingungen der Massen heraus eine lebendige Energie, die überall in der gleichen Richtung wirkt; die blosse Möglichkeit einer Weltreligion ist Wirklichkeit geworden.

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Aber diese Wirklichkeit wurde, je mehr sie Wirklichkeit ward, auch immer mehr e^was anderes als die ursprüngliche Lehre des Messianismus Jesu. Diese bisher zumeist nur nach der religiös-theologischen Seite aufgezeigte Tatsache insbesondere auch von dem sozialen Wesen der ersten Christengemeinden nachgewiesen zu haben, ist das Verdienst des letzten geschichtlichen Abschnittes des Kautskyschen Werkes. Die grosse Umwandlung des Christentums aus einer sozialistischen Kampfeslehre in eine resignierte Stimmung leidenden Gehorsams wird hier dargelegt als eine notwendige Folge der Heidenmission, als eine Konsequenz des Umstandes, dass die in der nationalen Opposition des Judentums begründete Kampfesstellung des Messianismus unmöglich bestehen bleiben konnte, wo diese nationalen Interessen keine Rolle spielten, dagegen eine Kampfesstellung der sozialen Interessen als solcher noch ganz undenkbar war. „Sobald das Evangelium den Boden Palästinas verliess, kam es in ein ganz verändertes soziales Milieu, das ihm einen veränderten Charakter aufprägte.“ (405) In dem grossen Römerreiche, das seit Vespasian einen mehr als hundertjährigen inneren Frieden genoss, war an Rebellion nicht mehr zu denken, zumal die unterworfenen Nationen des Reiches überall kampfunfähig geworden waren. Nach der Niederwerfung Jerusalems war auch das Judenchristentum bedeutungslos geworden; es verschwand mit seinem Stützpunkt, der jerusalemischen Gemeinde. So wurde das Christentum ganz und gar Heidenchristentum und als solches unterwürfig, feige, servil. Wie dieses so verschiedene soziale und politische Milieu dazu führen musste, die eigentliche Kluft zwischen Heidenchristen und Judenchristen aufzureissen, deren Festhalten am jüdischen Gesetz im Grunde nur der Versuch war, den Gedanken des nationalen Messianismus, der jüdischen Revolution zu bewahren, das hat bei Kautsky eine treffliche Darstellung erfahren, die in dem ausgezeichneten Kapitel „Die Passionsgeschichte Christi“ sogleich auch zu einer scharfsinnigen Kritik der Evangelienberichte über diesen Gegenstand verwendet wird, und so an einem grossen Beispiel die ganze Bedeutung dieses sozialen Gegensatzes von Judenchristentum und Heidenchristentum erkennen lässt. Dass derart in anschaulicher Klarheit hervortritt, was heute noch wenig ins allgemeine Bewusstsein gedrungen ist, dass das Christentum, welches zur Weltherrschaft gelangte, schon in der ersten Zeit etwas ganz anderes war, als jenes, das auf Golgatha litt, – das halte ich für den dritten grossen Leitgedanken und wissenschaftlichen Gewinn der Kautskyschen Arbeit. Nun schwindet von dieser Seite her auch der letzte Rest des Rätselhaften an dem Problem, wie die Lehre des gekreuzigten Nazareners die doppelten Schranken seines Todes und seines kleinen Volkes überschreiten konnte, da sich zeigt, dass es gar nicht diese Lehre selbst ist, sondern eine vom Heidentum gar mannigfach nach dessen eigenen Bedürfnissen umgebogene und ausgestaltete Verarbeitung der ihr durch die jüdische Agitation zugetragenen messianischen Anregungen. Nicht ohne Grund zeigt daher die spätere Geschichte des Christentums bis auf unsere Zeit, dass jeder innerliche Fortschritt in ihm ein bewusstes Zurückgreifen auf die möglichst rein im Geiste Jesu selbst zu erfassende Evangelienlehre war, das heisst auf den sozialethischen und revolutionären Gehalt des ursprünglichen Messianismus.

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Fügen sich so die Leitgedanken der Kautskyschen Untersuchung zu einem klaren und zugleich doch umfassenden Bilde, welches unsere Anschauung von der Zeit des Urchristentums in der glücklichsten Weise bereichert und uns manche neue Einsicht verschafft in die inneren Zusammenhänge und Gründe der grossen Begebenheiten jenes so schicksalschweren Zeitabschnittes, so darf nun doch auch nicht unerwähnt bleiben, was an diesem Bilde vermisst wird und doch zu seiner Vollständigkeit gehört. Man wird in dem Buche, das so viele Kräfte blosslegt, so viele Leidenschaften am Werke zeigt, doch sehr die Wirksamkeit jener Kraft, ja Leidenschaft geschildert vermissen, der man hier doch naturgemäss zuerst zu begegnen erwartet, des religiösen Bewusstseins, der Inbrunst des Glaubens. Von der ganzen Gefühlswärme und psychischen Innerlichkeit des evangelischen Gottesbegriffes, um derentwillen er zugleich religiöse und soziale Heilslehre sein konnte, von dieser die Menschen innerlich wirklich umschaffenden Kraft, kurz von dem individuellen Wert der neuen Religion empfangen wir keinen so starken Eindruck wie von ihrem sozialen. Und doch kann dieser individuelle Wert in der Geschichte der Entstehung und Entwicklung einer Religion nicht etwa bloss nicht unberücksichtigt bleiben – denn dies ist bei Kautsky ja selbstverständlich auch nicht geschehen – sondern muss in den Vordergrund der Betrachtung rücken. Denn alle Entwicklung der Religion vollzieht sich nach der Richtung der grösseren Verinnerlichung, nach der Richtung einer Loslösung aus der Fesselung ethnischer oder nationaler Uebung zur rein persönlichen Ueberzeugung. Der Gesichtspunkt dieses religiösen Fortschrittes wird in Kautskys Buch zu wenig festgehalten, und so bietet es uns den eigenartigen Anblick einer entwicklungsgeschichtlichen Analyse aus dem Leben einer Religion, in der dieses religiöse Leben selbst fast gar keinen sichtbaren Anteil an der Gestaltung der Ereignisse nimmt. Alles vollzieht sich von der Seite der sozialen Wirkungen her, von ökonomischer, politischer, nationaler Grundlage aus: für die religiöse Wirkung scheint kaum ein eigenes Feld übrig zu bleiben, womit auch zusammenhängt, dass der Einfluss religionsschöpferischer Individuen, eines Jesus, eines Paulus, schon abgesehen von der Frage ihrer historischen Wirklichkeit, als ganz nebensächlich zurücktreten kann.

Was derart meines Erachtens als ein Mangel der Kautskyschen Darstellung empfunden werden wird, ist zunächst nur eine Konsequenz ihrer Vorzüge, der energischen Konzentration des ganzen wissenschaftlichen Interesses auf Erforschung des objektiven Untergrundes, aus dem sich die Motive zu jener Subjektivität des Christentums ergeben mussten. Fasst man das Thema des Buches: „Der Ursprung des Christentums“ in dem Sinn, dass es sich nur um Aufzeigung der sozialen Entstehungsbedingungen seiner Lehre handeln sollte, nicht aber um die Analyse und Erklärung seiner geistigen Ursprünge und Fortentwicklung, dann wird man der vorliegenden Arbeit wirklich gerecht werden und den bezeichneten Mangel weniger stark betonen dürfen. Immerhin können wir von seiner Hervorhebung auch dann nicht ganz absehen, weil sich jene beiden oben geschiedenen Forschungsaufgaben nicht vollständig trennen lassen und auch bei Kautsky nicht gänzlich getrennt sind. Haben wir doch gesehen, wie manche richtige Gesichtspunkte für den geistigen Aufbau der urchristlichen Lehre wir seiner Arbeit verdanken.

Diese nicht genügende Einschätzung des religiösen Faktors und damit zugleich der individuellen Wirksamkeit führender Personen, wie namentlich der des Paulus, ist nun aber nicht etwa, was gewiss von gegnerischer Seite ausgesprochen werden wird, ein Mangel der materialistischen Geschichtsauffassung, welche die Eigenwirksamkeit der ideologischen Momente ja nirgends in Abrede stellt, sondern bloss aus den materiellen Bedingungen ihrer Zeit heraus zu erklären bemüht ist. Wir haben es hier vielmehr mit der Konsequenz einer philosophischen Grundanschauung zu tun, mit der aus der materialistisch-positivistischen Weltanschauung sich ergebenden Stellung zum Problem der Religion selbst, wonach dieser eine eigene Bewusstseinsrealität, eine der ursprünglichen Funktionsweisen des psychischen Lebens, die hier ja überhaupt verneint werden, nicht zukommt, sondern Religion lediglich ein falsches Bewusstsein, eine mehr oder minder bewusste Täuschung, bestenfalls eine Illusionierung darstellt, die im Fortschritt wissenschaftlichen Denkens und sozialer Entwicklung vollständig zur Auflösung gebracht werden wird. Wo derartig dem religiösen Bewusstsein jede Selbständigkeit prinzipiell genommen ist, erscheint es nur konsequent, dass ihm auch beim Versuch, die wahrhaft historisch wirksamen Kräfte blosszulegen, keine Eigenbedeutung zufallen kann. Und so musste das Christentum trotz der energischen Bemühung Kautskys, auch seine heroischen und zur Fortentwicklung strebenden Züge nicht fallen zu lassen, doch im ganzen bei ihm als ein blosses Elends- und Verfallsprodukt erscheinen, dem man bei so viel Kleinmut und Niedertracht, Trug und Dummheit der Zeit gar nicht die Kraft zutrauen könnte, sich über diese trübe Flut zu erheben. Die positive Seite dieser neuen geschichtlichen Erscheinung, ihre Wertung als ein geistiges Fortschrittselement ersten Ranges, weil in ihm zum erstenmale die breiten Volksmassen eine höhere Stufe des Gedanken- und Gefühlslebens erstiegen, auf welcher eine fast tumultuarische Berichtigung überkommener, aber schon haltlos gewordener Moral- und Religionsbegriffe stattfand, kurz diese ganze grossartige Befreiung und Renaissance des Innenlebens, die eben als religiöse Bewegung in die Geschichte trat, dies musste bei einer philosophischen Grundanschauung zurücktreten, die gerade darauf ausging, die religiöse Form zwar nicht als wesenlosen aber doch als unwesentlichen Schein zu entschleiern.

Eine Auseinandersetzung mit dieser philosophischen Prinzipienstellung zum Problem der Religion liegt ganz abseits von dem Zweck dieser Erörterung. Es genügt hier der Hinweis, dass in ihr und nicht in der materialistischen Geschichtsauffassung die Begründung jener Lücke der Kautskyschen Darstellung zu suchen ist, die wir hervorheben. Denn gerade der geniale Gesichtspunkt der materialistischen Geschichtsauffassung, nach welchem sie, wie Marx dies zuerst formulierte, in der Religion eine Widerspiegelung der materiellen Lebensverhältnisse in einer geistigen Sphäre sah, macht uns darauf aufmerksam, auf die Gesetze dieser Spiegelung zu achten. Die Spiegel, in denen alles Materielle im Kopfe zur Ideologie umgesetzt wird, sind die ursprünglichen Funktionsweisen des menschlichen Geistes, genau so spezifische psychische Energien, wie es die spezifischen Sinnesenergien sind. Im erkenntnistheoretischen Sinne kann man die ersteren Ideen nennen: die formalen Ideen des Wahren, Guten, Schönen und Göttlichen. Dies Formalpsychische, diese Funktionsweisen sind die Spannkräfte, mit denen die Maschinerie des objektiv-realen Ursachenkomplexes erst ihr subjektives Leben empfängt, menschliche Geschichte wird. Nicht überall in der Geschichtsbetrachtung werden sie als selbständige historische Kräfte hervorgezogen werden müssen, weil dies ganz von dem leitenden Erkenntnisinteresse abhängt. In einer Geschichte der Staaten oder des Handels ist dieses ein anderes wie in einer Geschichte des Wissens oder der Religion. Wo aber die Geschichte selbst nichts anderes ist als die empirische Auseinanderlegung dieses Formalpsychischen, als die genetische Konkretisierung jener Funktionsweisen selbst, wie etwa in der Geschichte der Rechtsbildungen, der Philosopheme, der Kunstschöpfungen oder der Religion, da wird man auf diese Berücksichtigung der psychischen Aktivität selbst, der eigentümlichen Formen, mit denen sie in die Geschichte eingeht, nicht verzichten können. Denn durch sie erst erlangt das, was die materielle Grundlage bloss möglich erscheinen lässt, Gestaltung und Inhalt. Die Umwelt bestimmt die Göttervorstellungen, aber der Begriff der Gottheit stammt nur aus der psychischen Gesetzlichkeit selbst und spottet jeder Zurückführung auf Furcht, Personifizierung, Vergrösserung etc. Und ebenso ist der Prozess zum Monotheismus hin ein eigenartig geistiger Prozess, an den man mit den Annahmen eines blossen Vereinfachungs- oder Abstraktionsprozesses, einer Erstarkung eines besonders verehrten Gottes oder Widerspiegelung der irdischen Monarchie noch kaum herangetreten ist. Mit Recht hat Cohen in einer tiefsinnigen Publikation der letzten Zeit (Religion und Sittlichkeit) gerade aus der altjüdischen Geschichte anschaulich gemacht, wie der Unterschied des Monotheismus und Polytheismus nicht etwa bloss ein quantitativer ist, sondern dass es von den Göttern zu Gott natürlich zwar eine geschichtliche, aber keine gedankliche Entwicklung gibt. Es ist eine ganz andere geistige Kategorie, in welche der Monotheismus führt. Der Monotheismus ist die religiöse Vorstellung der Sittlichkeit, während der Polytheismus die kosmologische Form der Religiosität ist. Daraus erklärt es sich, dass man zum immer grösseren Erstaunen der modernen Religionswissenschaft monotheistische Keime selbst bei den wildesten Naturvölkern angetroffen hat, ein Rätsel, das sich vielleicht darin löst, dass wir hier die ersten primitiven Auffassungen des Sittlichen als Idee vor uns haben, womit vortrefflich stimmt, dass überall dieses höchste göttliche Wesen keine Verehrung findet, keinen Opfer- und Kultusdienst, sondern eben nur als höchste Macht angerufen wird.

Aber alles dies kann ja eben nur angedeutet werden. Hervorzuheben wäre nur noch, dass mit der Eigenart des theogonischen Prozesses, mit der Entwicklungsrichtung der Religion von Kosmologie und Mythus her auf Ethik und Glauben, letzteren als rein innerliche Energie verstanden, die besondere Bedeutung des schöpferischen Individuums zusammenhängt, welches zwar nie Religionsstifter, wohl aber Religionsförderer sein kann, nicht anders, wie auch Philosophie und Wissenschaft nur durch individuelle Geistestaten ihre eigentliche Bereicherung erfahren. Die Bedeutung der Individuen als historisch wirksamer Persönlichkeiten liegt überhaupt darin, dass sie nicht etwa, wie man meistens zugibt, den historischen Prozess beschleunigen oder verzögern; damit mag sich ihre Wirkung dort erschöpfen, wo, wie im sozialen und politischen Leben, die Geschichte nicht im Fortschritt des Geisteslebens besteht, sondern diesen nur benützt oder bekämpft. Dagegen ist auf psychischem Gebiet die Bedeutung der führenden Geister überall die von Richtungselementen, Gestaltungsfaktoren, ohne welche die Geschichte nicht etwa das gleiche Resultat ebenso, nur langsamer hervorgebracht hätte, sondern überhaupt nicht so besässe. Die grossen Denker und geistigen Schöpfer können freilich nur unter den Bedingungen ihrer Zeit schaffen, aber in ihr sind sie die geistigen Transformatoren, die erst jene ideologischen Gebilde schaffen, welche wir zwar auf ihre materiellen Bedingungen zurückführen, aber nimmermehr aus ihnen erklären können. Jeder grosse Gedanke, jede Idee, jede religiöse Empfindung ist insofern etwas absolut Unableitbares, das, einmal da, gewiss seiner Entstehung nach auf die umgebende Welt zurückgeführt werden kann, aus der es ja entsprang, aber nicht seinem neuen geistigen Inhalt nach, der eben die neue individuelle Formung des empirischen Materials darstellt und nun über seine Ursprungsbedingungen weit hinauswirkt, eine ganz neue und oft unabsehbare Folgenkette begründend. Die Aufdeckung des materiellen Untergrundes lässt uns daher zwar sofort die kausale Bedingtheit der Ideologie erfassen und diese dadurch in ihren Wirkungsmöglichkeiten erst eigentlich verstehen. Aber die ganze Energie der Ideologien, welche in der Geschichte zur Auswirkung gelangen, erschliesst sich erst, wenn nun auch auf deren Eigenwirksamkeit eingegangen wird. Und zu dieser gehört vor allem die Darlegung der subjektiven Art, in welcher sie in dem Denken und Fühlen bahnbrechender Persönlichkeiten zum Ausdruck gelangt ist und wie sie durch Tradition und Literatur nachgewirkt hat. Während Kautsky dies gerade bezüglich Jesus mehrfach durchgeführt hat, von dem wir so wenig direkte Kunde haben, hat er dies bei der ragenden Gestalt des Paulus weniger für nötig gehalten. Aber wenn eben Kautsky, wie wir sahen, uns so glänzend die realen Bedingungen des Gegensatzes von Juden- und Heidenchristentum dargelegt hatte, so werden damit doch erst nur die objektiven Gegensatzmotive aufgedeckt. Die Form dagegen, in der sie dann historische Wirklichkeit gewannen und eine bis heute nachwirkende Lehrgestaltung des Christentums erzeugten, entspringt ganz und gar den psychischen Voraussetzungen des Paulinismus.

Alles dies soll jedoch nicht als eine Ausstellung an Kautskys Werk gemeint sein, sondern als eine Ergänzung. Weltanschauungen lassen sich nicht berichtigen, sondern nur gegenüberstellen. Und so wird die Weltanschauung, in welcher die Religion eine selbständige, ja fundamentale Eigenbedeutung hat, in dem geschichtlichen Bilde des Urchristentums vielleicht noch manche tiefere Farbentöne einzutragen haben. Aber keinesfalls wird sie die gefestete Grundlage missen können, auf welcher die Kautskysche Arbeit uns sicher Fuss fassen lässt.

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Fussnote

1. Nur diese Unterschätzung des religiösen Eigenlebens mag Kautsky zu der merkwürdigen Ansicht geführt haben, dass der jüdische Monotheismus sich erst als eine Einwirkung babylonische) Lehre auf die im Exil lebenden Juden entwickelte, wobei die Einbürgerung des Monotheismus aul die städtisch gewordene Kultur der Juden zurückgeführt wird, da sie im Exil eine Nation ohne Bauerr geworden waren. Allein dem steht die geschichtliche Tatsache gegenüber, dass das Judentum den Höhepunkt seiner religiösen Entwicklung, die Ausprägung eines strengen und rein sittlichen Monotheismus schon lange vor dem Exil, in der Zeit der grossen Propheten erreicht hat, wogegen die nachexilische Religionsepoche bereits eine Zeit des religiösen Abstieges darstellt, da die bloss als sittliche Ueberzeugung lebendige und den Kultus verschmähende Religion in den strengen Former eines Gesetzes und kultischen Ritus erstarrt. Zur Zeit der Propheten war aber das Judentun noch wesentlich ein Bauernvolk, wie der in diese Zeit fallende gesetzliche Reformversuch des Deuteronomiums sicher erkennen lässt. – Sehr interessant ist auch der scharfsinnige Versuch Kautskys die monotheistische Veranlagung des Judentums aus seiner kulturellen Rückständigkeit zu erklären da in dem Mangel eines entwickelten Kunsthandwerkes und einer bildenden Kunst mit der Fähigkeit, künstlerische Götterbilder herzustellen, auch ein hauptsächlicher Anreiz zur Vielgötterei fehlte Allein die idealisierten Göttergestalten der Griechen gehören nicht nur einer späten Entwicklungsstufe der Kultur, sondern auch der des Polytheismus an. Dem religiösen Bedürfnis an sich genügen aucl ganz rohe Bilder, wie denn auch in Athen noch zur Zeit des Alcibiades die rohen Hermen standen Auch dürften die Juden ihre künstlerische Rückständigkeit in den auf Salomo folgenden zwei Jahrhunderten eines sich rasch entwickelnden städtischen Reichtums sicher überwunden haben. Zur Zeit der Propheten war gerade der Jahvedienst Kultus vor dem Gottesbild, wogegen sich die Propheter wendeten, die nicht bloss den Baalsdienst, sondern auch diese Art des Jahvekultus verdammten. Kautskj trägt hier der Entwicklung des jüdischen Monotheismus zu wenig Rechnung: solange die bildender Künste in dem noch der Nomadenzeit nahe stehenden Volke auf niedriger Stufe standen, hatte es auch noch entfernt keinen Monotheismus; und dieser kommt gerade in der Zeit einer hoher städtischen Kultur auf, wo diese wegen ihrer Klassengegensätze als soziales Unrecht empfunder wird. (Rechabiten!) Der Monotheismus wurzelt in diesen Verhältnissen, ist aber die weiter nicht mehr ableitbare geistige Reaktion auf sie in der Form des religiösen Bewusstseins, welches nur bis zur Idee der Weltgerechtigkeit in einzelnen mächtigen Geistern, in den Propheten, lebendig geworden ist.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024