Max Adler

Marxismus und Materialismus

(1. September 1910)


Der Kampf, Jg. 3 12. Heft, 1. September 1910, S. 564–571.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Eine neue Schrift von Georg Plechanow, diesem glänzenden und unermüdlichen Vorkämpfer des Marxismus, bedeutet für alle Anhänger des letzteren eine Fülle von neuer Belehrung und fruchtbarer Anregung. Mit um so grösserem Interesse wird man nach dem neuesten deutsch vorliegenden Büchlein greifen, in welchem Plechanow die Grundprobleme des Marxismus behandelt. [1] Stehen diese doch seit einem Jahrzehnt im Mittelpunkt intensivster geistiger Bearbeitung von allen Richtungen modernen Denkens her, sowohl von Seiten der Philosophie als von Seiten der verschiedensten Einzelwissenschaften. Und in der Tat wird die neuerliche Darstellung, die Plechanow hier den Grundgedanken der materialistischen Geschichtsauffassung zuteil werden lässt, viele Missverständnisse beseitigen, die freilich so alt und so oft schon widerlegt wurden, dass man fast zweifeln muss, ob es sich hier nicht mehr um irrationale und daher nicht zu belehrende Vorurteile, als um bloss irrige rationale Urteile der Gegner handelt.

Trotz dieser grossen Verdienste der Plechanowschen Schrift wird sie doch auch vielen und, wie mir scheint, notwendigen Widerspruch hervorrufen, und zwar im Punkte der philosophischen Würdigung des Marxismus. Denn die erste Hälfte des Büchleins ist der philosophischen Seite des Marxismus gewidmet und sucht mit eingestandener polemischer Tendenz gegen die neueren Versuche, den Marxismus philosophisch, insbesondere erkenntniskritisch zu bearbeiten, darzutun, dass er gar keiner anderen Philosophie bedürfe als derjenigen, aus der er hervorgegangen und die er selbst vervollkommnet habe, der Philosophie des Materialismus im Feuerbachschen Gewände. „Der Marxismus“, sagt Plechanow gleich am Eingänge seiner Schrift, „ist eine ganze Weltanschauung. Er ist, kurz ausgedrückt, der moderne Materialismus, der die zurzeit höchste Entwicklungsstufe der Weltanschauung darstellt, deren Grundlagen schon in Altgriechenland von Demokritos und zum Teil von dessen Vorläufern, den ionischen Denkern, gelegt wurden.“ Um diese Behauptung zu begründen, ist Plechanow zunächst bemüht, den innigen Zusammenhang der Philosophie Feuerbachs mit der Entwicklung des Marxismus in seinem entscheidenden, zur materialistischen Geschichtsauffassung führenden Stadium nachzuweisen. Hier wird man ihm mit grossem Interesse und voller Zustimmung folgen, nur dass es sich dabei wohl bloss um jene Form der Feuerbachschen Philosophie handeln konnte, die bis in die Mitte der Vierzigerjahre sich entwickelt hatte. Denn seit dem Kommunistischen Manifest hat die geistige Entwicklung von Marx und Engels bereits eine derartig feste und eigene Grundlage gewonnen und war bereits so weit von Feuerbach abgerückt, dass eine Beeinflussung durch den späteren Feuerbach einfach ausgeschlossen ist. Dies zu berücksichtigen, ist aber um so nötiger, weil Plechanow, um den materialistischen Charakter des Marxismus zu begründen, es auch gleichzeitig unternommen hat, die Lehre Feuerbachs in ihren Grundgedanken als eine rein materialistische anzusprechen, was sie meines Erachtens in keinem Stadium ihrer Entwicklung, sicher aber nicht Mitte der Vierzigerjahre war, um dann hieraus zu folgern: „Der Materialismus von Marx und Engels stellt eine viel entwickeltere Lehre als der Feuerbachs dar; die materialistischen Anschauungen unserer Meister haben sich aber in der Richtung entwickelt, die durch die innere Logik der Feuerbachschen Philosophie vorgeschrieben wurde.“

In der bekannten, ein wenig scholastisch anmutenden Frage nach dem Verhältnis vom Marxismus zum Materialismus hat also Plechanow seinen alten Standpunkt einer untrennbaren Zusammengehörigkeit, ja Identität beider – „der Marxismus ist der moderne Materialismus“ – unbeugsam festgehalten, wie ich glaube, nicht zum Nutzen einer grösseren begrifflichen Klarheit für die Diskussion über die Grundprobleme des Marxismus. Denn ganz abgesehen davon, wovon noch ausführlicher zu reden sein wird, dass der Begriff des Materialismus selbst in diesem Zusammenhang als ein keineswegs klarer und einwandfreier auftritt, bleibt erst doch noch zu fragen, worin das Wesen des Marxismus denn eigentlich gelegen ist: in seiner Bedeutung als Theorie oder als Philosophie. Es ist natürlich kein Zweifel, dass auch eine Theorie im Kopfe der Menschen, die sie hegen, kein isoliertes Dasein führt, und dies um so weniger, je bedeutender der Kopf ist. Dass aber eine Theorie sich so im geistigen Zusammenhänge ihres Schöpfers in ein Weltbild einfügt, dass diese Weltanschauung dann den Schülern und Anhängern jenes Mannes gross und nachlebenswert erscheint – kurz, dieser ganze persönliche und historische Zusammenhang einer Theorie mit einer bestimmten Weltanschauung bedeutet noch lange keinen sachlichen, logischen und daher notwendigen Zusammenhang. Wäre es sogar wirklich historisch richtig, dass Marx und Engels Materialisten gewesen seien – wie Plechanow dies meint, wo ich, wenigstens was Marx betrifft, nur eine Art des naturwissenschaftlichen Positivismus erblicken kann, nach Art etwa des von Ernst Mach vertretenen –, so wäre damit immer nur erst dargetan, dass der Materialismus sich mit dem Marxismus verbinden liess, ja vielleicht sogar für seine Entwicklung besonders förderlich war, keineswegs aber zu seiner Begründung erforderlich ist, falls der Marxismus eben in einem Wesen doch nur eine Theorie, also eine wissenschaftliche Erkenntnis von bestimmten Teilvorgängen der Welt, aber nicht eine Philosophie, eine Erkenntnis von der gesamten Welt sein will.

Kann man nun im Ernst bezweifeln, dass das, was wir Marxismus im eigentlichen Sinne nennen und als die spezifische Leistung von Marx überkommen haben, nur jenen Charakter der Theorie hat und nach dem ganzen geistigen Streben Marx’ auch nur haben sollte? Die Lehre von der Gesetzmässigkeit der Geschichte und in Anwendung derselben die Lehre von dem Wesen der ökonomischen Kategorien und der wirtschaftlichen Entwicklung der Gesellschaft – das ist der Marxismus, und als solcher ist er, was ja gerade sein Stolz ist, Wissenschaft, der Anfang einer neuen exakten Theorie von der Gesellschaft, einer Soziologie, die auf diesen Namen wirklich wird Anspruch machen können. Aber- diese Theorie, ihre Problemstellungen und ihre Lösungsversuche haben mit Weltanschauungsfragen gar nichts zu tun. Sie können natürlich und werden gewiss auch immer zur Bildung einer Weltanschauung herangezogen werden. Denn das wäre eine seltsame Weltanschauung, die von der Wissenschaft ihrer Zeit, und noch dazu, wo diese sich auf das höchste Naturobjekt, die menschliche Gesellschaft, bezieht, absehen möchte. Aber auf diese Weise kann sie doch ebensogut sich mit der einen wie mit der anderen philosophischen Weltanschauung verbinden, ebensogut mit einer materialistischen wie mit einer spiritualistischen, ebensogut mit einem System des Pantheismus oder des Atheismus. Es ist lediglich Sache der gedanklichen Arbeit der Anhänger dieser verschiedenen Systeme, jenen Zusammenhang herzustellen, der ihnen logisch genügend erscheint. [2] Und es ist allererst ein besonderes Problem der Erkenntniskritik, die jenseits aller dogmatischen Weltanschauungslösungen steht, zu untersuchen, in welchen gedanklichen Zusammenhang sich das Wesen der Wissenschaft widerspruchslos einfügen lässt, in den des Realismus oder des Idealismus.

Man wird daher der Meinung Plechanows schwerlich zustimmen können, dass die Trennung der ökonomischen und historischen, will sagen, geschichtstheoretischen Bestandteile des Marxismus von seinen philosophischen die ersteren in der Luft schweben lasse. So wichtig und unentbehrlich jener Zusammenhang für das Verständnis des historischen Werdens des Marxismus ist, so dass dadurch am ehesten seine Auffassung als Materialismus beseitigt werden kann, so wenig entscheidend ist dieser Zusammenhang für das richtige Verständnis der geschichtstheoretischen und nationalökonomischen Feststellungen selbst, die in ihrer Sphäre, welche die der wissenschaftlichen Erkenntnis ist, genau so unberührt bleiben von ontologischen Weltanschauungsfragen, wie zum Beispiel das Gravitationsgesetz dasselbe bleibt für den Theisten und den Atheisten, ja wie sogar die biologischen Gesetzmässigkeiten für den denkenden Theisten, der die Wissenschaft ernst nimmt, nur ein Anlass mehr werden, die Weisheit seines Schöpfers zu bewundern, im übrigen aber nicht anders anerkannt werden als von dem Atheisten. Man wird im Gegenteil sagen müssen, dass nicht nur jede Gleichstellung des Marxismus mit einer Weltanschauung, sondern auch jede Verbindung desselben mit einer Philosophie in dem Sinne, dass diese seine notwendige Begründung sei, abzulehnen ist. Denn sie belastet den Marxismus mit Problemen und Begriffen, die mit seinen eigentlichen Erkenntniszielen gar nichts zu tun haben und nur geeignet sein können, seine ohnehin nicht leicht zu fassenden Grundbegriffe mit der ganzen Mühseligkeit philosophischer Streitfragen zu verquicken, die durch ihn nicht klarer gestellt werden können und für ihn nichts Erspriessliches zu leisten imstande sind. Auch hier gibt es, wie zu jeder anderen Wissenschaft, nur ein Verhältnis, in welchem die Philosophie einen unmittelbaren Gewinn für die Wissenschaft erzielen kann durch Klarstellung ihrer Begriffe und durch Untersuchung der Bedeutung und Grenzen ihrer Mittel: das ist die Erkenntniskritik. Sie, für welche alle Wissenschaften wie alle Weltanschauung gleicherweise nur Objekt ist, sie ist natürlich auch gegenüber dem Marxismus nötig. Das ist aber keine philosophische Ergänzung oder Begründung des Marxismus, die Plechanow mit Recht ablehnt, sondern das ist dieselbe kritische Arbeit an ihm als dem geisteswissenschaftlichen Teil unserer Erkenntnis, wie sie schon seit Descartes an dem naturwissenschaftlichen Teil derselben geübt, seit Kant aber erst ihr eigentliches Fundament erhalten hat. Diese erkenntniskritische Arbeit der Philosophie kann gar nicht die Ambition haben, den Marxismus zu verbessern, da sie immer nur den Feststellungen der Wissenschaft folgen kann, deren logischen Aufbau sie untersucht. Wohl aber kann sie gerade auf dem Gebiete der Geisteswissenschaften durch bewusste Herausarbeitung eben derselben formalen Geisteselemente, durch deren vielfach unbewusste Verwertung die Geisteswissenschaften erst ihre Gesetzmässigkeiten zu gewinnen imstande sind, nun auch eine klarere und tiefer zu begründende Fortentwicklung des Marxismus ermöglichen. Dies trifft insbesondere, wie wir noch sehen werden, bei der materialistischen Geschichtsauffassung zu.

Müssen wir so den sachlichen Zusammenhang des Marxismus als soziale Theorie mit irgend einer Weltanschauung ablehnen, so insbesondere den mit dem philosophischen Materialismus, weil ja gerade infolge der sehr unpassenden Bezeichnung der Grundlehre des Marxismus als einer „materialistischen“ Geschichtsauffassung seit jeher die Gefahr einer Verquickung und Verwirrung seiner klaren theoretischen Gesichtspunkte mit den dogmatischen und metaphysischen Sätzen des philosophischen Materialismus nahegelegt war. Und tatsächlich ist diese Gefahr auch von Anhängern wie Gegnern des Marxismus nicht vermieden worden. Ich habe schon einmal in ausführlicherer Weise darzulegen versucht, wie wenig die Grundlehre von Marx und Engels selbst in jenem geistigen Zusammenhänge, aus dem sie hervorging, mit dem Materialismus zu tun hat und wie der Ausdruck „materialistisch“ oder „materielle Grundlage“ der Ideologie etc. in dieser Entstehungsgeschichte der marxistischen Grundlehre gar nicht anders zu verstehen ist denn als eine bewusste Opposition zu der spekulativen, sublimierenden, von aller Erfahrung abstrahierenden Philosophie Hegels, der gegenüber auf den materiellen Boden der Erfahrung in Natur und Geschichte zurückzukehren war. [3] Der „Materialismus“ der Marxschen Geschichts- und Gesellschaftstheorie ist nichts anderes als die polemische und programmatische Betonung des empirischen Standpunktes, die uns heute gar nicht mehr so wesentlich erscheint, weil dieser Standpunkt nun längst zu dem gesicherten Besitz auch für die Sozialwissenschaft gehört, die so lange der Tummelplatz mehr oder minder geistvoller Konstruktionen gewesen war. Heute erscheint uns viel wichtiger, diejenige Komponente in der Bezeichnung der Marxschen Theorie hervorzuheben, welche für die Kausalerklärung des Sozialgeschehens von entscheidender Bedeutung geworden ist; und da wäre der Name eines sozialökonomischen Determinismus vielleicht ein wenig irreführender als der bloss noch historisch zu verstehende einer materialistischen Geschichtsauffassung.

Die Loslösung der sogenannten materialistischen Geschichtsauffassung von dem philosophischen Materialismus wird aber sogar für diejenigen, die sie untrennbar mit der Weltanschauung ihrer Schöpfer verbunden halten, um so leichter sich vollziehen, wenn wir erst einmal zur Klärung darüber gelangt sind, dass weder die Philosophie Feuerbachs noch die von Marx und Engels nach der eigenen Charakteristik Plechanows ein Materialismus genannt werden kann, solange man entschlossen ist, mit diesem Wort einen deutlichen und widerspruchslosen Begriff zu verbinden.

Was ist der Materialismus? Eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Welt, nach ihrem Sein an sich, kurz, eine ontologische und deshalb von vornherein metaphysische Auffassung. Er ist jene Auffassung von dem Wesen der Welt, wonach in der Materie das einzige und alleinige Erklärungsprinzip für alle ihre Erscheinungen, körperliche wie geistige, gefunden wird. Der Stoff, das Raumerfüllende ist das an und für sich auch unabhängig von irgendwelcher geistiger Erfassung Bestehende, das Geistige ist vielmehr erst ein Produkt oder doch eine spät erst auftretende Funktion dieses Materiellen, welche lediglich aus einer Komplikation in der Zusammensetzung der Stoffe und ihrer Kräfte entspringt. Von der einfachen Bewegung elementarer Kräfte bis zu der äussersten Komplexität des organischen und psychischen Lebens einen lückenlosen Mechanismus rein materieller Agentien herzustellen – das ist das Ziel des Materialismus und macht seinen Charakter als in sich geschlossene, konsequente Weltanschauung aus.

Von da aus ist es sofort klar, dass es eine arge Durchbrechung seines Gedankengefüges und ein völliger Sturz von der Höhe seiner Prinzipien ist, wenn man den Gedanken einer Beseelung der Materie noch mit seinen Grundsätzen vereinbar hält, wie dies Plechanow tut. Wenn er in seiner neuesten Schrift und schon öfters früher einige Zitate aus den Schriften der französischen Materialisten anführt – von denen übrigens Diderot immer eine mehr dem Pantheismus als dem Materialismus zugewendete Stellung eingenommen hat – so würden diese Stellen, wenn sie eben mehr wären als gelegentliche Aperçus und hypothetische Annahmen, die weiter im System dieser Denker gar keine Verwertung mehr fanden, doch nur beweisen, wie schwer die konsequente Durchführung einer materialistischen Metaphysik ist. Denn selbst in der Wendung, dass das Denken eine Eigenschaft der Materie ist wie die Undurchdringlichkeit oder die Elektrizität, wird zunächst im Widerspruch mit jeglicher Erfahrungsmöglichkeit der ganzen Materie eine Eigenschaft beigelegt, die nirgends an ihr gefunden wird als in einem kleinen Ausschnitt derselben, in der menschlich organisierten, und wird derart das hier, wo es der Untersuchung offen liegt, nicht lösbare Problem des Ursprunges dieses Geistigen aus dem Materiellen einfach an den Anfang aller Dinge zurückgeschoben und dort – unbeantwortet gelassen. Denn das Geistige eine Eigenschaft der Materie zu nennen ist ein blosses Wort, dem alle Begriffe fehlen. Eine Eigenschaft ist ja nichts anderes als das Produkt bestimmter physikalischer oder chemischer Vorgänge, durch deren Aufdeckung jene Eigenschaften ihre Erklärung finden. Auf welche Vorgänge der Materie wäre aber ihre Eigenschaft der Geistigkeit zurückzuführen? Entweder – wie es der strenge Materialismus mit Recht tut – eben auf jene physikalischen oder chemischen Vorgänge nur in einer besonderen Komplikation – dann ist es überflüssig, der Materie eine besondere Eigenschaft des Geistigen beizulegen; oder aber auf andere, zu diesen physikalischen und chemischen Vorgängen noch hinzutretenden besonderen Erscheinungen, – dann tritt eben zu dem Materiellen doch bereits ein Geistiges als eine Sonderart von Vorgängen, mag sie auch in einer kaum wirklich ausdenkbaren Weise als „materiell“ angesprochen werden.

In der Tat ist die Allbeseelung ein Verzicht auf den eigentlichen theoretischen Systemwert des Materialismus, durch den er allein seine Bedeutung als ein Versuch einer einheitlichen, monistischen Weltauffassung bewähren kann. Er führt den Dualismus von Körper und Geist, den er so heftig bekämpft, in einem viel weiteren Umfang ein, als je sein dualistischer Gegner dies zu tun wagte, ohne dass er irgend einen Grund dafür anzugeben vermöchte, warum dieser Dualismus, der alle Erfahrungsgrenzen weit übersteigt, besser sein soll als jener alte von Körper und Geist, der in den menschlichen Lebenserscheinungen eine Erfahrungsgrundlage wenigstens für sich behaupten darf. Wenn Plechanow den Hylozoismus einen naiven Materialismus nennt (S. 6), so mag man das für einen Standpunkt gelten lassen, der eben noch naiv das Geistige genau so als eine Eigenschaft der Materie ansehen konnte wie ihre Undurchdringlichkeit, weil er überhaupt noch nicht dazu gelangt war, die Qualitäten in ihre Prozesse aufzulösen. Sobald aber diese Naivetät überwunden war, dagegen immer deutlicher die Denkunmöglichkeit hervortrat, die Qualität des Geistigen in einen Prozess des Physischen aufzulösen, bedeutet die Ausstattung der Materie mit Empfindung oder irgend einer Art Beseelung nur einen Rückfall in eine Naivetät, die nicht mehr das Produkt einer frischen Unbefangenheit der Auffassung ist, sondern einer Verlegenheit des in eine Sackgasse geratenen Denkens. Die Geistigkeit als Eigenschaft war im naiven Hylozoismus eine scheinbar alltägliche und lebensvolle Qualität, sie wird im entwickelteren Materialismus der Folgezeit zu dem, was er am bittersten hasst, zu einer qualitas occulta.

Wenn die Beseelung der Materie so vielfach als eine willkommene Ergänzung des Materialismus gehalten wird, so nicht nur deshalb, weil sie eine so bequeme Lösung für das Problem des Geistigen innerhalb der materiellen Welt zu geben scheint, sondern weil sie eine Berufung auf einen grossen Nothelfer ermöglicht, in dessen Gefolgschaft gut zu verweilen ist, die Berufung auf Spinoza. Und in der Tat scheint vielen eine grosse Verwandtschaft zwischen Materialismus und Spinozismus zu bestehen, so dass sie beide Lehren sogar zu verbinden suchen. Auch Plechanow meint, dass es nur nötig sei, die Lehre Spinozas von ihrer theologischen Form zu befreien. Dies habe bereits Feuerbach erkannt, der den Pantheismus sehr fein den theologischen Materialismus genannt habe. Feuerbachs „Humanismus“ erweise sich als ein von seinem theologischen Anhängsel befreiter Spinozismus. Und eben auf diesem Standpunkt waren Marx und Engels, als sie mit dem Idealismus brachen. „Den Spinozismus von seinem theologischen Anhängsel befreien heisst aber, seinen wahren materialistischen Inhalt aufdecken. Der Spinozismus von Marx und Engels war also der moderne Materialismus.“ (S. 15, 16)

Es muss hier dahingestellt bleiben, inwiefern die Feuerbachsche Ansicht von einer theologischen Hülle des Spinozismus berechtigt war und ob er sich bei dieser Ansicht nicht vielleicht allzusehr von Assoziationen leiten liess, die das Wort „Gott“ auslöst, die aber mit dem spinozistischen Gott gar nichts zu tun haben. Auch könnte man fragen, ob nicht das, was die „theologische“ Form des Spinozismus ausmacht, der Gedanke einer immanent geistig und streng notwendig sich auswirkenden Allbefassung der Substanz, ein für das System so charakteristischer und unentbehrlicher ist, dass ohne ihn eben gerade der besondere Geist dieser wunderbaren Weltauffassung entschwunden ist. Was aber für unsere Frage hier vor allem in Betracht kommt, ist, dass eine so scharfe Grenze zwischen Spinozismus und Materialismus besteht, dass nur eine grenzenlose Verschwommenheit der Begriffe diese Grenze niederreissen, dann aber auch alle Bestimmtheit überhaupt verwischen kann. Wobei es vielleicht nicht überflüssig ist, zu bemerken, dass es sich dabei natürlich nicht um scholastische Begriffsklaubereien handelt, vielmehr um Weltanschauungsindividualitäten, für die jene Begriffe bloss die Namen sind, deren geistiges Leben aber nur in jener individuellen Bestimmtheit auch wirklich nachgelebt werden kann.

Was nämlich den Spinozismus grundsätzlich von jeder Art des Materialismus trennt, das ist seine Lehre der vollkommensten und absoluten Parallelität des Physischen und Psychischen, so dass zwischen beiden keinerlei Kausalbeziehung besteht, keinerlei Einwirkung irgend einer Art, sondern völlige Unabhängigkeit voneinander. „Der Körper kann weder den Geist zum Denken noch der Geist den Körper zur Bewegung oder zur Ruhe oder zu etwas anderem (wenn es ein solches gibt) bestimmen.“ (Ethik III. prop. 2.) Denken und Sein sind eben nach Spinoza bloss Attribute einer und derselben Substanz, sie sind an sich gar nichts Verschiedenes, sie drücken nur eine Identität verschieden aus. (Ethik II. prop. 2 und schol.) Allein weder diesen Parallelismus noch die Identitätsanschauung kann der Materialismus in sein Lehrsystem einfügen, ohne sich direkt zu verleugnen. Ein Materialismus, der aufhört, zwischen dem Geistigen und Körperlichen eine direkte Kausal- oder, wie man dies jetzt lieber nennt, Funktionsbeziehung herzustellen, ist eben kein Materialismus mehr. Dies um so weniger, als der Standpunkt der Identität des Physischen und Psychischen unrettbar über die spinozische Form hinaustreibt, von der gerade Feuerbach mit Recht gerügt hat, dass sie eine ganz zufällige und in ihrer notwendigen Uebereinstimmung gar nicht zu begreifende Korrespondenz des Denkens und Seins statuiere. Und wirklich sind zwei Möglichkeiten einer inneren Fortentwicklung gar nicht abzuweisen, sofern man den Parallelismus nicht einfach bloss als positivistische Konstatierung verstehen, sondern als Weltanschauung aufrechthalten will: entweder muss man annehmen, dass die Substanz in ihren beiden uns allein bekannten Attributen des Denkens und Seins von vornherein so eingerichtet ist, das diese beiden sich stets und überall entsprechen – denn aus der Identität der Substanz allein folgt doch noch nicht die genaue Korrespondenz ihrer Attribute – dann mündet der Spinozismus in eine prästabilierte Harmonie, in die der Materialismus wohl gewiss nicht einstimmen wird. Oder man macht Ernst damit, dass Denken und Sein bloss zwei Ausdrucksweisen unserer Auffassung der Substanz sind, und dieser Weg führt direkt in den transzendentalen Idealismus Kants. Der Materialismus hat denn auch den Identitätsstandpunkt immer abgelehnt. Auch Plechanow weist, gestützt auf Feuerbach, diese Auffassung zurück. Nicht Identität von Körper und Geist, sondern die Einheit beider lehre den Materialismus. (S. 14.) Und wirklich hat Feuerbach immer wieder die Verschiedenheit, ja die fundamentale Unterschiedenheit des Physischen und Psychischen, des Anorganischen und Organischen dargelegt. Was bedeutet aber der Gedanke einer Einheit des an sich vom Physischen verschiedenen Psychischen mit dem ersteren anderes als die Statuierung einer durchgängigen Beziehung und Abhängigkeit beider voneinander? Der Materialismus glaubt diese Beziehung kausal herstellen zu können, Feuerbach, dadurch eben vom Materialismus geschieden und Begründer einer neuen Denkart in der deutschen Philosophie, des naturwissenschaftlichen Positivismus, begnügte sich mit der Konstatierung des einheitlichen und unaufhebbaren Zusammenhanges des Physischen und Psychischen im menschlichen Wesen, mit dem alle Philosophie zu beginnen habe. In beiden Fällen kann aber von Spinozismus keine Rede sein, so sympathisch auch sonst viele Elemente desselben den Materialismus anmuten mussten. Aber auch dem transzendentalen Idealisten zum Beispiel sind viele Charakterzüge des Materialismus sympathisch, so vor. allem seine strenge Kausalitätsauffassung, ohne dass doch Sympathie allein imstande wäre, logische Differenzen im Denken zu überbrücken. Sie kann sie höchstens im Leben abschleifen oder übersehen.

So wäre es also, um mit dem alten Jacobi zu reden, ein schlechtes Heil, das die Materialisten im Namen Spinozas fänden. Wenn aber trotzdem Plechanow die Lehre Feuerbachs und des Marxismus zwar nicht als eine Art Spinozismus, aber doch in die Nähe desselben nicht mit Unrecht stellen dürfte, so nur deshalb, weil beide eben keinen Materialismus vertreten, sondern jenen deterministischen. Positivismus, der schon aus dem Spinozismus durch Abstreifung alles dessen, was in ihm Weltanschauung sein will, gewonnen werden kann. Der positive, allen spekulativen und insbesondere teleologischen Konstruktionen abgeneigte, dagegen der empirischen Naturauffassung zugewendete Geist des Spinozismus ist der eigentliche Springquell aller Sympathie, die ihm seit den Tagen Diderots und Goethes bis auf die Zeiten der modernen Naturwissenschaft so reichlich zugeflossen ist.

Ich muss es mir versagen, in diesem Zusammenhang den quellenmässigen Nachweis der Feuerbachschen Philosophie als eines ersten Versuches des naturwissenschaftlichen Positivismus zu erbringen, als den Anfang jener Geisteslinie, auf welcher später Avenarius, Mach und in gewissem Sinne auch Ostwald, weiter vorschritten. Einiges hierüber habe ich bereits in dem vorerwähnten Kapitel meiner Marx-Studie ausgeführt. Mehreres und Genaueres hoffe ich bald an anderer Stelle nachtragen zu können. Nur sei hier bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Grundbegriff der Feuerbachschen Philosophie, der Mensch in seiner sinnlichen Bestimmtheit, in welcher Natur und Geist Zusammenstössen und auch Zusammenhängen, gleichsam das Stichwort für die positivistische Antimetaphysik unserer Zeit darstellt. Sehr fein hat Plechanow bemerkt, dass wir es bei diesem Feuerbachschen Begriff eigentlich mit einer Forschungsmethode zu tun haben. (S. 12.) Allein er irrt, wenn er meint, dass Feuerbach damit noch innerhalb des Materialismus verbleibe. Es ist ja gerade das Bewusstsein des Hinausschreitens mittels dieser Methode über die spekulativen Gegensätze des Materialismus und Spiritualismus zur vollen realen Wahrheit des Seins, wie es sans phrase ist, was Feuerbach immer wieder von seinem Prinzip hervorhebt. Darum hat er auch das Bedürfnis einer eigenen Namengebung, und so versteht man erst den folgenden Satz als eine nicht bloss rhetorische Wendung, sondern als eine programmatische Feststellung: „Wahrheit ist weder der Materialismus noch der Idealismus, weder die Physiologie noch die Psychologie; Wahrheit ist nur die Anthropologie, Wahrheit ist nur der Standpunkt der Sinnlichkeit, der Anschauung, denn nur dieser Standpunkt gibt mir Totalität und Individualität.“ (II. Bd., S. 340, Ausgabe Jodl.) Der Standpunkt der Anthropologie oder auch des Humanismus, wie Feuerbach ihn ebenfalls nennt, hat nichts zu schaffen mit dem, was wir heute Anthropologie oder Humanismus nennen: es ist der Standpunkt des auf die Einheit der menschlichen Erfahrung zurückgehenden und sich mit denkender Bearbeitung derselben begnügenden Positivismus. Daraus erklärt sich nun auch die so häufige Hervorhebung Feuerbachs, dass seine Philosophie – keine Philosophie sei, eine für alle Arten des Positivismus charakteristische Absage.

Wie Marx und Engels diesen Standpunkt, der bei Feuerbach ein vorwiegend naturwissenschaftlicher war, durch die Einführung der menschlichen Tätigkeit weiterentwickelt und eigentlich erst universal gemacht haben, hat Plechanow in trefflicher Weise dargelegt. Auch hier muss ich bezüglich der Darlegung des nicht materialistischen Charakters dieser Denkrichtung, besonders aber bei Marx, auf meine vorhin zitierten beiden Schriften verweisen. Auch spricht das stete Bedürfnis beider Denker, ihre Auffassung von dem naturwissenschaftlichen Materialismus abzuheben und sie durch das dialektische Moment auszuzeichnen („dialektischer Materialismus“) dafür, wie sehr sie selbst ihren Standpunkt als einen vom Materialismus verschiedenen empfanden. Gewöhnlich meint man dagegen, er sei bloss von dem bisherigen Materialismus verschieden, Marx und Engels hätten eben einen neuen, entwickelteren Materialismus begründet. Allein auf diese Weise versandet jede weitere Diskussion in einen öden Wortstreit. Will man zwei ganz verschiedene Dinge mit dem gleichen Namen benennen, so mag man es tun; nur verzichte man dann darauf, aus solchen Voraussetzungen irgendwelche klaren Konsequenzen abzuleiten. Im Grunde genügt bereits die Plechanowsche Feststellung, dass dieser „entwickeltere Materialismus“ moderner Spinozismus sei, um jeden, der sie für richtig hält, einsehen zu lassen, dass er eben nicht mehr Materialismus ist. Und gerade die Dialektik in ihrer vom Kopf auf die Füsse gestellten Form ist ein weiteres Trennungsmotiv. Denn sie ist der grossartige Versuch, durch eine über die Gegensätze metaphysischer und dogmatischer Begriffsbildungen wegschreitende neue Denkweise dem realen Fluss der Dinge zu folgen, ihren positiven und totalen Sachverhalt zu spiegeln. Gerade diese Ergänzung und Bereicherung Feuerbachs wäre am wenigsten geeignet, den positivistischen Grundcharakter seiner Philosophie zu ändern. Und dies gilt noch viel mehr von der Art der Einfügung der menschlichen Tätigkeit in das Gefüge der Naturwirksamkeit, worin man mit Recht den Hauptfortschritt der marxistischen Auffassung über die bloss naturwissenschaftliche des Materialismus erblickt. Denn diese Einfügung vollzieht sich ja überhaupt nicht mehr auf philosophischem, sondern auf theoretischem Gebiete. [4] Damit sind wir bis an den zweiten Teil des Büchleins Plechanows gelangt, in welchem er eine Fülle von lichtvollen Auseinandersetzungen über das Wesen der Dialektik und der materialistischen Geschichtsauffassungen gibt, mit denen sich ein nächster Aufsatz beschäftigen soll.

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Anmerkungen

1. Stuttgart, Verlag Dietz, 1910.

2. So gilt vielen der Determinismus des menschlichen Willens als eine Lehre des Materialismus. Allein die materialistischen Stoiker und Epikureer liessen den freien Willen zu, während Kant einer der strengsten Deterministen war. Wie widerspruchsvoll die französischen Materialisten sich noch der Frage des sozialen Determinismus gegenüber verhielten, hat gerade Plechanow selbst schon öfter dargelegt, während Herder von einem ganz anderen als materialistischen Standpunkt einen grossen Entwurf zur deterministischen Auffassung der Geschichte lieferte, besonders aber Kant Grundgedanken einer Mechanik der Geschichte und eines dialektischen Verlaufes ihres Prozesses entwickelte, die erst in unserer Zeit zur vollen Würdigung gelangen.

3. Vergleiche Max Adler, Kausalität und Teleologie, Marx-Studien, I. Band, Kapitel XI und Marx als Denker, Seite 56 und 57.

4. Wenn neuerdings der Machsche Positivismus in so nahe Beziehung zum Marxismus gebracht wird, so ist dies nur durch diese positivistische Grundstimmung der Feuerbach-Marxschen Denkweise überhaupt ermöglicht worden, wie sie dann ziemlich vergröbert, aber um vieles noch deutlicher bei Dietzgen hervorgetreten ist. Ich lehne mit Plechanow diese Verbindung von Mach und Marx als eine weiter auszubauende ab, aber aus dem Grunde, weil die Machsche Antimetaphysik in Wirklichkeit nur eine neue Form der Metaphysik ist, bloss dass sie sich dies nicht eingestehen will, und weil der moderne wie der ältere Positivismus überhaupt nur ein Verzicht auf Erkenntniskritik ist, nicht ein Resultat derselben, wie er fälschlich von sich meint.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024