Max Adler

Zu Saint-Simons 150. Geburtstag

Geboren 17. Oktober 1760, gestorben 19. Mai 1825

(1. November 1910)


Der Kampf, Jg. 4 2. Heft, 1. November 1910, S. 6–14.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

Von den drei ragenden Gestalten, die am Anfang des 19. Jahrhunderts die Entwicklung des modernen Sozialismus einleiten, ist die des Grafen Saint-Simon vielleicht die interessanteste, weil sie jedenfalls die widerspruchsvollste ist. Sprössling eines uralten Adelsgeschlechtes, ist er stolz auf seine Abstammung von Karl dem Grossen und ist gleichwohl ein erklärter Feind aller Geburtsvorrechte des Adels, dessen „auf ruchlose Gewaltherrschaft“ gegründeten politischen Einfluss er durch eine Neuorganisation der Gesellschaft für immer brechen will; ganz erfüllt von dem neuen Gedanken einer Herrschaft der Wissenschaft auch über das soziale Leben, in welchem fortan nur Erkenntnis eine positive Politik leiten soll, eine Politik als Wissenschaft, schliesst er doch mit der Verkündung eines „neuen Christentums“ ab, das als der eigentliche Führer zur sozialen Zukunft erkannt wird; als einer der ersten bis zu der gewaltigen geistigen Entdeckung vorgedrungen, dass die Wurzeln der Politik in der Oekonomie zu suchen sind, dass also die Wandlung der gesellschaftlichen und staatlichen Daseinsformen aufs innigste zusammenhängt mit der Entfaltung der ökonomischen Kräfte im Innern des gesellschaftlichen Organismus, hofft er doch alles zur Verbesserung der Gesellschaft nur von dem guten Willen der Leiter der Industrie, ja eigentlich bloss der Fürsten und Reichen. Und der Mann, der nicht müde wurde, die Forderung einzuschärfen, dass es für die ganze Gesellschaft keine andere Aufgabe geben könne, als an der Verbesserung des Loses der zahlreichsten und ärmsten Klasse, des Proletariats, zu arbeiten, wollte doch dieses Proletariat selbst von jeder Mitarbeit zu diesem Ziele strenge ausgeschlossen wissen. Kommt noch dazu, dass Saint-Simon die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, Privateigentum, Erbrecht und freie Konkurrenz, nie eigentlich in Frage gestellt hat und nie bis zu dem Gedanken des produktiven Kommunismus vorgeschritten ist, wie Fourier und Owen, so dass er im heutigen Sinne des Wortes überhaupt nicht als Sozialist bezeichnet werden könnte, und trotzdem der begeistert verehrte Schutzpatron einer sozialistischen Bewegung werden konnte; dass er in realistischer Beschränkung auf die ihn umgebende Welt nur an diese seine Reformpläne anknüpfen wollte und doch gerade durch die Art, wie er dies tat, sich dem Utopismus einreihte – kommt dies alles zusammen, dann scheint so viel Problematisches sich an diese Gestalt zu drängen, dass sie wie ein grosses Rätsel anmutet.

Dieses Rätsel liegt aber weniger in der Person Saint-Simons selbst, als in dem Standpunkt, den die Beurteilung seines Wesens, seines geistes- und sozialgeschichtlichen Charakterbildes eingenommen hat. Solange man, irregeführt durch seine Bezeichnung als Sozialisten, ihn mit dem Klassenkampf oder mit dem Endziel des Proletariats in einen geschichtlichen Zusammenhang bringen wollte als dessen ersten Verkünder oder auch nur ahnenden Propheten, musste man jedesmal die Wirklichkeit seiner Gedanken in diesem Punkte, wie sie uns durch seine Schriften übermittelt wird, als einen der störendsten Widersprüche empfinden. Sehen wir doch noch in der letzten und berühmtesten Schrift Saint-Simons, im Neuen Christentum, wie er dort auf den Einwand, warum er nicht die Arbeiter, als die an der Verbesserung der Gesellschaft am meisten Interessierten, zur direkten Mitarbeit aufruft, antwortet, dass es seine „erste Sorge“ sein musste, „alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen, damit die Verkündigung der neuen Lehre die ärmste Klasse nicht zu Gewalttätigkeiten gegen die Besitzenden und gegen die Regierungen aufreize. Ich musste mich zunächst an die Reichen und Mächtigen wenden, um sie der neuen Lehre günstig zu machen, um ihnen fühlbar zu machen, dass sie ihren Interessen nicht widerspricht; denn es gibt offenbar gar kein Mittel, die sittliche und physische Existenz der ärmsten Klasse zu verbessern, als eben die Mittel, die gleichzeitig der Klasse der Besitzenden eine Zunahme ihrer Genüsse garantieren“.

Und ebensowenig konnte es gelingen, sich ein einheitliches Bild von seinem Wesen zu machen, wenn man, wie dies besonders neuerdings geschieht, ihn auf eine Höhe der sozialökonomischen und soziologischen Erkenntnis stellte,. an die er nur mit einigen ahnungsvollen Lichtblitzen streifte, ohne ihrer noch wirklich teilhaftig geworden zu sein. Um Saint-Simons geschichtliche Grösse richtig auf sich einwirken zu lassen, die er reichlich genug errungen, so dass er wahrlich nicht nötig hat, sich sie erst literarhistorisch ankonstruieren zu lassen, muss man festhalten, dass er für seine Person noch nichts von dem war, als dessen geistiger Ahnherr er später angesprochen wurde, weder Sozialist, noch Positivist oder gar ökonomischer Materialist, sondern die gärende Verbindung der Keime aller dieser Gedankenrichtungen unter einem mächtigen Interesse, welches im Grunde aber noch kein anderes war, als das Kulturinteresse des erstarkenden Bürgertums, der die alte Welt umgestaltenden bürgerlichen Industrie.

Die Bezeichnung Saint-Simons als eines Sozialisten beruht auf der traditionellen Zusammenstellung dieses Denkers mit Owen und Fourier, die zuerst vielleicht von Louis Reybaud vorgenommen und in die deutsche Literatur durch Lorenz Stein, vornehmlich aber durch das Kommunistische Manifest eingeführt wurde. Dabei wird jedoch übersehen, dass nach dem Sprachgebrauch der Vierzigerjahre, aus welchen diese Zusammenstellung herrührt, der Ausdruck „Sozialist“ noch keineswegs das besagte, was wir heute darunter verstehen. Die heute von diesem Worte unabtrennbare Beziehung auf eine Sozialisierung der Gesellschaft im Sinne der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und auf eine Politik im Sinne des proletarischen Klassenkampfes fehlte damals noch gänzlich. Darauf hat ja auch schon Friedrich Engels in seiner letzten Vorrede zum Kommunistischen Manifest aufmerksam gemacht, als er schrieb, dass die Verfasser desselben zur Zeit, da es erschien, es nicht hätten ein sozialistisches nennen dürfen. „Unter Sozialisten verstand man 1847 zweierlei Arten von Leuten. Einerseits die Anhänger der verschiedenen utopistischen Systeme ..., anderseits die mannigfaltigsten sozialen Quacksalber ..., in beiden Fällen Leute, die ausserhalb der Arbeiterbewegungständen und die vielmehr Unterstützung suchten bei den „gebildeten“ Klassen. Derjenige Teil der Arbeiter dagegen, der, von der Unzulänglichkeit blosser politischer Umwälzungen überzeugt, eine gründliche Umgestaltung der Gesellschaft forderte, der Teil nannte sich damals kommunistisch.“ Auch Lorenz Stein war in jenem Werk, in dem er 1842 die Lehren Saint-Simons zuerst in einem allgemeinen geschichtlichen Zusammenhang der deutschen Oeffentlichkeit vermittelte, von dem Unterschied der beiden Begriffe Sozialismus und Kommunismus ausgegangen (Der Sozialismus und Kommunismus des heutigen Frankreichs) und hatte als Sozialismus jene Gedankenrichtung bezeichnet, die darauf ausgeht, „ein System der Organisation der Industrie als Organisation der Gesellschaft suchen und realisieren zu wollen“ (Seite 130), und zwar nach bestimmten Grundideen, während der Kommunismus rein negativ gegen das Bestehende sei und nicht durch die Gewalt der Wahrheiten (Ideen), sondern der Masse die alte Gesellschaft Umstürzen wolle. Wie wenig gründlich, ja borniert in bürgerlichem Klassenvorurteil auch dieser Unterschied Steins ist, so bewährt er doch die tatsächlich bestehende Unterscheidung dieser beiden Begriffe und bestätigt die Erklärung derselben durch Engels. Damit sind wir nun aber auch über die historische Stellung Saint-Simons orientiert, wenn wir sehen, wie er sowohl bei Stein als im Kommunistischen Manifest den Sozialisten zugezählt wird, im letzteren speziell dem kritisch-utopistischen Sozialismus neben dem kritisch-utopistischen Kommunismus Owens und Fouriers.

Der Sozialismus Saint-Simons bedeutet also noch keine prinzipielle Ueberwindung der bürgerlichen Gesellschaft, sondern nichts anderes als eine Lehre, die nicht mehr auf wirtschaftliche oder politische Verbesserung im einzelnen gerichtet war, sondern erkannt hatte, dass der Sitz des Uebels im mangelhaften Zustand der ganzen Gesellschaft selbst gelegen sei und daher auch nur durch eine Ordnung (Reform) derselben beseitigt werden könne. Es ist aber doch dieser Blick auf die Gesellschaft, auf das Soziale als die Grundlage alles Politischen, was mit Saint-Simon jenen neuen Standpunkt in der Betrachtung des Lebens der Staaten und Völker herbeiführt, welcher der bis dahin wesentlich nur politisch denkenden Zeit das Bedürfnis erstehen lasst, für diesen ganz neuen Gesichtspunkt das neue Wort „Sozialismus“ zu prägen. Unter diesem Begriff rückt mit einem Male der tatsächliche lebendige Zusammenhang der Menschen, der bisher durch den rechtlichen und staatlichen ganz zurückgedrängt war, in den Vordergrund des Interesses. Daher bei Saint-Simon bereits die folgenschwere Erkenntnis des Unterschiedes zwischen politischer und sozialer Verfassung und der relativen Nebensächlichkeit ersterer gegenüber letzterer; daher seine Geringschätzung der bloss politischen „Menschenrechte“ und der Freiheitsforderung des politischen Liberalismus, durch welche das Problem der sozialen Freiheit nur gestellt, aber nicht gelöst worden sei. Von da aus muss Saint-Simon auch schliesslich zu der Erkenntnis der überragenden Bedeutung der wirtschaftlichen Erscheinungen für die geistige und politische Entwicklung der Gesellschaft gelangen, zur Erkenntnis von der Bedeutung der Industrie, deren Fortschritte er in seinem Katechismus der Industriellen als die sichersten („les plus positivs de tous“) bezeichnet und in welcher er in letzter Linie „alle wirklichen Kräfte der Gesellschaft“ wurzeln sieht.

Wenn derart Saint-Simon besonders in seinen letzten Schriften eine Fülle glänzender Bemerkungen ganz im Sinne einer ökonomischen Geschichtstheorie macht, wenn er insbesondere auch die Bedeutung des Klassengegensatzes für die Geschichte des Mittelalters und der neueren Geschichte erkannt hatte und den Gegensatz des Industrialismus zu der Wirtschaftsverfassung des ancien regime als die treibende Kraft seiner Gegenwart immer schärfer herausstellte, so muss man sich doch hüten, in diesen ökonomischen Einsichten irgend etwas einer einheitlichen Grundauffassung Aehnliches zu erblicken, zu welcher Saint-Simon sich etwa zuletzt durchgerungen hätte. Unvermittelt bleiben vielmehr daneben Anschauungen bestehen, die seiner intellektualistischen Geschichtsauffassung entspringen, von der wir gleich sprechen werden, sowie die damit zusammenhängende, sein ganzes Schaffen begleitende Vorstellung von der selbständigen Macht einer absoluten Menschheitsmoral, die zu einer neuen Religion, einer sozialen Religion ausgestaltet werden müsse. Deshalb ist es so charakteristisch, wie die Idee des Klassengegensatzes, so fruchtbar bei Saint-Simon in ihrer Anwendung auf die Vergangenheit und unmittelbare Gegenwart, solange es sich dabei um die Darstellung und Begründung der Klasseninteressen des aufsteigenden Bürgertums handelt, vollständig versagt, um den neuen Klassengegensatz des Proletariats zu erkennen. Dieses erscheint ihm vielmehr nur als der wichtigste und ausgedehnteste Teil einer einheitlichen Klasse von produktiv Tätigen, der Klasse der Industriellen, zu der er die Arbeiter mit den Unternehmern, Gelehrten und Künstlern vereinigt. Hier tritt er nur mehr als der edelmütige und zugleich kluge Menschenfreund auf, der die Reichen beschwört, ihrer armen Mitbrüder nicht zu vergessen, um so mehr, als dies in ihrem eigenen Interesse liege. „Ich musste“, heisst es im Neuen Christentum und ähnlich auch schon im „Industriellen System“, „den Künstlern, den Gelehrten, den Unternehmern klar machen, dass ihre Interessen im Grunde dieselben sind, wie die der breiten Volksmassen, dass sie zur Klasse der Arbeiter gehören, ohne aufzuhören, ihre natürlichen Führer zu sein.“ Unzweifelhaft rückt das Interesse der zahlreichsten und ärmsten Klasse, wie Saint-Simon gewöhnlich das Proletariat bezeichnet, zuletzt geradezu in den Mittelpunkt seines Denkens und Wirkens. Aber es ist doch so, wie Marx schon im Kommunistischen Manifest es bezeichnete: „Nur unter dem Gesichtspunkt der leidendsten Klasse“ existiert das Proletariat für Saint-Simon. Es ist eben die Betonung des Klassengegensatzes bei ihm noch nichts anderes als die bewusst gewordene ökonomische Gegensätzlichkeit der neuen industriellen Welt gegen Feudalismus und Kirche; aber es fehlt noch ganz und gar die eigentliche Erkenntnis des Klassenkampfes als eines Bewegungsgesetzes der Geschichte selbst. Darum konnte Saint-Simon, so sehr es gewiss, um mit Engels zu feden, eine höchst geniale Entdeckung war, unmittelbar nach den Stürmen der französischen Revolution in dieser bereits auch die Gegensätzlichkeit von Bürgertum und Besitzlosen wirksam erkannt zu haben, doch darüber hinaus nicht zur Erkenntnis der notwendigen Ausmündung dieses Klassengegensatzes in einen Klassenkampf des Proletariats gelangen, weil er, bei aller Ueberzeugung von einer Neuordnung der bürgerlichen Gesellschaft, doch eine Entwicklung über die Grundlagen derselben hinaus noch nicht begriff. Den Gegensatz von Unternehmertum und Proletariat in dem Wesen der bürgerlichen Wirtschaft begründet zu sehen, war ihm noch versagt; die Tatsache der Ausbeutung des Proletariats in der Lohnarbeit entzieht sich noch ganz seinem Blick. Und damit musste ihm auch die Notwendigkeit der Ueberführung der bürgerlichen Gesellschaft in eine auf ganz neue Wirtschaftsprinzipien gegründete kommunistische Gesellschaft verschlossen bleiben.

Es ist daher nicht richtig, wenn Muckle in seiner schönen, nur die Bedeutung Saint-Simons ganz ausserordentlich überschätzenden Monographie von diesem grossen Utopisten meint, dass er bereits jenen geschichtlichen Standpunkt gegenüber der kapitalistischen Gegenwart gewonnen hat, den wir wohl doch erst Karl Marx verdanken: sie als eine notwendige Uebergangszeit in einem grossen sozialen Werdeprozesse anzusehen, und dass er dadurch im vorteilhaften Gegensatz zu den beiden Utopisten Owen und Fourier stehe. Allein auf der einen Seite hat zumindestens Fourier in seiner schneidenden Kritik der „Civilisation“, gestützt auf seine zwar phantastische, aber gleichwohl nicht aller ernsteren Bedeutung entbehrenden Theorie der geschichtlichen Entwicklung, ein nicht geringeres Bewusstsein von dem „Uebergangscharakter“ der Gegenwart gehabt, dazu jedoch den Ausblick auf eine prinzipiell neuartige Gesellschaftsform, für welche Owen sogar schon die Kräfte des Proletariats selbst in Bewegung zu setzen begann, während anderseits es bei Saint-Simon sich gar nicht um einen Uebergang in eine neue Gesellschaftsform handelt, sondern lediglich um bewusste und planmässige Verbesserung, Wohnlichmachung der bestehenden Gesellschaft. Die geschichtsökonomischen Feststellungen Saint-Simons, die grossartige Idee der Umwandlung der Politik in eine Wissenschaft von der Produktion und das Hervortreten der Industrie als des eigentlichen Fundaments aller Regierung und alles Verfassungswesens, somit als des Sozialisierungsprinzips einer richtigen Einrichtung der modernen Gesellschaft – dies alles ist hiernach nichts anderes als der Ausdruck des Klassen- und Kulturinteresses des aufstrebenden tätigen Bürgertums, als dessen Herold Saint-Simon auftritt, obgleich er schon das Wohl des Proletariats verficht, eines Bürgertums, das noch glauben kann, eine auch für das Proletariat harmonische Welt begründen zu können, weil es noch an eine Macht der Idee neben dem ökonomischen Interesse glaubt, an die selbständige Macht der Wissenschaft, Moral und Religion. Der Sozialismus Saint-Simons, der Traum einer Gesellschaftsordnung, in welcher alle wirklich produktiven Kräfte der Gesellschaft ihren eigentlichen Zielen werden zugeführt werden und so ein Reich der freien Entfaltung für jeden wird begründet werden können, ist durch die selbstverständliche Bedingung, dass dies alles ohne Umsturz der bürgerlichen Eigentums- und Wirtschaftsordnung zu erfolgen habe, ersichtlich nur der Ausdruck des Kulturinteresses des Bürgertums auf jener Stufe seiner Entwicklung, da es, noch im Vormarsch, sich auch als Vertreter des ganzen Volkes, ja gerade seiner tätigsten und leidendsten Schichten fühlen durfte, und ist ebendeshalb zu einem Vermächtnis geworden, das heute nur das Proletariat erfüllen kann. [1]
 

II.

Von dem Gesichtspunkt des bürgerlichen Kulturinteresses als dem treibenden Motiv im Denken und Wirken Saint-Simons gestaltet sich nun das anscheinend Widerspruchsvolle seines Wesens zu einer grossartigen Lebendigkeit und Tiefe seines Denkens. In der imponierenden Entwicklung der exakten Wissenschaft am Ende des 18. Jahrhunderts sieht er vorerst dieses Kulturinteresse am deutlichsten sich bekunden. Die Wissenschaft, welche die Natur beherrscht – sollte sie nicht auch die Gesellschaft regieren? Eine Betrachtung der Geschichte nach wissenschaftlicher Methode, das heisst so, dass sie nicht mehr in der Aufzählung rein politischer und kriegerischer Ereignisse aufgeht, als ob sie ein „Brevier der Könige“ wäre, sondern die auf eine kausale Erklärung der geschichtlichen Vorgänge in einem grossen Zusammenhang ausgeht, zeigt sofort die Rechtfertigung einer führenden Rolle der Wissenschaft. Denn – und dies ist die Grundansicht Saint-Simons geblieben, auch nachdem er die Berücksichtigung ökonomischer Zusammenhänge eingeführt hat – die gesellschaftliche und politische Entwicklung bestimme sich durch die Fortschritte der geistigen Kultur. [2] Hat sich derart ein gesetzmässiger und erkennbarer Zusammenhang in der Geschichte ergeben, so vermag denn auch die Wissenschaft durch Beobachtung und Erforschung der Vergangenheit sichere Ratschläge in Bezug auf die Einrichtung der Zukunft zu geben. Die Wissenschaft muss daher die Leitung der Politik übernehmen, die Gelehrten und Weisen sind es, denen in erster Linie das Amt der Regierung zukommt. In seiner ersten Schrift, den Genfer Briefen, entwirft er den phantastischen Plan eines „Newtonrates“, eines Kollegiums von aus allen Klassen der Bevölkerung gewählten Gelehrten, Dichtern und Künstlern, denen die geistige Lenkung der Gesellschaft zufallen soll, während die weltliche Gewalt in die Hände der „Besitzer“ gelegt wird. Die Wissenschaft in ihrer neuen höchsten Form als „science générale“, als allgemeine, die Ergebnisse aller einzelnen Wissenschaften verwertende Anwendung des Wissens auf die gesellschaftlichen Vorgänge wird sowohl die Metaphysik und dogmatische Religion aus ihrer herrschenden Stellung verdrängen, die ihnen ohnedies mehr und mehr bestritten wird, als anderseits eine neue allgemeine Ueberzeugung begründen, ohne welche eine dauernde soziale Organisation nicht möglich ist.

Es liegt auf der Hand, dass in dieser Herrschaft der „Gelehrten“ und „Besitzer“ sich durchaus nur die Ideologie des Bürgertums dokumentiert, für die besonders charakteristisch auch das Streben Saint-Simons nach der Erringung einer glaubensartigen neuen Ueberzeugung ist, da schliesslich ja nur durch eine autoritative Macht die Fülle gegensätzlicher Bestrebungen und Interessen, die Saint-Simon innerhalb des eigenen Lagers bereits erkennt, zu binden und zusammenzuhalten möglich scheinen konnte. Wenn auch heute das Proletariat sicher nicht ohne eine grosse allgemeine Ueberzeugung seine Aufgabe erfüllen kann – und es gehört zu den besten, am wenigsten gewürdigten Gedanken Saint-Simons, was er über die Notwendigkeit einer autoritären geistigen Bindung für die soziale Organisation und demzufolge über die soziale Rolle der Religion sagt -– so gründet sich doch die Allgemeinheit der proletarischen Ueberzeugung auf die Einheitlichkeit seines Klasseninteresses. Saint-Simon fordert aber diese neue geistige Bindung der Gemüter gerade wegen der Gegensätzlichkeit ihrer Interessen, und darum muss die neue Wissenschaft bei ihm schneller und überraschender, als man es erwarten sollte, in eine – Ethik und schliesslich religiöse Lehre abdanken. Daran hat auch die Einfügung der ökonomischen Denkrichtung, die mit der Ausgestaltung seines industriellen Systems erfolgte, nichts geändert. Zwar traten an die Stelle der bestimmungslosen Besitzer neben die Gelehrten die Leiter der Industrie, um sich mit jenen in die Regierung zu teilen. Allein auch jetzt noch gilt ihm der Grundsatz – man sieht, wie lose die ökonomischen Gedanken mit seiner Grundauffassung verbunden sind, wie sehr sie wirklich nur dazu dienen, die Machtstellung des Bürgertums auch nach seiner materiellen Seite darzulegen, wie vordem bei der intellektualistischen Geschichtsphilosophie nach seiner geistigen Seite – auch jetzt noch gilt ihm der Grundsatz, dass jedes soziale Regime nur „der Ausfluss eines philosophischen Systems ist; und folglich ist die Bildung eines neuen Regimes unmöglich, bevor das neue philosophische System, dem es entsprechen muss, begründet ist“. Daher werden auch im „industriellen System“ die Gelehrten die politische Erziehung des Volkes und die moralische Leitung desselben zu übernehmen haben. Sie werden schon jetzt die Grundsätze zu entwickeln und zu formulieren haben, die als allgemein sozialisierende Ideen auch auf allgemeine Anerkennung und Beobachtung werden Anspruch machen können.

Dass so die positive Wissenschaft sich als eine Moral entwickelt, von der Saint-Simon zuerst noch forderte, dass sie eine weltliche und positive Moral sein müsse, um sie doch zuletzt in einem neuen Christentum aufgehen zu lassen, erscheint nicht länger mehr als Widerspruch, wenn man etwas näher auf den Charakter der Wissenschaft eingeht, die Saint-Simon als Leiterin der Gesellschaft im Auge hat. Manche Gedankenansätze scheinen dafür zu sprechen, als handelte es sich hierbei um eine kausale Wissenschaft, um den Anfang der Soziologie, um so mehr, als ja Comte, der jugendliche Anhänger Saint-Simons, den Ruhm der Begründung einer solchen Soziologie – nicht ganz mit Recht – an seinen Namen geknüpft hat. Allein wer das annimmt, trägt auch an dieser Stelle etwas in die Wirksamkeit Saint-Simons hinein, das vielleicht als Ahnung oder als gelegentlicher Gedanke in dem überreichen Ideenschwung dieses merkwürdigen Mannes aufgetreten sein mag, sicherlich aber nicht zu seinem intellektuellen Wesenscharakter gehört. Seine „science générale“ war eine wesentlich praktische, nicht theoretische Disziplin. Sie war eine Synthese der Einzelerkenntnisse aus Naturwissenschaft, Geschichte und Psychologie in Anwendung auf die sozialen Erscheinungen und Vorgänge zu wesentlich praktischen Zwecken: zur Beförderung des allgemeinen Wohles, zur Verbesserung der Lage der ärmsten Klasse. Er selbst hat diesen Charakter der neuen Wissenschaft treffend in seiner letzten Schrift gekennzeichnet. Er sagt dort: „Es gibt eine Wissenschaft, die für die Gesellschaft viel, viel wichtiger ist als alle mathematischen und physikalischen Kenntnisse: das ist die Gesellschaftswissenschaft und die Wissenschaft, die ihr als Unterlage dient, die Ethik.“ Die soziale Wissenschaft Saint-Simons kann daher gar nicht anders wirken, als indem sie aufzuklären bemüht ist, was in den von ihr zu erforschenden Gesellschaftszuständen den Grundsätzen der Ethik entspricht oder nicht. Sie muss dazu gelangen, ihre Ergebnisse als ethische Forderungen aufzustellen. Und da sie dabei, wo sie auf gegensätzliche Interessen stösst, in ihrer Wirkung bedroht ist, kann sie schliesslich auf eine letzte, inappellable Autorität nicht verzichten, wie sie ihr nur die Religion bietet. Daher ist sogar der letzte Schritt unseres grossen Utopisten, mit dem er, statt wenigstens nur eine rein soziale Religion zu verkünden, direkt an das Christentum anknüpft und mit ihm die Gottesidee feierlich aufnimmt, kein Widerspruch in seinem Geistesgefüge. Zwar wird das Christentum Saint-Simons radikal seines ganzen dogmatischen Inhaltes beraubt, so dass man meinen könnte, es handle sich doch nur um eine reine Morallehre, die bloss den Namen des Christentums erhalte. Allein Saint-Simon scheint mehr vorzuhaben: er verspricht zu zeigen, „dass das Christentum auch wissenschaftlich allen Lehren jener Philosophen überlegen ist, die sich vollkommen ausserhalb der Religion gestellt haben“. Er betont nicht nur den Glauben an Gott, sondern er fragt, indem er darauf verweist, wie das Moralprinzip der Menschheit schon vor 1800 Jahren durch die Intelligenz des Stifters des Christentums gefunden wurde, während die wichtigsten wissenschaftlichen Fortschritte erst 1500 Jahre später gemacht wurden, ob „diese Intelligenz nicht ganz offenbar einen übermenschlichen Charakter hatte und es einen grösseren Beweis für den Offenbarungswert des Christentums gäbe“. Ja er ist schliesslich sogar davon überzeugt, dass er selbst eine „göttliche Mission erfülle“, indem er „die Völker und Könige aufrufe, zum wahren Christentum zurückzukehren“, das freilich in nichts anderem bestehe als in dem wirklichen Handeln nach dem Gebote Gottes, den Nächsten zu lieben wie sich selbst.

Saint-Simon ist nicht mehr dazugekommen, seine angekündigten Schriften über das neue Christentum, insbesondere „das förmliche Glaubensbekenntnis der neuen Christen“ zu verfassen. Am 19. Mai 1825 ist er gestorben. Aber es kann kein Zweifel sein, dass es sich ihm bei der Idee des neuen Christentums nicht bloss um eine neue Morallehre, ja nicht etwa bloss um eine neue Religion, sondern vielmehr um die grossartige Idee einer Nutzbarmachung der gewaltigen sozialisierenden Kräfte des alten Christentums durch dessen Wiederbelebung im Geiste seiner Ideen gehandelt hat. Hofft er doch durch die Abhaltung des Proletariats von direkter Tätigkeit sogar auf den Klerus Eindruck zu machen: „denn die Bekehrung der katholischen wie der protestantischen Geistlichkeit würde für das neue Christentum einen mächtigen Gewinn darstellen“. Der Gedanke eines sozialen Christentums, eine Kühnheit für die damalige Zeit, feiert jetzt in dem katholischen und evangelischen Modernismus eine verspätete Auferstehung, der es nie gelingen wird, der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, wie sie es möchte, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Wohl aber war es für einen Standpunkt wie den Saint-Simons, der das Arbeiterinteresse nur mit dem Unternehmerinteresse zugleich glaubte befriedigen zu können, unvermeidlich, sowohl zur Niederhaltung des Antagonismus des Proletariats als zur Bändigung des Egoismus der Besitzenden die sozial gewordene Religion als letzte Zuflucht einer wirklichen Sozialisierung in dieser heutigen Gesellschaft heranzuziehen. Sie war sein erster Gedanke, sie blieb auch sein letzter. Ja, diese Ausmündung des ursprünglichen positiven Standpunktes in eine wesentlich religiöse Grundstimmung und Lehre ist so charakteristisch für das innere, logische Wesen der „Wissenschaft“ bei Saint-Simon, dass in der an ihn anknüpfenden grossen Bewegung des Saint-Simonismus, die erst über den Standpunkt ihres Meisters hinaus zur Aufstellung sozialistischer Forderungen schritt, doch nicht die Wissenschaft, sondern die Liebe und nicht die positive Politik, sondern die soziale Religion ihre Angelpunkte wurden.

Nach alledem ist es nun auch nicht länger mehr widerspruchsvoll, dass auch Saint-Simon trotz vieler wahrhaft überraschender Einblicke in den gesellschaftlichen Zusammenhang der Geschichtsereignisse, trotz seiner scharfen Kritik des Bestehenden und seiner wahrhaft prophetischen Ausblicke in die Zukunft mit all seinem Denken und Schaffen doch ein Utopist bleiben musste; ein kritischer Utopist zwar, wie Marx ihn bezeichnet, weil er seine Zukunftsforderungen nicht als blosser Weltverbesserer entwickelt, sondern als Resultate einer kritischen Untersuchung der bestehenden Gesellschaft, aber doch ein Utopist, weil ihm gerade das noch mangelte, was eben das Rückgrat des modernen Sozialismus geworden ist, der entwicklungsgeschichtliche Standpunkt. In einer seltsamen Verkennung des eigentlichen Wesens dieses Standpunktes hat Muckle in seiner kürzlich erschienenen Schrift über die Geschichte der sozialistischen Ideen im 19. Jahrhundert Saint-Simon von dem Charakter des Utopismus wenigstens insofern befreien wollen, dass er ihn nicht mehr äusserlich unter die Utopisten einreiht, sondern vielmehr als den Begründer des entwicklungsgeschichtlichen Sozialismus anführt. Allein nicht das schon ist entwicklungsgeschichtliches Denken, wie wir es auf dem Gebiete der Geistesgeschichte erst seit Hegel und Marx kennen, dass man aus dem Verständnis des Gewesenen die Forderungen der Zukunft ableitet; gerade dies ist die falsche Auffassung des kritischen Utopismus von der Rolle der Wissenschaft in dem sozialen Prozesse, wonach sie plötzlich als ein fremdartiges, Vorschriften gebendes und Ziele setzendes Element in die reine Kausalerkenntnis an jenem Punkte eingreift, wo der Kausalprozess bis in die Gegenwart verfolgt wurde und nun der Zukunft sich zuwendet. Eine solche Auffassung der sozialen Wissenschaft führt allemal zu ihrem Umschlagen in soziale Ethik und damit zur Utopie, wenn es die Ethik allein ist, welche die Anweisungen für die Zukunft gibt, mag sie dabei auch von nationalökonomischer und soziologischer Untersuchung der Vergangenheit und Gegenwart begleitet sein. Es ist nicht entwicklungstheoretisch gedacht, solange die Zukunft noch blosses Programm ist. Erst wenn die ethischen Forderungen als notwendiges Geschehen der Zukunft erkannt und so als ein Moment ihres Kausalprozesses selbst verstanden werden; erst wenn die zu gestaltende soziale Entwicklung im Denken kausal als künftiges Geschehen begriffen worden ist und deshalb zum bewussten Zweck gemacht wird, der so in der Wissenschaft seine Kausalität nur voraussieht und im Wollen das Vorausgesehene nur er- und durchlebt, erst dann stehen wir auf entwicklungsgeschichtlichem Boden; erst dann ist die Wissenschaft das geworden, wozu Marx sie uns geschaffen hat, nicht bloss zum äusserlichen Mittel des Fortschrittes, sondern zum immanenten Gliede der sozialen Entwicklung selbst. [3]

Bei Saint-Simon war die Wissenschaft, wie wir gesehen haben, noch nicht bis auf diese dialektische Stufe gelangt, auf der zweckmässige Zielsetzung und kausale Bestimmtheit, überlegender Wille und prädestinierte Entscheidung, ethische Anforderung und kalte Notwendigkeit nur Beurteilungsverschiedenheiten gegenüber demselben Vorgänge sind. Aber sie stand doch bereits im Mittelpunkt der Betrachtung des gesellschaftlichen Lebens. Mit den Ideen einer kausalwissenschaftlichen Behandlung der Geschichte und einer aus ihr hervorgehenden wissenschaftlichen Politik hat Saint-Simon ein Licht angezündet, das seitdem nicht mehr verlöschen kann, sondern, gepflegt von der Gedankenarbeit der folgenden Generationen, nur immer glanzvoller leuchtet und leuchten wird. Und dass er dieses Licht erstrahlen liess, um das Dunkel der ärmsten Menschenklasse zu erhellen und in die kalte Trostlosigkeit ihres Daseins die Wärme froher Zukunftsaussichten einströmen zu lassen, das wird ihn dem Andenken dieser Menschenklasse, dem Proletariat, immer teuer machen als einen seiner edelsten Vorkämpfer, wenngleich er den eigentlichen Klasseninteressen des Proletariats noch völlig fremd gegenüberstand. Mit Stolz wird es immer den Mann unter seinen geistigen Ahnen nennen, dessen glutvolles und sein ganzes Leben unausgesetzt durchpulsendes Kulturinteresse ihn immer weiter gegen die Schranken des bürgerlichen Klasseninteresses trieb, so dass er zuletzt bereits ahnend die Entstehung einer Partei der Arbeiter erschaute, welche die eigentliche Vollstreckerin dessen sein würde, was er seinen Weisen und Industriellen anvertraut hatte. Und so wahr es ist, was Saint-Simon auf seinem Totenbette von sich sagte: „Mein ganzes Leben fasst sich in einen Gedanken zusammen: allen Menschen die freieste Entwicklung ihrer Anlagen zu ermöglichen“, so sicher darf allein der proletarische Sozialismus sich als der Vollender dieses Strebens fühlen, der nach den unvergesslichen Worten des Kommunistischen Manifestes eine Gesellschaftsform anstrebt, „worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Er ist die Tat von Saint-Simons erst noch keimenden Gedanken.

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Anmerkungen

1. In diesem Sinne halte auch ich mit Kautsky (Neue Zeit, 28. Jahrgang, 2. Band, Seite 844) das Urteil von Karl Marx im dritten Band des Kapital (2. Seite 144), wo er von den Schriften Saint-Simons mit Ausnahme der letzten sagt, sie seien „in der Tat nur Verherrlichung der modernen bürgerlichen Gesellschaft gegen die feudale“, als nicht nur vollständig zutreffend, sondern die historische Bedingtheit und Beschränktheit der Stellung Saint-Simons mit der bei Marx gewohnt meisterhaften epigrammatischen Schärfe charakterisierend und anschaulich gemacht. Die Zusatznote von Friedrich Engels, Marx habe später „nur mit Bewunderung vom Genie und enzyklopädischen Kopfe Saint-Simons“ gesprochen, will nur – und mit Recht – die Meinung verhindern, als ob mit dem Hinweis auf diese historische Beschränktheit des Lebenswerkes von Saint-Simon eine Würdigung seiner ganzen Persönlichkeit und seiner geschichtlichen Nachwirkung gegeben wäre. Sie lässt aber den Kern des Marxschen Urteiles und besonders seine Höherstellung Owens gegenüber Saint-Simon nicht nur völlig unangetastet, sondern ist noch bemüht, sie aus den historischen Bedingungen ihres Wirkens zu begründen. Und es ist nur die gewaltsame Unterscheidung Muckles des bloss „rationalistischen“ Owens von dem – „realistischen“ Saint-Simon, welcher ihn den Rationalismus bei diesem und den Realismus bei jenem durchaus ungenügend beurteilen lässt.

2. Die technisch-ökonomischen Fortschritte galten ihm vorwiegend als Produkte der geistigen Entwicklung, und es ist daher auch charakteristisch, dass er immer wieder die Vorherrschaft der Besitzenden über die Arbeiter innerhalb der Klasse der Industriellen nicht nur durch die Tatsache des Besitzes erklärt, sondern auch damit rechtfertigt, dass diese Tatsache zugleich einen intellektuellen Vorsprung der Besitzer beweise. Dieser Gedanke findet sich in seiner erster Schrift Briefe eines Einwohners von Genf an seine Zeitgenossen (1802), ebenso wie in seinen letzten Schriften, dem Politischen Katechismus der Industriellen (1823) und dem Neuen Christentum (1825).

3. Eine solche Anschauung konnte auch erst an die Stelle von einzelnen geschichtsökonomischen Gedanken, wie sie sich bei Saint-Simon und zahlreichen anderen Autoren vor und neben ihm finden, jene eigenartige Zusammenfassung dieser Einzelerkenntnisse in eine neue einheitliche Auffassung setzen, in welcher ihre geschichtstheoretische Bedeutung nunmehr vollständig verändert wird. Dies wird nur zu oft übersehen, wo man allzu schnell bereit ist, Wurzeln der materialistischen Geschichtsauffassung von Karl Marx zu finden – Wurzeln, die überhaupt erst im Lichte dieser Auffassung zur Beachtung gelangten. Es wird nicht genügend deutlich erkannt, dass das Wesen der materialistischen Geschichtsauffassung noch gar nicht durch die blosse Einsicht in die Abhängigkeit der sozialen Erscheinungen von ökonomischen Zuständen und Vorgängen bezeichnet wird. Vielmehr besteht es erst darin, dass man über die Konstatierung der blossen ökonomischen Zusammenhänge hinaus dazu gelangt, diese nur mehr als Elemente einer Eigengesetz1ichkeit des sozialen Lebens zu verstehen, welche erst die Kausalzusammenhänge in einen Entwicklungsprozess eingliedert. Erst von da aus ist die Erkenntnis der Zukunft als kausal aufzuweisende Entwicklungstendenz und damit eine wirkliche wissenschaftliche Politik möglich. Dieser theoretische Standpunkt, den wir erst mit Marx erreicht haben, ist also nicht etwa bloss ein entwickelterer, sondern ein gänzlich verschiedener gegenüber dem von Saint-Simon. Und Marx nicht nur nicht psychologisch, sondern auch nur dogmengeschichtlich als „Schüler“ Saint-Simons zu bezeichnen, wie Muckle dies tut, heisst die Eigenart der geschichtstheoretischen Leistung von Karl Marx total verkennen. – Siehe mehreres hierüber in meiner Schrift Marx als Denker in den Kapiteln über die soziale Eigengesetzlichkeit und über den utopischen Sozialismus.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024