Max Adler

Die Dialektik des Werdens

(1. Dezember 1911)


Der Kampf, Jg. 5 3. Heft, 1. Dezember 1911, S. 122–127.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Für die Auffassung, dass die Dialektik nicht bloss eine Art des Denkens sei, sondern dies vielmehr nur sein könne, weil sie eine Beschaffenheit des Seins selbst darstellte, hat Plechanow ausser dem Hinweis auf den Widerspruch in der Bewegung [1] auch noch einen zweiten Beweis, nämlich die Berufung auf den Widerspruch im Werden, auf die widerspruchsvolle Eigenart des Entwicklungsprozesses. Allem Werden sei angeblich ein Widerspruch inhärent, demzufolge es zumeist unmöglich sei, seine einzelnen Phasen logisch genau zu bestimmen. „Die Frage über die Existenz eines schon entstandenen Objekts“, sagt Plechanow, „lässt sich bestimmt beantworten. Ist aber ein Ding erst im Werden, so liegt oft Grund genug vor, unschlüssig über die Antwort zu sein. Wer wird bestimmen können, wann das Ausgehen der Haare zur Bildung einer Glatze führt?“ (Seite 34.)

Ich fürchte sehr, dass dieser zweite Beweis für die dialektische Beschaffenheit der Natur sehr schlecht verankert ist, wenn er nur an schwachen Haaren hängt, die noch dazu auszufallen drohen. Allein zunächst überrascht noch etwas anderes in der Art, wie Plechanow das Werden zum Erweis der dialektischen Grundbeschaffenheit der Natur heranzieht, nämlich der für einen Dialektiker seltsame Unterschied zwischen schon entstandenen und erst im Werden begriffenen Dingen, von welch letzteren allein – und auch nicht immer – („oft genug“, sagt Plechanow) die Dialektik gelten soll. Nach der dialektischen Auffassung ist aber ein Ding eben nie entstanden, nie fertig, sondern fortwährend in Veränderung begriffen. Ist doch die Dialektik nach den Worten Marx’ jene Denkweise, die „jede gewordene Form im Flusse der Bewegung“ auffasst, so dass von ihrem Standpunkt aus der Unterschied zwischen schon entstandenen und erst im Werden begriffenen Objekten überhaupt gar nicht aufkommen kann. Dieser Unterschied ist für die Dialektik gleichsam eine ganz fremde, ihr unverständliche Sprache, er stammt auch aus einem ihr ganz fremden Gebiete, nämlich aus dem des praktischen Lebens. In ihm stösst die Dialektik nicht etwa an die Grenzen der Logik, sondern an die nur zu Zwecken der Befriedigung von Lebensbedürfnissen geschaffenen Orientierungen des praktischen Denkens.

Damit ist aber auch bereits die Auflösung des scheinbar logischen Widerspruches im Werden gegeben. Er liegt wieder wie bei dem „Widerspruch“ in der Bewegung nicht in der Sache selbst, sondern in der widerspruchsvollen Stellung zu ihr, die derjenige einnimmt, der die Sprache der Dialektik durchaus mit der des täglichen Lebens verbinden will, wie einer, der gleichsam mit deutschen Worten französisch sprechen will. Der Ausdruck des „schon entstandenen Objekts“ bei Plechanow deutet darauf hin, dass er mitten in der Auffassung vom Werden eines Vorganges plötzlich innehält, um in eine ganz andere Betrachtungsweise überzugehen, die aus irgend einem praktischen Grunde eine bestimmte Phase dieses nie abgeschlossenen Werdeprozesses als ein Gewordenes bezeichnet. Alle Schwierigkeiten, die angeblich dem Begriff des Werdens anhaften sollen, entspringen nur aus dieser dem Fragenden selbst ganz unbewussten Vertauschung des Standpunktes: er übersieht, dass er auf der einen Seite den noch ununterschiedenen Werdeprozess substituiert, in welchem selbst es nichts als Veränderung gibt, dass er aber auf der anderen Seite bestimmte Abschnitte oder Stufen desselben teils mehr, teils weniger willkürlich, zumeist sogar durch überkommene, festgewonnene Vorstellungen geleitet, herausgegriffen und mit Namen belegt hat, deren sichere Abgrenzung ihm nun freilich Schwierigkeiten machen muss, wenn er sie mit dem ganzen Prozess konfrontiert, aus dem sie herstammen. Die Schwierigkeiten sind aber nur solche der Definition, ja oft sogar nur, wie in den Beispielen Plechanows, der blossen Benennung. Wann das Ausgehen der Haare zu einer Glatze führt, wann man einen Jüngling, dem die ersten Haare spriessen, einen Bärtigen nennen darf (Seite 35), sind alles eher als dialektische Fragen. Ihr ganzer Widersinn verschwindet, sobald man sich nicht mehr an die bloss konventionellen Begriffe von Glatze und Bart stösst, sondern einfach sagt, dem Manne gehen die Haare aus, dem Jüngling kommen die Barthaare. Sofort treten an die Stelle der scheinbar widerspruchsvollen Begriffe die ganz klaren und widerspruchsfreien Prozesse des Haarausfalles in dem einen und des Bartwuchses in dem anderen Falle. Und es wird deutlich, dass die Schwierigkeit, genau zu sagen, wann ein bestimmter Zustand bereits vorhanden ist oder nicht, ganz und gar nicht in dem Entwicklungsvorgang selbst liegt, sondern bloss in den Benennungen einzelner Phasen desselben. Warum findet es niemand widerspruchsvoll, darauf zu antworten, wann das Wasser siedend ist? Weil der Begriff der Siedehitze mit 100° C festgelegt ist. Ebenso könnte man, wenn ein Interesse daran bestände, die Glatze bei 50 Prozent Haarausfall beginnen lassen und es könnte dann, vorausgesetzt dass man sich die Mühe nähme, die Haare zu zählen und in Evidenz zu halten, „bis auf ein Haar genau“ bestimmt werden, wann die Glatze beginnt. [2]

Alle die angeblichen Widersprüche im Prozess des Werdens, von denen Plechanow so viel für den Beweis einer dialektischen Beschaffenheit der Natur selbst erhofft, entspringen im Grunde einer ähnlichen, nur umgekehrten falschen Stellungnahme in dem solche Widersprüche vorfindenden Denken, wie gegenüber dem Problem der Bewegung. Während nämlich diese ein Kontinuum war, das diskontinuierlich betrachtet wurde, wird hier aus dem Werden ein Kontinuum gemacht, während es bare Diskontinuität ist. Weil natürlich alles Werden und alle Veränderung nur in einer kontinuierlichen Zeit-, Raum- und Kausalreihe vor sich gehen kann, meint man unbesehen, es sei auch der Veränderungsprozess selbst kontinuierlich, und konstatiert dann freilich, dass es nicht möglich ist, in ihm Anfangs- oder Endpunkte zu konstatieren. Plechanow hat nun selbst in einer sehr beachtenswerten Stelle seiner Schrift die vulgäre Vorstellung scharf abgelehnt, als ob der Begriff der Entwicklung Sprünge ausschliesse und nur in der Allmählichkeit der Veränderung bestände (Seite 30). Es fehlt nur noch die genauere Bestimmung, dass es überhaupt keine andere Entwicklung als durch Sprünge gibt, nur dass diese nicht immer so bedeutend sein müssen, um auch schon dem gewöhnlichen Alltagsverstande als solche zu erscheinen. Denn das will doch schon Hegel gerade in der von Plechanow zitierten Stelle besagen, dass es sonst eine langweilige Tautologie ist, wenn man die Entwicklung überhaupt durch Allmählichkeit des Entstehens oder Vergehens zu begreifen glaubt, und dabei übersieht, dass man damit den Anfang des Entstehenden, respektive Vergehenden einfach vorausgesetzt hat. Man kann also, wenn man den Standpunkt, den Plechanow selbst mit Recht als den richtigen bezeichnet, konsequent festhält, gar nicht mehr sagen, wie er es doch tut: „Jedesmal, wenn die Allmählichkeit des Entwicklungsprozesses abgebrochen wird, findet ein Sprung statt“ (Seite 30). Das heisst wieder aus der dialektischen in die gewöhnliche Auffassungsweise verfallen, weil nur nach letzterer der allmähliche Entwicklungsgang kein sprunghafter ist. Die Sprünge bilden keine Episode im Gange der Entwicklung, sondern ihren notwendigen Charakter. Es kann im Werdeprozess, soweit er nicht rein quantitativ ist, was wohl in der Natur kaum irgendwo vorkommt, gar nichts Kontinuierliches geben, weil jede auch noch so geringe Qualitätsänderung ein Neues ist, das nur als ein Sprung in die Kontinuitätsreihe von Raum, Zeit und Kausalität tritt. Die Abweichungen, die zum Beispiel eine organische Form allmählich in eine andere überführen, mögen am Anfänge des Anpassungsprozesses noch so gering gewesen sein, sie sind doch etwas Neues im Organismus, von dem aus erst alle weitere Entwicklung ausgehen kann. Ohne die ursprüngliche Variation im Leben der Organismen, sei es nun eine zufällige oder eine zielstrebig im Organismus zustande gekommene, gäbe es überhaupt keine Entwicklung der Arten.

Wie nun diese Diskontinuität der Entwicklung, auf das Kontinuum ihrer Raum-, Zeit- und Kausalfaktoren bezogen, den eigentlichen Sinn des dialektischen Gesetzes vom Umschlagen der Quantität in Qualität ausmacht, habe ich in meinem früheren Aufsatz über die Dialektik bereits auseinandergesetzt. [3] Es ist auch dies nicht etwa eine mystische Beschaffenheit in der Natur selbst, sondern lediglich eine Folge der quantitativen Betrachtung des Qualitativen. Zugleich zeigt sich dabei, wie sich in der Erfassung jeder einzelnen Erscheinung das quantitative und qualitative Denken notwendig durchdringen. Weil jede Qualität quantitativ bestimmbar ist und alle Quantitäten in ein Kontinuum gehören, muss, wenn man den Standpunkt der Betrachtung ins Gebiet des Qualitativen verlegt, dann das Qualitative aus bestimmten Aufsummierungen gleichsam herausspringen. Es beweist damit nur seinen diskontinuierlichen Charakter, und eben deshalb gilt der Satz vom Umschlagen der Quantität in Qualität nicht umgekehrt. Gerade das aber verlangt man eigentlich, wenn man auf die vermeintliche logische Unmöglichkeit der Setzung von Anfangs- oder Endpunkten im Entwicklungsprozess verweist. Man verwandelt dann den qualitativen Werdeprozess, dessen einzelne Stufen untereinander eben nicht quantitativ, sondern durch Entwicklung verbunden sind, in einen rein quantitativen Ablauf von Addierungen, wobei freilich die unklare Vorstellung mitläuft, als ob durch einen solchen anfangslosen Additionsprozess überhaupt etwas werden könnte, (eine Abart des Fetischismus der grossen Zahlen).

Damit ist nun freilich nicht gesagt, dass solche Anfangs- und Endpunkte auch wirklich überall aufgezeigt werden können. Das hat aber nichts mehr mit logischer, sondern nur mit praktischer Unmöglichkeit zu tun. Es hängt wesentlich von der Stellungnahme des Betrachtens ab, in wissenschaftlichen Dingen von der theoretischen, in anderen von der praktischen, welche neu auftretende Qualitäten noch wichtig genug erscheinen, respektive, welche mit den jedesmal zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln noch erfasst werden können, um sie zur Abgrenzung eines wissenschaftlichen oder praktischen Begriffes zu verwenden. Da dieser Begriff dann gegenüber dem vollen Entwicklungsprozesse eine mehr oder weniger willkürliche Beschränkung darstellt, kann er mit jenem in einen Widerspruch geraten, der aber jetzt nur ein solcher der Definition dieses Begriffes ist und sich mit der Erweiterung derselben, das heisst mit der Erweiterung unseres Wissens oder unserer praktischen Stellungnahme jedesmal löst. Dass der Mensch, der eben gestorben ist, zugleich doch noch „lebt“, da noch nicht alle Organe ihre Tätigkeit eingestellt haben, deckt keine dialektische Beschaffenheit des Todes auf und überhaupt nichts Widerspruchsvolles im Vorgänge des Sterbens, sondern macht uns nur aufmerksam, dass unser Begriff des Todes den ganzen Prozess der Veränderungen, welche das Sterben eines Organismus darstellen, nicht erschöpft, weil er nur das Ende des Menschen im Auge hat, nicht aber das des Organismus. Es ist ein psychologisch-praktischer und kein physiologisch-theoretischer Begriff. Nicht Verwirrung dieser ganz verschiedenen Standpunkte, woraus dann freilich Widersprüche folgen müssen, sondern die Auflösung dieser Widersprüche durch Hinausführung der Begriffe aus ihrer jeweiligen Beschränktheit ist das eigentliche Wesen der Dialektik, die eben kerne Beschaffenheit der Dinge, sondern nur eine Art des Denkens der Dinge ist.

Durch Verflüssigung unserer Begriffe und Definitionen verschwindet also der Widerspruch genau so aus dem Werden wie durch die Beweglichkeit unserer Anschauung aus der Bewegung. In beiden Fällen folgen wir dem Flusse der steten Veränderungen, was eben den Unterschied und den Wert des dialektischen gegenüber dem logischen Denken ausmacht, das an seinen Begriffen unbeweglich haftet. Es ist mir daher auch nur aus derselben Inkonsequenz erklärlich, mit welcher Plechanow bei seiner Besprechung des Werdens von dem dialektischen Standpunkt abgeriet, wenn er Seite 35 es als einen Missbrauch der Dialektik bezeichnet, das Sein durch das Werden zu ersetzen. Er tut dies allerdings in Abwehr eines wirklichen Missbrauches der Dialektik, nämlich bei Kratylos, der bekanntlich sagte, man könne denselben Fluss nicht nur nicht zweimal befahren, sondern sogar nicht einmal. Denn der Fluss habe sich ja schon während unserer ersten Fahrt verändert. Nebenbei bemerkt ist diese von Plechanow abgelehnte Meinung des Kratylos um nichts schlechter, als der von Plechanow akzeptierte Widerspruch der Bewegung oder als die Schwierigkeit in der Bestimmung des Anfanges einer Glatze. Alle diese Argumentierungen sind ein Missbrauch der Dialektik, aber gerade weil sie das Sein nicht durchwegs im Werden auflösen, sondern einem aufgelösten Teil einen unaufgelösten anderen Teil gegenüberstellen. Kratylos löst den Fluss in beständiger Veränderung auf, vergisst aber daran, sich selbst ebenso zu behandeln etc. Vom Standpunkt der Dialektik kann man gar nicht anders als alles Sein und Werden auflösen, und zwar restlos, da das Werden ja nur die Art ist, in welchem das Sein eben da ist. Verkennt man dies, so kommt man zu jener schon vorhin charakterisierten seltsamen Halbheit eines Dialektikers, im dialektischen Denken selbst zwischen schon entstandenen und entstehenden Dingen zu unterscheiden und sich den Kopf darüber zu zerbrechen, von wann an man einen Jüngling einen Bärtigen wird nennen dürfen. Das Gewordene entspringt einer ganz anderen Art unseres Denkens, nämlich der Beziehung des Mannigfaltigen in der Erfahrung auf die Denkeinheiten des Verstandes, wobei theoretische und praktische Interessen in der Ausgestaltung und Festhaltung dieser Einheitsbeziehungen richtunggebend sind, die aber mit dem Wesen der dialektischen Auffassung gar nichts zu tun haben.

Damit sind wir schliesslich zu der Frage nach dem Verhältnis des logischen zum dialektischen Denken gelangt. Man kann, wenn man will, die Logik als einen speziellen Fall des dialektischen Denkens bezeichnen, wie Plechanow dies tut (Seite 35). Aber damit ist für die klare Erkenntnis des Verhältnisses beider wenig gewonnen, zumal wenn man mit Plechanow dann weiter folgert, dass die Grundgesetze der Logik ihre Bedeutung nur behalten, inwiefern sie der Dialektik nicht widersprechen. Denn dies letztere ist direkt falsch, was übrigens Plechanow selbst Seite 37 zugeben muss, wo er uns belehrt, dass die Grundgesetze der Logik „innerhalb gewisser Grenzen“, zum Beispiel auch auf die Bewegung Anwendung finden, obzwar diese doch nach ihm logisch nicht zu begreifen war. So führt die Plechanowsche Bestimmung des Verhältnisses zwischen Logik und Dialektik zu einem Schwanken, das selbst weder logisch noch dialektisch ist. Richtig ist nur der Schluss, zu dem Plechanow kommt und von dem aus sich das fragliche Verhältnis leicht bestimmen lässt: „dass die Dialektik die formelle Logik nicht aufhebt, sondern ihr nur die absolute Gültigkeit nimmt, die ihr die Methaphysiker verleihen“ (Seite 37).

Es besteht nämlich keinerlei Subordinationsverhältnis zwischen Logik und Dialektik, überhaupt keine Beziehungen weder der Harmonie noch des Widerspruches zwischen beiden, sondern sie sind zwei Denkweisen, die nur in der Einheit des denkenden Kopfes erst in Beziehung gebracht werden und sich in seiner Denkarbeit ergänzen, wie erst das Sehen mit beiden Augen ein plastisches Bild statt eines bloss flächenhaften erzeugt. Das logische Denken ist das Denken in Begriffen, welches die Totalität des Erfahrungserlebnisses in lauter Teile und Diskontinuitäten auflöst. Aber immer damit verbunden, nur die längste Zeit als bewusste Methode nicht erfasst, geht gleichzeitig im Denken einher eben jenes Erleben des Ganzen, aus welchem der Verstand seine begriffsmässige Erkenntnis bildet, und in deren Annäherung an jene Ursprünglichkeit und Totalität die Kraft des Genies oder Künstlers liegt. Die Dialektik ist nur der methodische Versuch, die Schranken des bloss begriffsmässigen Denkens zu durchbrechen vermittels des Rückganges auf das Erlebnis der Totalität der Erfahrung. Sie strebt das bruchstückhafte, mehr oder weniger gewaltsam abgegrenzte logische Denken wieder einzuordnen in jenen Fluss einer ungeteilten Erfahrung, die zwar durch kein praktisches Denken sich vollkommen ausdrücken lässt, aber im Bewusstsein jedes Denkenden aufzeigbar lebt. Die Dialektik wird so zu einer Korrektur des logischen Denkens, die nicht etwa seine Ergebnisse als falsch aufzeigt, sondern die nur die notwendigen Fehler ausgleicht, welche dem logischen Denken eigen sind. Sie berichtigt das logische Denken daher auch nicht eigentlich, sondern sie ergänzt es durch eine ganz andere Anschauungsweise. Und da es diese Anschauungsweise erst ist, welche das Denken instand setzt, der steten Veränderung und Entwicklung zu folgen, die alle Gebiete der Natur beherrscht, das physische nicht minder wie das organische und soziale, so folgt daraus von selbst die überragende Bedeutung der Dialektik für das moderne wissenschaftliche Denken. Insbesondere für die wissenschaftliche Erkenntnis des sozialen Lebens, das ja nur mit seinem steten Wandel aller seiner Beziehungen und Institutionen Objekt der Wissenschaft werden kann, hat erst die dialektische Auffassung die Möglichkeit geboten, diesem Fluss der Dinge wirklich folgen und ihn theoretisch ausdrücken zu können. In dieser Wertschätzung der Dialektik für die Sozialwissenschaften, für welche Plechanow aus der Fülle seiner weitausgebreiteten Studien sehr interessante Belege aus den verschiedensten Zweigen der Geisteswissenschaft beibringt, kann man nur eines Sinnes mit ihm sein. Nur dass diese Belege ebensoviele Beispiele für den methodologischen Charakter der Dialektik werden und in keinerlei Weise geeignet sind, die anfängliche These Plechanows zu unterstützen, dass die Dialektik mit dem Materialismus stehe und falle.

Und diese These ist auch nicht zu halten, solange man mit dem Begriffe des Materialismus den ihm wirklich zukommenden Sinn verbindet und nicht etwa aus ihm bloss eine naturwissenschaftliche Methode macht. Bleibt aber der Materialismus, was er ist, nämlich eine Weltauffassung, und soll in diesem Sinn die Dialektik materialistisch sein, dann ist hoffentlich deutlich erkennbar geworden, wie dieses Bestreben, die Dialektik nicht bloss als eine Art des Denkens, sondern als eine Beschaffenheit des Seins selbst zu verstehen, sie notwendig um ihren dialektischen Charakter bringen und ihr den blossen, ganz undialektischen Widerspruch lassen muss. Ja es ist im Grunde ein Widersinn, ein Ungedanke, von einem Widerspruch – nicht zu verwechseln mit Gegensätzlichkeit – im Sein zu sprechen. Wie immer man sich zu der erkenntniskritischen Frage des Verhältnisses von Denken und Sein verhalten mag, selbst auf dem Boden einer bloss positiven Betrachtung bezeichnet der Begriff des Widerspruches nur ein reines Denkverhältnis, nämlich die Unmöglichkeit, das Zugleichsein einander ausschliessender Betrachtungen denken zu können. Was für einen Sinn kann es nun haben, von dem, was man gar nicht denken kann, zu sagen, dass es eine Eigenschaft des Seins sei?! Diejenigen, die von Widersprüchen im Sein sprechen, haben gewöhnlich etwas im Auge, was zwar eine gewisse Gegensätzlichkeit des Seins darstellt, ohne aber irgend etwas mit einem Widerspruch gemein zu haben. Die Polarität zum Beispiel ist doch kein Widerspruch, sie ist das Zugleichsein zweier entgegegesetzter, sich unter Umständen aufhebender, aber nirgends ausschliessender Beschaffenheiten. Dass ein Körper zugleich positiv und negativ elektrisch ist, dass ein Organismus zugleich ein Individuum und ein Zellenstaat ist, gehört doch ersichtlich in eine ganz andere Kategorie, als dass ein Körper an einem Orte sei und zugleich nicht sei. Es wurde schon im ersten Artikel erwähnt, und sei hier nochmals betont, dass die reale Gegensätzlichkeit in den Objekten mit der Dialektik gar nichts zu schaffen hat, nur dass sie durch ein dialektisches Denken leichter erfasst und verstanden wird. Sie ist also nur ein Objekt für die Dialektik, nicht selbst eine Dialektik. Anderseits hat aber auch der Widerspruch im logischen Sinne mit der Dialektik gar nichts zu schaffen, wie nur ein weitverbreitetes Vorurteil meint. Vielmehr haben gerade Marx und Engels, ersterer gegen Proudhon, letzterer gegen Dühring, gezeigt, wie der Begriff des dialektischen Widerspruchs etwas ganz anderes ist als die nur im Namen mit ihm übereinstimmende logische Kategorie. Nicht umsonst hat Hegel für den dialektischen Widerspruch darum noch eine eigene Bezeichnung geprägt, indem er sie auch Negativität nennt. Der dialektische Widerspruch bezeichnet nicht das Zugleichsein einander ausschliessender Bestimmungen, sondern nur das Zugleichdenken des logisch Begrenzten mit seinem Negativum, mit dem aus dieser Begrenzung ausgeschlossenen und insofern ihm widersprechenden Inhalt. Während also der logische Widerspruch, auf das Sein bezogen, das Zugleichsein seiner Entgegensetzungen ausschliesst, bedeutet der dialektische Widerspruch gerade dieses Zugleichsein, ein Sich-Durchdringen entgegenstehender Momente, weil er diese nicht als Seinselemente, sondern nur als Denkbestimmungen erfasst. Das Widersprechende ist nicht gleichzeitig, sondern es wird im Denken gleichzeitig erwogen, aufeinander bezogen und so zu einer Synthese gebracht. Indem diese Denkweise nicht mehr an blossen Abstraktionen geübt wird, wie bei Hegel, sondern an dem realen Stoff der Erfahrung, scheint sich die Dialektik, die Marx bei Hegel so treffend als eine „absolute Methode“ charakterisierte [4], hier in die Lebendigkeit des Stoffes selbst, also in eine Eigenschaft der Natur zu verwandeln. Aber sie bleibt doch immer noch Methode, nur dass sie eben aus einer absoluten eine wissenschaftliche geworden ist, die nicht mehr, was Engels mit Recht als einen „totalen Mangel an Einsicht in die Natur der Dialektik“ bezeichnet, nur als ein Instrument des blossen Beweisens zu verstehen ist, sondern als „Methode zur Auffindung neuer Resultate, zum Fortschreiten vom Bekannten zum Unbekannten“. [5]

Wir sind am Ende dieser Erörterung, die durch die Begrenzung ihres Themas auf das Wesen der Dialektik es mit sich bringen musste, dass sie wesentlich polemisch gegenüber Plechanows Ansichten in diesem Punkte auftrat. Es würde aber eine unrichtige Vorstellung von Plechanovzs Schrift über die Grundprobleme des Marxismus erwecken, wenn nicht noch darauf hingewiesen würde, wie dieselbe mit den hier besprochenen Abschnitten noch durchaus nicht erschöpft ist. Vielmehr enthalten die folgenden, den grösseren Teil des Buches ausmachenden Kapitel eine kritische Erörterung der materialistischen Geschichtsauffassung, die eine ebenso nötige wie glückliche Bereicherung der Literatur über dieses schwierige Thema darstellt. Denn hier erfahren zahlreiche Missverständnisse, die nicht nur bei den Gegnern anzutreffen sind, ihre gründliche und zugleich klare Berichtigung. Insbesondere die Rolle der Ideologie im geschichtlichen Prozesse und die Art ihrer Abhängigkeit von den wirtschaftlichen Faktoren wird gegenüber einer bloss schablonenmässigen Anwendung des ökonomischen Materialismus ins rechte Licht gesetzt. Für diese lichtvolle Aufklärung und rücksichtslose Beseitigung allzu „materialistischer“ Verballhornungen der materialistischen Geschichtsauffassung gerade durch Plechanow wird jeder, der die landläufige Diskussion über dieses Thema kennt, dem Verfasser nur Dank wissen.

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Anmerkungen

1. Vergleiche hierzu meinen Aktikel Dialektik und Metaphysik im vorigen Heft des Kampf.

2. Man meine nicht, dass sich Plechanow seine Stellung durch besonders unglückliche Beispiele bloss erschwert habe. Es gilt vielmehr dieselbe Auflösung des angeblichen Widerspruches im Prozess des Werdens auch von jedem anderen besseren Exempel, wie zum Beispiel von dem des Lebensprozesses bei Engels. Die Schwierigkeiten, zu fixieren, wann das Leben eines Kindes im Mutterleibe beginnt oder der Tod beim Menschen eingetreten ist, ergeben sich nicht nur durch das Hereinspielen einer Reihe nichtwissenschaftlicher Fragen aus der theologischen, juristischen und praktischen Lebenssphäre, sondern insbesondere auch aus der gerade hier erst noch in Entwicklung befindlichen wissenschaftlichen Erkenntnis. Auch hier heften sich übrigens die Widersprüche bloss an die Namen, also was man unter Beginn des Kindeslebens, Tod des Menschen etc. versteht. Und wenn man seit Engels wiederholt besonders auf den widerspruchsvollen Charakter des Lebens selbst hingewiesen hat, das in jedem Moment Zellen des Körpers aufbaut und ausscheidet, so dass der Organismus zugleich lebt und stirbt, zugleich derselbe und nicht derselbe ist, so sieht man nun auch hier hoffentlich diesen Widerspruch bloss in dem Ausdruck der Sache, nicht aber in dieser selbst. Denn nicht der Körper lebt und stirbt zugleich, sondern einzelne Zellen leben, andere sterben, und diese Vorgänge gehören in einem Körper (Organismus) zusammen, bilden aber keinen Widerspruch in ihm. Und vollends – dass dieser Organismus in jedem Augenblick derselbe und nicht derselbe ist, gehört einer ganz anderen Betrachtungsweise als der physiologischen an, von der aus diese Erkenntnis scheinbar gewonnen wurde. Denn physiologisch ist der Körper in keinem der folgenden Momente mehr derselbe wie vorher, er ist unausgesetzt ein anderer. Aber er ist eben nicht nur Körper, sondern in ihm ist auch ein Bewusstsein – und nur durch dieses ist er trotzdem derselbe. Die Dieselbigkeit des Bewusstseins ist kein Widerspruch gegen die stete Veränderung des Körpers. Sie entstammt der formalen Einheit alles Denkens überhaupt und ist eine noologische Tatsache gegenüber der physiologischen, der Veränderung des Organismus. Dieser rein als solcher betrachtet könnte nur mit demselben Rechte noch als derselbe Gegenstand in jedem folgenden Moment bezeichnet werden, wie wir dies gegenüber jedem anderen Objekt unserer Umgebung tun, das sich auch fortwährend verändert, solange nämlich die Veränderungen nicht so bedeutend sind, dass sie unser praktisches Verhalten zum Objekt ändern, und uns daher einen Anlass geben, dasselbe nun anders zu benennen. Die Dialektik ist eben jene Denkweise, welche alle mehr oder minder willkürlich fixierten Abgrenzungen des Denkens auflöst, indem sie dieselben in den gesamten Zusammenhang zurückstellt, aus dem sie herausgehoben wurden. Sie deckt dabei die Widersprüche auf, in die das Denken geraten muss, wenn es an diesen starren Begriffen festhalten will, ja sie schreitet durch diese Widersprüche in der Erkenntnis fort, bringt sie selbst aber in ihrer dialektischen Auffassung zum Verschwinden (zur „Aufhebung“), so dass gerade sie das Mittel eines widerspruchsfreien Denkens wird.

3. Kampf, 1, Seite 264.

4. Elend der Philosophie, Seite 88 ff.

5. Umwälzung der Wissenschaft, Seite 136 u. 137.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024