Viktor Adler

Die separatistische Krise

(1. September 1911)


Der Kampf, Jg. 4 12. Heft, 1. September 1911, S. 529–534.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die Organisation der Arbeiterschaft macht gegenwärtig die schwerste Krise durch, die ihr beschieden sein kann. Das nationale Problem mit allen seinen Gefahren ist nicht von heute, vielmehr hat es unsere Organisation in allen ihren Formen von jeher und auf allen Stufen ihrer Entwicklung die schwierigsten Aufgaben gestellt. Die Einheit der Sozialdemokratie beruht in Oesterreich nicht auf Beschlüssen, auf den Bestimmungen der Parteiorganisation, sondern sie musste immer wieder erarbeitet werden in unablässiger, aufreibender Arbeit, deren bewegende Kraft und schöpferisches Motiv der Wille zur Gemeinsamkeit war. Die Erkenntnis, dass diese Gemeinsamkeit eine proletarische Notwendigkeit sei, liess alle gegenwirkenden Tendenzen immer wieder mit von Fall zu Fall wechselnden Mitteln überwinden. An dieser immer wieder neu zu verrichtenden Arbeit hatten die Sozialdemokraten aller Nationen ihren Anteil und die tschechischen Separatisten tun ihrer eigenen Geschichte unrecht, wenn sie jetzt die proletarische Gemeinsamkeit in Oesterreich als eine ihnen von den deutschen Sozialdemokraten auferlegte Herrschaftsorganisation darstellen. Die Wahrheit ist, dass niemals und in keinem Falle weder auf Gesamtparteitagen noch in der Gesamtexekutive wichtige Entscheidungen in Fragen des Programmes und der Organisation durch Majoritätsbeschlüsse entschieden worden sind. Die Entwicklung der Partei vollzog sich in allen Stadien auf dem Wege der Vereinbarung, einer Methode, die sich von der des Kompromisses wesentlich unterscheidet. Das gilt insbesondere von Entscheidungen in allen Dingen, die an das nationale Problem rühren. Majorisierung hätte die unterliegende tschechische Minorität nie ertragen können, aber ebensowenig die siegende deutsche Majorität. Die Demokratie bei nationaler Verschiedenheit hat eben ihre besonderen ihr eigentümlichen Notwendigkeiten.

Damit ist die „Frage“, die uns Karl Kautsky stellt, eigentlich schon beantwortet. Er ist erstaunt, warum wir über die unsere Partei beschäftigenden kritischen Fragen nicht einen Gesamtparteitag entscheiden lassen. Die Antwort ist, weil gegenwärtig der tschechischen Sozialdemokratie der Wille zur Gemeinsamkeit in einem Grade fehlt, der es als aussichtslos erscheinen lässt, zu einer Vereinbarung zu kommen. Diese Tatsache aber, die in die Augen springt, auch noch auf einem Parteitag konstatieren zu lassen, wäre nicht nur überflüssig, sondern auch schädlich, weil es nicht geschehen könnte, ohne der mit absoluter Sicherheit vorauszusehenden Aenderung in diesem Zustande Hindernisse zu bereiten und sie zu verzögern. Wir sind um nichts weiter, wenn wir feststellen, woran niemand zweifelt, dass deutsche, polnische, italienische und slowenische Sozialdemokraten, sowie ein Bruchteil der tschechischen über Gemeinsamkeit in der politischen und insbesondere in der gewerkschaftlichen Organisation einig sind, aber zugleich, dass die grosse Mehrheit der tschechischen Sozialdemokratie diese Gemeinsamkeit als ein Hemmnis ihrer Entwicklung und jedes Eintreten für sie als Parteiverrat auffasst. Wir würden aber Gefahr laufen, die Wege die zu dieser Gemeinsamkeit zurückführen, zu verschütten, Brücken, die trotz alledem bestehen, abzubrechen, wenn wir zur Unzeit das gegenwärtig zurückgedrängte Bewusstsein der internationalen Zusammengehörigkeit für einen Versuch in Anspruch nehmen würden, zu dessen Gelingen es heute nicht ausreicht. Man macht nicht Kraftproben, wenn man weiss, dass sie misslingen müssen.

Vor diesem entscheidenden Grunde treten alle anderen Bedenken als technische Schwierigkeiten in den Hintergrund und wären gewiss zu überwinden. Es ist wahr, dass wir bei der Einberufung eines Gesamtparteitages uns nicht an das veraltete Statut halten könnten, das die Beschickung nach den Wahlkreisen der verflossenen fünften Kurie ordnet; aber darüber könnte unschwer ein Einvernehmen hergestellt werden, wenn der Zweck von allen beteiligten Organisationen gewollt würde. Weit schwieriger wäre es freilich, der zwingenden Notwendigkeit zu genügen, der neugegründeten tschechischen Sozialdemokratie ein Vertretungsrecht zu sichern. Von einem Parteitag, der die Gemeinsamkeit neu begründen soll, jene zentralistische Minorität des tschechischen Proletariats auszuschliessen, die – ohne oder durch ihr Verschulden – zum Märtyrer der Gemeinsamkeit geworden ist, wäre offenbarer Widersinn. Und doch ist bei dem gegenwärtigen psychologischen Zustande beider tschechischen Parteien leider kaum daran zu denken, ein Einvernehmen über die Beschickung durch beide tschechische Gruppen zu erzielen. Wäre es möglich, dann freilich hätten wir jene grösste Schwierigkeit, die in den inneren Verhältnissen der tschechischen Sozialdemokratie selbst liegt, bereits überwunden. Aber zu erwarten, dass der Gesamtparteitag bewirke, was eine Vorbedingung für seine Möglichkeit ist, widerspricht aller Logik. Hier ist die technische Schwierigkeit nur die Form, in der die praktische Unmöglichkeit deutlich wird.

Allerdings wer sich die Ueberwindung unserer Krise vorstellt wie die Erledigung eines Zivilprozesses – was sicherlich Kautskys Meinung keineswegs ist, was aber in vereinzelten, ebenso wohlgemeinten wie naiv leidenschaftlichen Aeusserungen unserer Presse aufscheint – für den liegt die Sache höchst einfach. Der Gesamtparteitag wird einberufen; wenn die Tschechen nicht erscheinen, dann werden sie kontumaziert und sind sachfällig geworden; oder sie kommen und fügen sich nicht der Majorität, dann haben sie ebenso ihren Prozess verloren, sie haben sich selbst aus der Gesamtpartei, ja aus der Internationale ausgeschlossen. Das ist einfach und klar. Aber wären wir damit auch nur einen Schritt weiter gekommen? Wir hätten unserer Ueberzeugung von der Notwendigkeit der internationalen Geschlossenheit des Proletariats den denkbar kräftigsten Ausdruck gegeben, gewiss; aber hätten wir sie gefördert? Hätten wir dadurch die Bedingungen geschaffen, um die separatistische Hochflut in der tschechischen Arbeiterschaft zum Stillstand zu bringen, ihren mangelnden Willen zur Gemeinsamkeit zu stärken? Man braucht die Frage nur zu stellen, um zu begreifen, dass das Gegenteil die notwendige Folge wäre, dass jeder Schritt in dieser Richtung den Weg zum Frieden, der der Weg zur Wiederherstellung der österreichischen Gesamtpartei ist, auf lange Zeit verrammeln würde.

Ja wir würden geradezu die Quellen verschütten, aus denen die Heilung kommen wird und muss. Denn nicht allein darauf beruht unsere Hoffnung, dass die bittere Not des politischen und gewerkschaftlichen Kampfes unseren tschechischen Genossen den Irrwahn des Separatismus austreiben und Internationalität einpauken wird, sondern ebenso darauf, dass das Empfinden der Solidarität des Proletariats auch bei der Masse der tschechischen Arbeiter, die heute unter dem Banne des Separatismus stehen, zwar gewissermassen ins Unterbewusstsein hinabgesunken, aber keineswegs abgestorben ist. Die parlamentarischen Wortführer wissen das ganz genau. Ihre Artikel, in denen sie die pathetischesten Worte für die „vollständige Selbständigkeit“ der tschechischen Arbeiterschaft finden – worunter praktisch die Zertrümmerung der Gewerkschaftsorganisation gemeint ist – und in denen sie die zügellosesten Anwürfe gegen die deutschen Sozialdemokraten richten, die sie beschuldigen, die tschechischen Arbeiter in „Untertänigkeit und Botmässigkeit“ zu halten – was damit gemeint ist, zu erfahren, bemühe ich mich erfolglos seit fast zwei Jahren – diese Artikel also, die der theoretischen Diskussion nach separatistischer Methode dienen, schliessen fast nie ohne eine feurige Fanfare für die internationale Solidarität aller Arbeiter, insbesondere der Arbeiter Oesterreichs und eine Beteuerung der Bereitschaft zum Frieden. Darin ist mehr zu sehen als das Kompliment, das der Separatismus vor dem Internationalismus macht, es ist nicht für uns Deutschen geschrieben, sondern für die tschechischen Arbeiter, vor die man, trotzdem man sie zu Separatisten gemacht hat, ohne das internationale Feigenblatt nicht zu treten wagt. Und gerade weil darin Kautsky meines Erachtens sehr richtig sieht, weil ich es als übertriebenen Pessimismus ansehe, wenn Otto Bauer meint, im Empfinden der Parteigenossen habe die Gesamtpartei zu leben aufgehört, halte ich es für notwendig in diesem Augenblick der Ueberreiztheit, dieses Empfinden für die Gesamtpartei zu schonen und es nicht durch einen Parteitag, der sich an heute unlösbaren Problemen vergeblich abmühen würde, abzustumpfen.

Wir müssen warten, bis der Separatismus sich ausgelebt hat. Nicht von aussen, von dem tschechischen Proletariat selbst muss die Wendung kommen. Wir können den tschechischen Genossen nicht helfen, ihn zu überwinden, sie müssen sich selbst helfen. Jeder Versuch, den wir machen, sie zu überzeugen, reizt nur ihre Empfindlichkeit, die um so grösser ist, je mehr sie am schlechten Gewissen leiden. Denn trotz aller ihrer grossen Worte, die tschechischen Sozialdemokraten müssten blind sein, wenn sie nicht wenigstens Momente hätten, wo sie sehen, wohin sie der Separatismus geführt hat. Der Separatismus sollte die politische Organisation der tschechischen Sozialdemokratie stärken, er hat sie gespalten; er sollte die Möglichkeit einer weiter ausgreifenden und tiefer eindringenden gewerkschaftlichen Organisation der tschechischen Arbeiterschaft bringen, es stehen heute weniger tschechische Proletarier in der gewerkschaftlichen Organisation – Zentralisten und Separatisten zusammengenommen – als vor drei Jahren. Und schliesslich: der Separatismus sollte die Stellung der tschechoslawischen Partei in der Internationale stärken und heben, er hat sie in der Internationale isoliert. Freilich wird behauptet, die separatistische Politik habe sich in den Wahlen bewährt und habe Mandate gebracht, während die Internationalität der deutschen Sozialdemokratie sie Mandate gekostet habe: ich halte die eine Behauptung für ebenso falsch als die andere; aber wäre sie richtig, so spräche sie nicht für den Separatismus, sondern nur gegen diese Mandate. Wie dem aber auch sei, die Bilanz des Separatismus ist politisch, organisatorisch wie gewerkschaftlich so traurig wie nur möglich.

Bewertet man aber den Separatismus nicht nach dem, was er dem tschechischen Proletariat genützt, sondern was er dem deutschen Proletariat und dem Proletariat aller anderen Nationen geschadet hat, schadet und schaden wird, dann kann man ihn nicht hoch genug einschätzen. Dem Separatismus ist es gelungen, die Gesamtpartei als solche fast funktionsunfähig zu machen und ihre Gemeinsamkeit auf Vereinbarung der politischen Aktion von Fall zu Fall einzuschränken. Der allgemeine Rahmen des Parteiprogrammes und noch mehr die politisch gegebenen Notwendigkeiten der proletarischen Taktik bewirkten allerdings, dass die Sozialdemokratie Oesterreichs trotz alledem noch immer mehr Einheitlichkeit aufweist als jede einzelne bürgerliche Partei. Das aber ist ein schlechter Trost, denn die Sozialdemokratie ist nicht gewohnt, ihre Kraft an der Schwäche der Gegner zu messen. Die innere Kraft aber, die uns die internationale Geschlossenheit verliehen hatte und die unser Stolz war und einst wieder sein wird, ist gegenwärtig empfindlich gemindert, gemindert vor den Augen der politischen Welt, gemindert aber auch, was viel schlimmer ist, in dem Bewusstsein unserer eigenen Genossen. Die deutsche Sozialdemokratie, die ihre internationale Pflicht stets ohne Ruhmredigkeit, aber in schlichter Treue erfüllt hat, sieht sich der chauvinistischen Herrschsucht angeklagt, nur weil sie an der Gemeinsamkeit des proletarischen Kampfes festhält. Es wird uns deutschen Sozialdemokraten durch den tschechischen Separatismus erschwert, inmitten der nationalen Kämpfe, die das politische Leben Oesterreichs erfüllen, unsere Entscheidungen wie stets bisher unbefangen, vorurteilsfrei und sachlich zu treffen. Das Entscheidende aber ist, dass der Separatismus den Lebensnerv des Klassenkampfes auch des deutschen Proletariats angetastet hat, indem er die Gewerkschaftsorganisation systematisch zerstört. Die politische Aktion und die politische Organisation wird durch Zersplitterung geschädigt und erschwert, die Gewerkschaft kann ohne Gemeinsamkeit nicht leben. Das Existenzminimum internationaler proletarischer Gemeinsamkeit ist die gewerkschaftliche Gemeinsamkeit. Wer sie angreift, gefährdet das notwendigste, lebenswichtigste gemeinsame Band. Zugleich aber stiftet er Schaden ohne jeglichen Nutzen. Die nationale Autonomie der politischen Organisation kann zu weit getrieben werden, immerhin wird sie innerhalb gewisser Grenzen nützlich, ja notwendig sein. Je stärker die Partei wird, desto mehr differenzieren sich ihre Glieder auch in national einheitlichen Ländern. Den Schwierigkeiten, die daraus entspringen, stehen unleugbare Vorteile gegenüber. In der Gewerkschaft bedeutet Zersplitterung nichts anderes als Ohnmacht ohne jeden kompensierenden Vorteil. Der Separatismus hat die Gewerkschaften gezwungen und zwingt sie, ihre ganze Kraft aufzuwenden, um ihre Organisation zu verteidigen, nicht gegen das Unternehmertum und seine Büttel, sondern vor allem gegen den unseligen Irrwahn, dass die Wohlfahrt und die Ehre des tschechischen Proletariats gebiete, die Organisationen zu sprengen, in denen deutsche, tschechische und polnische Proletarier gemeinsam den Lohnkampf führen. Die tschechischen Separatisten haben nur einen einzigen Milderungsgrund: sie sind gegenwärtig unfähig, gewerkschaftlich zu denken. Das ist mit grösster Deutlichkeit klar geworden bei jenen Konferenzen, die in diesem Winter in Prag und Wien abgehalten wurden und die von der Gesamtexekutive eingeleitet worden waren, um einen Weg zur Einigung im Gewerkschaftskonflikt zu suchen. Die tschechischen Genossen waren nicht einmal zu überzeugen, dass es die oberste und primitivste Notwendigkeit sei, Einrichtungen zu schaffen, um die Gemeinsamkeit der gewerkschaftlichen Aktion organisatorisch zu sichern und ihre Mittel wirksam zusammenzufassen. Immer wieder begegneten wir dem Wahne, es genüge diese Gemeinsamkeit der national getrennten Organisationen nicht allein in jeder Fachgruppe, sondern in jedem Betriebe von Fall zu Fall herzustellen. Die schablonenhafte Uebertragung eines Organisationsprinzips, das für die politische Organisation, wenn nicht nützlich, doch immerhin möglich ist, auf die Gewerkschaft, wo es ebenso schädlich als unmöglich ist, war im letzten Grunde das unüberwindliche Hindernis, das den Einigungsversuch scheitern machte. Die Frage, wie weit die Zentralverbände zu billigem Entgegenkommen bereit seien, konnte gar nicht aufgeworfen werden, weil die prinzipielle Grundlage für die Gemeinsamkeit nicht gewonnen werden konnte. Diese spezifische Blindheit für gewerkschaftliche Notwendigkeiten entspringt aber nicht etwa einem Defekt des separatistischen Intellekts, sondern seinem Mangel an Willen zur Gemeinsamkeit und auch hier ist der Intellekt dem Willen dienstbar. Die Separatisten wissen innerhalb der tschechischen Organisation, der politischen wie der gewerkschaftlichen, die zentralistische Zusammenfassung sehr wohl zu schätzen, vielfach besser als wir Deutsche, wie man ja überhaupt den tschechischen Separatismus als Prager Zentralismus definieren könnte. Angesichts dieses Mangels an Willen zur internationalen Gemeinsamkeit, dem jede gemeinsame Organisation als deutsche Herrschaftsorganisation erscheint, musste man die Hoffnung aufgeben, gegenwärtig zu einer Verständigung zu kommen. Darüber würde auch ein Gesamtparteitag nicht hinwegkommen, dem überdies die Kompetenz fehlt, in gewerkschaftlichen Dingen zu entscheiden und der sich damit begnügen müsste, prinzipielle Forderungen aufzustellen, die nur ein Gewerkschaftskongress in die Wirklichkeit übersetzen könnte.

Nun wird die Anklage erhoben, dass der Gesamtparteitag nicht schon früher, zur Zeit, da er satzungsmässig zusammentreten sollte, einberufen wurde. Die Antwort ist eine sehr einfache: weil, wäre das geschehen, der Riss in der Gesamtpartei eben schon früher eingetreten wäre. Auf dem letzten Parteitag 1905 gab die tschechische Delegation die Erklärung ab, dass sie von ihrer Absicht, die tschechischen Forderungen hinsichtlich der gewerkschaftlichen Organisation auf die Tagesordnung zu stellen nur darum abstehe, weil der kritische Moment für den gemeinsamen Angriff auf die Wahlprivilegien gekommen sei. Nach einer Verwahrung des Genossen Hueber in Bezug auf die Kompetenz des Parteitages in Gewerkschaftsangelegenheiten wurde die tschechische Erklärung ohne Debatte zur Kenntnis genommen. Der Wahlrechtskampf wurde dann gemeinsam von tschechischen Genossen mit nicht minderer Tapferkeit, wie von den Deutschen siegreich zu Ende geführt. Im Jahre 1907 war der Gesamtparteitag fällig. Dazwischen lagen zwei Ereignisse. Ein ausserordentlicher Gewerkschaftskongress, der wohl eine sehr grosse zentralistische Majorität aufwies, aber keine Einigung, sondern eine Verschärfung der Gegensätze brachte, und die ersten Wahlen des eroberten gleichen Wahlrechtes, deren Ergebnis eine starke sozialdemokratische Fraktion war. Die gewerkschaftliche Gemeinsamkeit war bereits gefährdet, aber die politische Gemeinsamkeit konnte durch den Gesamtparteitag in Permanenz, als welcher sich gewissermassen der Verband der sozialdemokratischen Abgeordneten darstellte, erhalten, ja gefestigt werden. Die Hoffnung, den Streit, der auf gewerkschaftlichem Boden entbrannt war, begrenzen zu können, die Befürchtung, durch einen Gesamtparteitag ihn auf das Gebiet der politischen Organisation zu übertragen und dadurch auch das schwer erarbeitete und nunmehr wichtigste Organ der Gemeinsamkeit, den Abgeordnetenverband zu gefährden, war der Grund, der 1907 und um so mehr 1909 von der Einberufung des Gesamtparteitages absehen liess, und zwar, wie festgestellt werden soll, in vollem Einverständnis der deutschen und tschechischen und ohne Widerspruch der anderen nationalen Exekutiven. Auch heute, wo wir den Verlauf rückblickend beurteilen können, erscheint es sicher, dass die Einberufung des Gesamtparteitages dazu geführt hätte, dass der Verband schon damals gesprengt worden wäre, zu einer Zeit, wo das die Partei weit empfindlicher getroffen hätte als heute, wo die Grundlagen der parlamentarischen Aktion hergestellt sind und auch ohne formellen Verband bis zu hohem Grade wirksam sein werden. Der Gesamtparteitag hätte sich gewiss auch mit unseren nationalpolitischen Meinungsverschiedenheiten beschäftigen müssen und hätte auch da grosse Schwierigkeiten zu überwinden gehabt. Aber diese Aufgabe hätte er, das lässt sich mit grosser Sicherheit sagen, erfüllen können. An der Frage der gewerkschaftlichen Organisation hätte er aber damals ebenso scheitern müssen wie heute, weil er nicht an ihr vorbeigehen konnte und es doch nicht seines Amtes war und nicht in seiner Macht stand, sie zu lösen.

Die Anklagen, die jetzt von verschiedenen Seiten gegen die Gesamtexekutive und noch mehr gegen die deutsche Exekutive erhoben werden, reduzieren sich wesentlich darauf, dass wir beschuldigt werden, es unterlassen zu haben, Oel ins Feuer zu giessen. Darüber werden wir auf dem Innsbrucker Parteitag gebührend Rede zu stehen haben; hier genüge das Geständnis, dass die deutsche Exekutive und die deutsche Parteipresse gegenüber den separatistischen Exzessen in Wort und Schrift Geduld und Selbstbeherrschung bis zu einem Grade geübt haben, wo, wie uns manche Genossen vielleicht mit Recht vorwerfen, aus der Tugend ein Laster wird. Wir haben es an der prinzipiellen Bekämpfung des gewerkschaftlichen Separatismus niemals und nirgends fehlen lassen, aber wir haben uns allerdings gehütet, die Leidenschaft der deutschen Arbeiterschaft anzufachen durch Vorführung der separatistischen Kampf- und Diskussionsmethoden in aller ihrer Pracht und wir haben sorgfältig vermieden, der separatistischen Presse auf diesem Wege zu folgen. Wir sehen mit Schmerz, dass unser, von dem Bewusstsein ernstester Verantwortlichkeit diktiertes Verhalten eine Vertiefung der Gegensätze nicht hindern konnte, aber wir können mit gutem Gewissen sagen, dass wir wenigstens nicht Schaden gestiftet haben. Unsere Langmut hat auf die Separatisten so wenig gewirkt wie unsere Kritik. Als wir das sachverständige Urteil der Internationale anriefen und es sich zeigte, dass sich für den nationalen Separatismus auch nicht eine einzige Stimme aussprach, wurde dadurch bei den tschechischen Sozialdemokraten nicht etwa der Einfluss des Separatismus vermindert, sondern das Ansehen der Internationale in unerhörter Weise herabgesetzt. Sie haben die zentralistische Opposition aus ihrer Partei hinausgedrängt, wir haben mit unserem Urteil nicht zurückgehalten, aber uns davor gehütet, in den Streit innerhalb der tschechischen Partei einzugreifen, weil wir nicht dazu beitragen wollten ihn zu verschärfen und die Heilung des Risses zu erschweren. Das hat nicht gehindert, dass die Separatisten uns nicht nur als Helfer ihrer zentralistischen Gegner, sondern geradezu als Urheber ihrer Parteispaltung anklagten und anklagen. Und während sie die deutsche Sozialdemokratie dafür verantwortlich machen, was die tschechischen Zentralisten tun und was sie, wie die Separatisten genau wissen, gegen unseren ausdrücklichen Rat tun, lehnen sie selbst die Verantwortung dafür ab, dass uns ihre eigenen Organisationen in deutschen Wahlbezirken Gegenkandidaten aufstellen. Sie zerschlagen die letzten noch intakt gebliebenen Gewerkschaften, bedienen sich dabei einer Taktik der List und Gewalt, die das Vertrauen in Genossentreue aufs schwerste erschüttern muss, aber zugleich erwarten und verlangen sie von uns, dass wir das Widernatürliche tun, dass wir die zentralistische Minorität der tschechischen Sozialdemokratie, die der internationalen Gemeinsamkeit in Partei und Gewerkschaft treu geblieben ist, als Feinde behandeln und verfemen. Gewiss haben die tschechischen Zentralisten schwere Fehler begangen, ihre Konstituierung als selbständige Partei hat nur den einzigen Milderungsgrund, dass es ein Verzweiflungsakt war, zu dem sie die unselige separatistische Taktik gedrängt hat, die ihnen jede Brücke abschnitt und die Einigkeit der Partei in verkehrter Weise durch Gewaltanwendung herstellen wollte.

Wer dieses ganz flüchtige und unvollständige Register unzweifelhafter und erweislicher Tatsachen überblickt, wird nicht erstaunt fragen: und so handelt die tschecho-slawische Sozialdemokratie, eine durch und durch proletarische, in hundert schweren Kämpfen erprobte Partei, die sich mit Recht berühmt, eines der stolzesten Bataillone der internationalen Armee zu sein!? Was jedem Fremden ein Rätsel sein muss, ist nur dem verständlich, der dazu verdammt ist, in Oesterreich zu leben und der den Kampf der Nationen mit schmerzhaft offenen Augen zu sehen und zu verstehen gelernt hat. [1] Nur der wird auch begreifen, dass diese tschechoslawische Partei in ihrer Masse, trotzdem sie heute einer furchtbaren Suggestion unterliegt, nicht aufgehört hat, eine durch und durch sozialdemokratische Partei zu sein, die den Boden des Klassenkampfes noch nicht einen Moment verlassen zu haben glaubt. Sie hat trotz alledem nicht aufgehört uns allen eine Bruderpartei zu sein, eine Bruderpartei, die gegenwärtig auf einem verhängnisvollen Irrwege ist, die eine lebensgefährliche Phase ihrer Entwicklung durchmacht, die aber, wenn sie erst den Gipfel der separatistischen Welle überwunden hat, den Weg zur internationalen Gemeinsamkeit des Proletariats in Oesterreich wieder finden wird.

Bis dahin hat die deutsche Sozialdemokratie zwei schwere und ernste Aufgaben. Sie muss dafür sorgen, dass der Brand, den der tschechische Sozialismus entfacht hat, nicht auf das deutsche Proletariat übergreife, dass vor allem die Zerstörung der gewerkschaftlichen Organisation, die er verschuldet, begrenzt und wenigstens von den vorwiegend deutschen Industriezentren ferngehalten werde. Für diese Abwehraktion, die hindern muss und wird, dass mindestens das deutsche Proletariat seine besten, wirksamste und unersetzlichste Waffe im Klassenkampf einbüsse oder stumpf werden lasse, muss die Partei ihre volle Kraft und alle ihre Energie einsetzen. Dann aber hat, wie alle nationalen Organisationen des Proletariats in Oesterreich, vor allem die deutsche Sozialdemokratie dafür Sorge zu tragen, dass ihr Verhältnis zu den nunmehr leider zwei sozialdemokratischen Parteien, die den Kampf des tschechischen Proletariats führen, kiargesteilt und so geordnet werde, dass der Wiederherstellung der vollen internationalen Gemeinsamkeit des Proletariats in Oesterreich die Wege geebnet, sicher aber keine Hindernisse bereitet werden. Diese beiden Aufgaben zu erfüllen wird die wichtigste Pflicht des Innsbrucker Parteitages sein.

Wir müssen warten, sorgen wir dafür, dass wir es können.

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Anmerkung

1. Ich kann es mir nicht versagen, bei diesem Anlasse auf Otto Bauers glänzendes Buch Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie hinzuweisen, das von den Parteigenossen viel zu wenig studiert worden ist. Es ist fünf Jahre alt, aber nicht überholt, sondern aktueller als je.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024