Otto Bauer

Die soziale Gliederung der
österreichischen Nationen

(Oktober 1907)


Der Kampf, Jg. 1 1. Heft, Oktober 1907, S. 30–38.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Seit sechs Jahrzehnten führen die Völker Oesterreichs ihren Kampf um die Macht im Staate. Die Macht, die die Nation errungen, setzt sie um in das Gesetz und in die Verordnung, in den Verwaltungsauftrag und in die richterliche Entscheidung; ihre Macht ist sichtbar in ihrem Anteil an den gesetzgebenden Körpern und an den Körperschaften, die die autonome Lokalverwaltung besorgen, an der Beamtenschaft des Staates und der autonomen Verwaltungsverbände, an den Anstalten des Staates und der Länder, der Bezirke und der Gemeinden. Macht wird Recht – die Macht der Nationen wird Rechtssatz, Rechtsinstitut, rechtlich geregelte Anstalt.

Aber wenn die Macht der Nationen rechtliche Satzung werden muss, um wirksam zu werden, so ist doch die Satzung von kämpfenden Menschen, Parteien, Organisationen gesetzt. Die Machtverhältnisse der Nationen zum Staate und zueinander regelt das Recht; aber das Recht ist selbst der Niederschlag der Machtverhältnisse der Nationen. Keine Nation kann im Machtkämpfe um die Gestaltung des Rechtes und seiner lebendigen Wirksamkeit in der Verwaltung mehr Kraft auslösen, als sie besitzt; die tatsächlichen Machtverhältnisse der Nationen, ihre Volkszahl, ihr Reichtum, ihre Kultur, sind unsere ungeschriebene Nationalitätenverfassung, die sich immer wieder die Rechtsordnung anpasst, die Verwaltung unterwirft. Die soziale Gliederung der Nationen bestimmt die Schnelligkeit des Wachstums ihrer Volkszahl, die Entwicklung ihrer wirtschaftlichen Kräfte, die Gestaltung ihrer Kultur. Den sozialen Aufbau der Nationen müssen wir also erforschen, wenn wir die tatsächlichen Machtverhältnisse aufdecken wollen, die ihre rechtlichen Beziehungen gestalten, wenn wir die Veränderungen der Gesetzgebung und Verwaltung begreifen und an ihrer Umgestaltung tätig mitwirken wollen.

Die soziale Gliederung jeder Nation ist das Erzeugnis ihrer ganzen Geschichte. In den nüchternen Zahlenreihen der Berufszählung spiegelt sich die alte, aus fernen Jahrhunderten überlieferte Wirtschafts Verfassung der Nation, die mit dem werdenden Neuen um ihr Dasein ringt.

Am zähesten hat die Wirtschaftsverfassung der Landwirtschaft überall die überlieferten sozialen Beziehungen erhalten. In der Verteilung des Grundbesitzes, in der Grösse der landwirtschaftlichen Betriebe erkennt der Historiker heute noch die Spuren uralten Geschehens. Denn der moderne Kapitalismus hat zwar das innere Wesen des bäuerlichen wie des gutsherrlichen Betriebes völlig umgestaltet ; an den Besitz- und Betriebsgrössen aber hat er in der Landwirtschaft weit weniger geändert als in den anderen Zweigen der gesellschaftlichen Produktion. Die Grösse der landwirtschaftlichen Betriebe muss aber auch im Zahlenverhältnis der Klassen der bürgerlichen Gesellschaft zum Ausdruck kommen. Wo der Grossgrundbesitz überwiegt, ist die Zahl der landwirtschaftlichen Arbeiter grösser, die Zahl der selbständigen Landwirte kleiner als in Gebieten, in denen der bäuerliche Besitz vorwaltet; wo Recht oder Sitte die Teilung des bäuerlichen Besitzes verbietet, ist die Zahl der grundbesitzenden Bauern geringer, die Zahl der im Haushalt des Bauern mitarbeitenden Familienmitglieder grösser als in jenen Ländern, wo die Parzellierung des landwirtschaftlich genutzten Bodens weiter fortgeschritten ist.

Aber wenn auch die Grundbesitzverteilung und die Verteilung der Betriebsgrössen in der Landwirtschaft, in der Geschichte vieler Jahrhunderte wurzelnd, die gewaltigen wirtschaftlichen Umwälzungen des letzten Jahrhunderts überdauert hat, so hat doch die Entwicklung des modernen Kapitalismus den ganzen sozialen Aufbau der Völker verändert. Die soziale Gliederung jeder Nation lässt uns erkennen, mit welcher Wucht die Nation von dem kapitalistischen Entwicklungsprozess ergriffen wurde, welche Stufe dieses Entwicklungsprozesses sie erreicht hat.

In drei vielfältig miteinander verknüpften Erscheinungen wird die Wirksamkeit des kapitalistischen Entwicklungsprozesses in der sozialen Gliederung der Nationen sichtbar. Zunächst in der Verschiebung der Bevölkerung aus der Landwirtschaft in die Industrie, den Handel und die Verkehrsgewerbe. Je stärker eine Nation von der kapitalistischen Umwälzung erfasst wurde, einen desto geringeren Teil ihrer Volkszahl umfasst die Landwirtschaft, einen desto grösseren die Industrie. Innerhalb der industriellen Bevölkerung aber verändert sich das Verhältnis zwischen selbständigen Unternehmern und Arbeitern. Je weiter der Kapitalismus fortschreitet, einen desto geringeren Teil der Bevölkerung bilden die selbständigen Unternehmer, einen desto grösseren die Arbeiter. Endlich führt die kapitalistische Entwicklung die Auflösung des wirtschaftlich einheitlichen Familienhaushalts herbei. Der Bauer wird von seiner Familie, nicht nur von seinem Weib und seinen Kindern, sondern nicht selten auch von erwachsenen Söhnen, Töchtern, Geschwistern in seiner Arbeit unterstützt; alle diese Personen leben im Haushalte des Familienoberhauptes und verzehren mit ihm, was Haus und Hof ihnen bringt. Ebenso haben die Frau und die Kinder des Handwerkers keine eigene Berufsstellung, kein eigenes Einkommen; das Einkommen des Familienoberhauptes muss auch seine Angehörigen ernähren. In der modernen industriellen Arbeiterschaft dagegen ist die Familie wirtschaftlich aufgelöst. Die Frau des Arbeiters geht nicht selten selbst in die Fabrik; sie hat ein eigenes Einkommen. Die Kinder müssen sich schon vom 14. Lebensjahre an ihr Brot selbst verdienen ; auch sie haben eine eigene Berufsstellung. Je höher die Stufe der kapitalistischen Entwicklung ist, desto grösser wird also die Zahl der Personen mit eigener Berufsstellung und eigenem Einkommen, desto geringer die Zahl der vom Familienoberhaupt erhaltenen Angehörigen.

Endlich wird die soziale Gliederung der Nationen mächtig durch die Tatsache beeinflusst, dass die verschiedenen Nationen an den herrschenden und ausbeutenden Klassen einerseits, an den beherrschten und ausgebeuteten Klassen andererseits ganz verschiedenen Anteil haben. Jahrhundertelang waren nur die Deutschen, Polen und Italiener im Adel, in der höheren Beamtenschaft und im wohlhabenden städtischen Bürgertum stärker vertreten; alle anderen Völker – die Untertanenvölker, die »geschichtslosen Nationen« – setzten sich fast ausschliesslich aus den beherrschten und ausgebeuteten Klassen zusammen. Erst im neunzehnten Jahrhundert sind auch diese Nationen allmählich in die höheren Schichten der bürgerlichen Gesellschaft eingedrungen. Aber auch heute noch ist es eine häufige Erscheinung, dass der deutsche Fabrikant tschechische Arbeiter, der polnische Grossgrundbesitzer ruthenische Landarbeiter, der italienische Händler slawische Taglöhner beschäftigt. Auch diese Tatsachen müssen in der sozialen Statistik der Nationen in Erscheinung treten.

Wir kennen nun die wichtigsten Komponenten, die den sozialen Aufbau der Nationen bestimmen. Wir wollen jetzt ihre Kraft an der Hand der Ergebnisse der Berufszählung vom Jahre 1900 prüfen. [1]

Sehen wir zunächst, wie sich die gesamte Bevölkerung jeder Nation – die Berufstätigen samt ihren Angehörigen – auf die grossen Berufsgruppen verteilt!

Tabelle I.

 

Berufszugehörige

Von je 1.000 Zugehörigen der nebenbezeichneten Nationen sind berufszugehörig zu

der Land- und
Forstwirtschaft

der Industrie,
des Handels
und Verkehrs

des öffentlichen Dienstes
und der freien Berufe

der Land- und
Forstwirtschaft

der Industrie,
dem Handel
und Verkehr

dem öffentlichen Dienst
und den freien Berufen

Deutsche

3.068.123

4.747.056

1.356.435

335

517

148

Tschechen

2.560.103

2.719.673

   656.820

431

458

111

Italiener

   362.569

   260.909

     99.858

501

361

138

Polen

2.775.401

1.099.594

   354.367

656

260

  84

Slowenen

   896.080

   201.504

     90.722

754

169

  77

Serbokroaten

   615.907

     59.325

     33.552

869

  84

  47

Rumänen

   206.890

     11.794

     10.334

903

  52

  45

Ruthenen

3,152.725

   142.404

     83.112

933

  42

  25

Die Tabelle zeigt uns, dass die Verschiebung der Bevölkerung von der Landwirtschaft in die Industrie bei den Deutschen, Tschechen und Italienern am weitesten gediehen ist. Diese Völker schöpfen aus der industriellen Entwicklung ihre Kraft; sie sind von der kapitalistischen Entwicklung am schnellsten erfasst worden. In weitem Abstande erst folgen ihnen die Polen und die Slowenen. Bei den Serbokroaten, Rumänen und Ruthenen dagegen bildet die industrielle Bevölkerung nur einen kleinen Teil der ganzen Nation.

Das höchstentwickelte Industrievolk Oesterreichs sind die Deutschen. Nur ein Drittel des deutschen Volkes zieht aus der Land- und Forstwirtschaft, die Mehrheit der Deutschen dagegen aus der Industrie, dem Handel und Verkehrswesen ihren Unterhalt. Von der Lebenshaltung der industriellen Bevölkerung hängt das Wachstum unserer Volkszahl und die Entfaltung unserer Kultur, von der Entwicklung der Industrie unsere wirtschaftliche Kraft ab. Die agrarische Wirtschaftspolitik, die die Lebenshaltung der industriellen Bevölkerung senkt, die Entwicklung unserer Industrie unterbindet, untergräbt die Grundlagen der Macht der deutschen Nation in Oesterreich.

Wollen wir nun prüfen, wie sich die einzelnen Nationen auf die Klassen der bürgerlichen Gesellschaft verteilen, so teilen wir die Bevölkerung in drei grosse Gruppen ein. Die erste Gruppe bilden die Selbständigen. Zu ihnen gehören die Grossgrundbesitzer ebenso wie die Bauern, die Fabrikanten wie die Handwerksmeister, die Grosskaufleute wie die Kleinhändler. Die zweite Gruppe bilden die Arbeiter. So nennen wir alle, die ihre Arbeitskraft um einen Lohn oder Gehalt verkaufen, also jene Schichten, die die Berufszählung als Angestellte, Arbeiter, Taglöhner und Hausdienerschaft bezeichnet. Die erste und die zweite Gruppe fassen wir als die Personen mit eigener Berufsstellung zusammen. Ihnen stellen wir als dritte Gruppe die Angehörigen gegenüber. So nennen wir alle, die nicht aus ihrer eigenen Berufsstellung ein selbständiges Einkommen beziehen, sondern vom Einkommendes Familienoberhauptes zehren, gleichgültig, ob das Familienoberhaupt der Gruppe der Selbständigen oder jener der Arbeiter zugehört, gleichgültig, ob diese Angehörigen das Familienoberhaupt in seinem Erwerb unterstützen (»mithelfende Familienmitglieder«) oder ob sie überhaupt nicht oder doch nicht regelmässig arbeiten (»Angehörige ohne eigenen Hauptberuf«) [2].

Wir wollen nur zunächst das zahlenmässige Verhältnis zwischen den Personen mit eigener Berufsstellung und den Angehörigen kennen lernen.

Tabelle II.

 

Personen
mit eigener
Berufsstellung

Angehörige

Auf je 100 Personen
mit eigener Berufsstellung
entfallen Angehörige

Deutsche

4.397.949

4.773.665

108

Tschechen

2.589.400

3.347.196

129

Slowenen

   439.707

   748.599

170

Italiener

   266.010

   457.326

172

Polen

1.352.563

2.876.799

213

Rumänen

     69.986

   159.032

227

Ruthenen

   880.315

2.497.926

284

Serbokroaten

   167.705

   541.079

323

Wir sehen hier gewaltige Unterschiede. Bei den Deutschen und Tschechen ist die Zahl der Angehörigen nur wenig grösser als die der Personen mit eigener Berufsstellung, bei den Polen, Rumänen und Ruthenen ist sie mehr als doppelt so gross, bei den Serbokroaten mehr als dreimal so gross. Wie sind solche Unterschiede zu erklären?

Hier wird uns zunächst offenbar, wie der Kapitalismus die Familie als wirtschaftliche Einheit auflöst. Die Deutschen und Tschechen, die vom Industrialisierungsprozess am stärksten ergriffen sind, haben auch verhältnismässig am meisten Personen mit eigener Berufsstellung, bei ihnen ist der Prozess der Auflösung des Familienhaushalts am weitesten fortgeschritten.

Bei den anderen Nationen ist das Bild nicht ebenso deutlich. Sie treten in der Tabelle II in anderer Reihenfolge auf als in der Tabelle I, die uns die Stufe des Industrialisierungsprozesses darstellt, die die einzelnen Nationen erreicht haben. Dies

ist einerseits auf Verschiedenheiten der überlieferten Agrarverfassung, andererseits auf Verschiedenheiten des Altersaufbaues zurückzuführen. Jene Nationen, von deren Volkszahl die Kinder und Unmündigen einen grösseren Teil bilden, müssen natürlich auch mehr »Angehörige«, weniger Personen mit eigener Berufsstellung zählen.

Kennen wir nun das Verhältnis zwischen den Personen mit eigener Berufsstellung und den Angehörigen, so müssen wir, um ein anschaulicheres Bild des sozialen Aufbaues der Völker zu gewinnen, die ersteren schärfer ins Auge fassen. Wir wollen sehen, wie sie sich auf die Selbständigen und auf die Arbeiter verteilen.

Tabelle III.

 

Gesamtzahl der Personen
mit eigener Berufsstellung

Darunter
Selbständige

Darunter
Arbeiter

Anteil der
Arbeiter in
Prozenten

Tschechen

2.589.400

897.554

1.691.846

65,34

Deutsche

4.397.949

1.569.492

2.828.457

64,31

Italiener

   266.010

   130.459

   135.551

50,96

Polen

1.352.563

   666.288

   686.275

50,74

Slowenen

   439.707

   223.239

   216.468

49,23

Rumänen

     69.986

     37.555

     32.431

46,34

Ruthenen

   880.315

   573.309

   307.006

34,87

Serbokroaten

   167.705

   118.119

   49.586

29,57

Die Arbeiter bilden also bei den Tschechen und Deutschen mehr als drei Fünftel, bei den Italienern und Polen mehr als die Hälfte, bei Slowenen, Rumänen und Ruthenen immerhin noch mehr als ein Drittel und nur bei den Serbokroaten weniger als ein Drittel aller Personen mit eigener Berufsstellung. Was die Arbeiterklasse innerhalb der einzelnen Volksgesamtheiten bedeutet, wird uns hier offenbar. Aller Nationen Volkszahl, Reichtum und Kultur wird sehr wirksam durch jede Veränderung der Lebenshaltung der Arbeiterklasse beeinflusst; am stärksten aber sind die wirtschaftlich höchstentwickelten Nationen, die Deutschen, Tschechen und Italiener, von der Entwicklung der Arbeiterklasse abhängig. Mehr als drei Fünftel der berufstätigen Deutschen verkaufen ihre Arbeitskraft um einen Arbeitslohn oder Gehalt. Wie kann unsere Volkszahl wachsen, wenn wir drei Fünftel unseres werktätigen Volkes den verheerenden Wirkungen des Hungers und der Ueberarbeit preisgeben? Wie kann die deutsche Kultur die Massen unseres Volkes durchdringen, wenn wir drei Fünftel unserer arbeitenden Männer und Frauen von allen Kulturgütern ausschliessen? Was will unser Reichtum bedeuten, wenn drei Fünftel des arbeitenden deutschen Volkes an ihm keinen Teil haben? Und muss nicht, da bei Deutschen und Tschechen der Anteil der Arbeiter an der Gesamtheit der Berufstätigen grösser ist als bei den anderen Nationen, jede Verbesserung der Lage der Arbeiterschaft diesen beiden Völkern am meisten nützen, ihre Machtstellung im Gesamtstaat am wirksamsten fördern? Die nationale Bedeutung der sozialen Reform, der nationale Gehalt des proletarischen Klassenkampfes wird uns hier offenbar.

Vergleichen wir die Tabelle III mit der Tabelle I, so sehen wir – von zwei Ausnahmen abgesehen – in beiden Zahlenreihen die Nationen in derselben Reihenfolge auftreten. Je stärker eine Nation vom Industrialisierungsprozess erfasst ist, desto grösser ist auch der Anteil der Arbeiter an der Gesamtzahl der Personen mit eigener Berufsstellung. Da der Industrialisierungsprozess bei allen Völkern fortschreitet, wächst auch bei allen Nationen die Bedeutung der Arbeiterklasse im Leben der Gesamtheit, für alle Völker gewinnen die sozialen Errungenschaften des proletarischen Kampfes stetig steigenden nationalen Wert.

Zwei Ausnahmen stören dieses Bild. Die Tschechen, bei denen der Industrialisierungsprozess weniger weit fortgeschritten ist als bei den Deutschen, haben trotzdem verhältnismässig mehr Arbeiter innerhalb der berufstätigen Bevölkerung als wir. Bei den Serbokroaten ist die Zahl der Arbeiter am geringsten, obwohl der Anteil der industriellen Bevölkerung an ihrer Volkszahl grösser ist als bei den Rumänen und Ruthenen. Auch dass die Polen hinter den Italienern in der Tabelle III weniger weit zurückstehen als in der Tabelle I, ist auffallend. Die Erklärung dieser Abweichungen werden wir finden, wenn wir das Verhältnis der Selbständigen zu den Arbeitern innerhalb der grossen Berufsklassen gesondert untersuchen.

Tabelle IV.

 

Gesamtzahl der Personen
mit eigener Berufsstellung
in der Landwirtschaft

Darunter
Selbständige

Darunter
Arbeiter

Anteil der Arbeiter
in Prozenten

Tschechen

   954.999

353.324

601.675

63,00

Deutsche

1.239.066

485.801

753.265

60,79

Slowenen

   272.986

148.558

124.428

45,58

Polen

   778.006

435.151

342.855

44,07

Rumänen

     58.952

  33.150

  25.802

43,76

Italiener

     92.313

  62.846

  29.467

31,92

Ruthenen

   770.696

535.523

235.173

30,51

Serbokroaten

   123.926

101.359

  22.567

18,21

Wir sehen hier, dass die Lohnarbeiter auch in der Landwirtschaft einen grossen Teil der berufstätigen Bevölkerung bilden. Bei den höchstentwickelten Nationen, bei den Deutschen und bei den Tschechen, ist die Zahl der Lohnarbeiter in der Landwirtschaft beträchtlich grösser als die Zahl der Bauern. Auch diese Erkenntnis ist wohl verwendbar im Kampfe gegen die agrarische Politik, die sich gebärdet, als ob sie das Gesamtinteresse der ländlichen Bevölkerung fördern wollte und doch nur die Sonderinteressen eines Teiles der Selbständigen vertritt.

Die Verschiedenheiten der sozialen Struktur der Landwirtschaft der einzelnen Nationen sind aus den Verschiedenheiten ihrer geschichtlich überlieferten Agrarverfassung zu erklären. Diese Verschiedenheiten müssen nun natürlich auch das Verhältnis der Arbeiter zu den Selbständigen innerhalb der gesamten arbeitenden Bevölkerung, das wir aus der Tabelle III kennen, beeinflussen. So können wir die Abweichungen der Tabelle III von der Tabelle I erklären. Dass die Serbokroaten weniger Arbeiter zählen, als ihrem Anteil an dem Industrialisierungsprozess entsprechen würde, ist darauf zurückzuführen, dass die eigentümliche Agrarverfassung ihrer Siedlungsgebiete nur wenig landwirtschaftlichen Arbeitern Raum gibt. Dass bei den Polen trotz ihrer industriellen Rückständigkeit der Anteil der Arbeiter an der Gesamtzahl der Personen mit eigener Berufsstellung fast ebenso gross ist wie bei den Italienern, ist aus der Tatsache zu erklären, dass in der Landwirtschaft die Klasse der Arbeiter bei diesen weit weniger stark besetzt ist als bei jenen. Dass nach Tabelle III die Quote der Arbeiter bei den Tschechen grösser ist als bei den Deutschen, ist gleichfalls auf die Verschiedenheiten der Agrarverfassung zurückzuführen; in den Siedlungsgebieten der tschechischen Nation ist der Grossgrundbesitz stark vertreten, daher auch die Zahl der Lohnarbeiter in der Landwirtschaft verhältnismässig gross, während in den deutschen Alpenländern der bäuerliche Besitz überwiegt, wodurch der Anteil der Lohnarbeiter an der Gesamtzahl der Personen mit eigener Berufsstellung verringert wird.

Indessen sind die Abweichungen der sozialen Schichtung (Tabelle III) von der Gliederung in Berufsklassen (Tabelle I) nicht restlos aus der sozialen Struktur der landwirtschaftlichen Bevölkerung zu erklären; wir müssen also auch noch auf die Klassenschichtung innerhalb der industriellen Bevölkerung einen Blick werfen.

Tabelle V.

Gesamtzahl der Personen
mit eigener Berufsstellung
in der Industrie, dem Handel
und Verkehr

Darunter
Selbständige

Darunter
Arbeiter

Anteil der Arbeiter
in Prozenten

Rumänen

       4.363

       766

       3.597

82,44

Tschechen

1.187.707

226.653

   961.054

80,91

Deutsche

2.231.791

483.837

1.747.954

78,32

Slowenen

     96.941

  25.647

     71.294

73,54

Italiener

   116.386

  32.800

     83.586

71,82

Ruthenen

     53.439

  16.694

     36.745

68,76

Serbokroaten

     23.199

     7.474

     15.725

67.78

Polen

   377.195

129.824

   247.371

65.58

Die Arbeiterschaft bildet bei allen Nationen die Mehrheit, bei keiner Nation weniger als drei Fünftel, bei den Deutschen, Slowenen und Italienern mehr als sieben Zehntel, bei den Rumänen und Tschechen mehr als vier Fünftel der industriellen Bevölkerung. Mit einer »Industriepolitik«, die nichts anderes ist als kapitalistische Industriellenpolitik oder zünftlerische Meisterpolitik, ist keiner Nation gedient. Aller Völker Interessen dagegen werden durch eine Industriepolitik gefördert, die die Lebenshaltung der breiten Masse des Industrievolkes, die Lebenshaltung der Arbeiterschaft erhöht.

Betrachten wir nun die soziale Schichtung der industriellen Bevölkerung im einzelnen, so sehen wir, dass die Nationen hier keineswegs in derselben Reihenfolge auftreten wie in der Tabelle I. Dies ist daraus zu erklären, dass die soziale Gliederung der industriellen Bevölkerung die Resultante aus zwei einander widerstreitenden Komponenten ist.

Die soziale Struktur der industriellen Bevölkerung wird zunächst durch die Stufe der kapitalistischen Entwicklung bestimmt, die die Nationen erklommen haben. Je grösseren Anteil die Nation an der kapitalistischen Entwicklung hat, desto grösser muss auch der Anteil der Arbeiter an der Gesamtheit der berufstätigen Personen in der Industrie sein. Würde diese Komponente die soziale Struktur der industriellen Bevölkerung allein bestimmen, dann müssten die Nationen in der Tabelle V sich in derselben Reihenfolge ordnen wie in der Tabelle I.

Dies ist nicht der Fall, weil auf den sozialen Aufbau der industriellen Bevölkerung noch ein zweiter Faktor bestimmend einwirkt, nämlich der geschichtlich überlieferte Gegensatz zwischen den Herrennationen und den Untertanenvölkern, den »geschichtslosen Nationen«. Würde diese Komponente allein wirken, dann müssten jene Völker, die in den herrschenden und ausgebeuteten Klassen stärker vertreten sind, weit weniger Arbeiter, weit mehr Selbständige zählen als die anderen Nationen.

Aus dem Zusammenwirken dieser beiden Komponenten sind die merkwürdigen Ergebnisse der Tabelle V zu erklären.

So verstehen wir zunächst die auffallende Tatsache, dass die Rumänen in der Tabelle V an erster Stelle stehen. Die rumänische Nation hat fast keine Selbständigen in der Industrie und im Handel. In der Industrie wurden im ganzen 482, im Handel und Verkehrswesen 284 Selbständige rumänischer Nationalität gezählt. Die gewerblichen Bedürfnisse der rumänischen Bevölkerung werden überwiegend von Personen befriedigt, die sich zu einer anderen Nation bekennen.[3] Nur als Arbeiter, Taglöhner, Dienstboten dringen die Söhne und Töchter rumänischer Bauern in die Industrie und den Handel ein. Es ist also gerade die wirtschaftliche Rückständigkeit der rumänischen Nation, der Charakter einer reinen Bauernnation, eines Untertanenvolkes, dessen Söhne ihre Arbeitskraft national fremden Ausbeutern verkaufen müssen, der die Rumänen in der Tabelle V an die erste Stelle rückt.

Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den Tschechen. Sie sind vom kapitalistischen Entwicklungsprozess stark erfasst worden; und auch sie sind ein altes Untertanenvolk, dessen Kinder als Arbeiter und Dienstboten sehr oft fremden, zumeist deutschen Herren dienen. Hier wirken beide Komponenten nach einer Richtung, um den Anteil der Arbeiterschaft an der tschechischen industriellen Bevölkerung zu erhöhen. Wenn also innerhalb der tschechischen Nation die Arbeiter einen grösseren Teil der Berufstätigen aller Berufsklassen bilden, als bei irgend einer anderen Nation (Tabelle III), so ist dies nicht nur aus der sozialen Schichtung der tschechischen Landwirtschaft, sondern auch aus der sozialen Gliederung der tschechischen industriellen Bevölkerung zu erklären. Diese Erscheinung ist eine der objektiven Ursachen des grossen Wahlsieges der tschechischen Sozialdemokratie, die bei den letzten Reichsratswahlen einen grösseren Teil aller Stimmen ihrer Nation auf ihre Wahlwerber zu vereinigen vermochte, als die Genossen jedes anderen Volkes.

Zur deutschen Nation dagegen bekennen sich nicht selten die Unternehmer in Gegenden, wo ein grosser Teil, zuweilen die Mehrheit der Arbeiter einer anderen Nation zugehört. Trotzdem ist der Anteil der Arbeiter an der berufstätigen industriellen Bevölkerung bei den Deutschen fast ebenso gross wie bei den Tschechen, weil die deutsche Nation eine weit höhere Stufe der kapitalistischen Entwicklung erreicht hat, als die anderen Völker Oesterreichs. Der Anteil der Arbeiter an der Gesamtzahl der in der Industrie berufstätigen Deutschen ist sehr gross, weil der Charakter der Deutschen als einer kapitalistisch hochentwickelten Nation die soziale Struktur des Industrievolkes weit stärker beeinflusst als ihr Charakter als einer alten Herrennation.

Auch dass bei den Italienern die Quote der Arbeiter geringer ist als bei den Slowenen, ist aus dem Spiel der beiden Komponenten leicht zn erklären. In der Industrie ist das Verhältnis zwischen Selbständigen und Arbeitern bei beiden Nationen annähernd gleich. Bei den Slowenen stehen in der Industrie 20.199 Selbständigen 57.246 Arbeiter, bei den Italienern 20.038 Selbständigen 37.197 Arbeiter gegenüber. Am Handel und Verkehrswesen dagegen haben die Italiener weit stärkeren Anteil als die Slowenen. Bei diesen sind nur 19.496, bei jenen dagegen 39.151 Personen als Selbständige oder Arbeiter im Handel und Verkehrswesen beschäftigt. Diese Erwerbszweige umfassen bei den Slowenen nur ein Fünftel, bei den Italienern dagegen ein Drittel der berufstätigen industriellen Bevölkerung. Da nun im Handel auf einen Selbständigen weniger Arbeiter entfallen als in der Industrie [4], erscheint die Quote der Arbeiter bei den Italienern geringer. Es ist also der Charakter der Italiener als einer Händlernation, als der Nation, die die städtische Oberschichte, die Kaufleute und Reeder mitten im südslawischen Agrarlande stellt, die die Quote der Selbständigen bei ihnen erhöht und sie daher in der Tabelle V hinter den Slowenen zurücktreten lässt.

Auch dass die Polen in der Tabelle V an letzter Stelle stehen, beruht wesentlich auf ihrer starken Vertretung im Kleinhandel. Von den 129.824 Selbständigen entfallen 58.825 auf Handel und Verkehr und ihnen stehen in diesen Erwerbszweigen nur 91.994 Arbeiter gegenüber. Polen und Juden, die sich zur polnischen Umgangssprache bekennen, bilden ja die städtische Bevölkerung im ruthenischen Agrargebiet, zu ihnen gehören die Händler der ruthenischen Bauerndörfer.

So wirken hier wieder – nur im entgegengesetzen Sinne wie bei den Tschechen – beide Komponenten zusammen, um den Anteil der Arbeiter bei den Polen zu senken. Sie müssen hinter den Deutschen, Tschechen und Italienern in der Tabelle V zurücktreten, weil sie auf der Stufenleiter des kapitalistischen Entwicklungsprozesses tiefer stehen; sie rücken aber auch hinter die Ruthenen und Serbokroaten zurück, weil sie die städtische und kaufmännische Oberschichte eines Agrarlandes bilden.

Wir kennen nun die soziale Schichtung der landwirtschaftlichen und der industriellen Bevölkerung. Nun wollen wir sehen, wie sich die Gesamtzahl der Arbeiter auf die grossen Berufsklassen verteilt.

Tabelle VI.

 

Gesamtzahl der Arbeiter

Von je 1.000 Arbeitern sind beschäftigt

 

in der Industrie,
dem Handel
und Verkehr

in der
Land- und
Forstwirtschaft

im öffentlichen Dienst und
in den freien Berufen

in der Industrie,
dem Hande
und Verkehr

in der Land- und Forstwirtschaft

im öffentlichen Dienst und
in den freien Berufen

Deutsche

1.747.954

753.265

327.238

618

266

116

Italiener

     83.586

  29.467

  22.498

617

217

Tschechen

   961.054

601.675

129.117

568

356

  76

Polen

   247.371

342.855

  96.049

360

500

140

Slowenen

     71.294

124.428

  20.746

329

575

  96

Serbokroaten

     15.725

  22.567

  11.294

317

455

228

Ruthenen

     36.745

235.173

  35.088

120

766

114

Rumänen

       3.597

  25.802

    3.032

111

796

  93

Bei den Deutschen und Italienern umfasst die industrielle Arbeiterschaft bereits mehr als drei Fünftel, bei den Tschechen mehr als die Hälfte des gesamten Proletariats. Die Nationen erscheinen hier in derselben Ordnung wie in Tabelle I. Nur treten die Tschechen hinter den Italienern zurück, weil die Agrarverfassung der italienischen Siedlungsgebiete nur einer geringen Zahl von Lohnarbeitern Raum gibt (Tabelle IV), wodurch die Quote der industriellen Arbeiterschaft bei den Italienern erhöht wird. Ebenso rücken die Rumänen hier hinter die Ruthenen, weil, wie wir gleichfalls aus Tabelle IV ersehen, die Arbeiterklasse innerhalb der Landwirtschaft bei jenen stärker besetzt ist als bei diesen.

Für die Entwicklung der Sozialdemokratie innerhalb der einzelnen Nationen ist der Anteil der industriellen Arbeiterschaft an der gesamten Arbeiterklasse von bestimmender Bedeutung. Die Sozialdemokratie vertritt zwar keineswegs nur die Interessen der industriellen Arbeiterschaft, sondern sie kämpft ihren grossen Kampf für das gesamte Proletariat. Aber die industrielle Arbeiterschaft ist der kampffähigste, von allen überlieferten Vorstellungen und Werten am vollständigsten befreite Teil des Proletariats. Je grösser der Anteil der industriellen Arbeiterschaft an dem gesamten Proletariat ist, desto stärker ist die Sozialdemokratie, desto fester wurzelt sie in den Massen, desto reiner prägt sich die proletarische Klassenideologie aus, losgelöst von den Werten vergangener Zeiten und fremder Klassen. Wer die Differenzierung der sozialistischen Gedankenwelt innerhalb der verschiedenen Nationen ursächlich erforschen will, wird neben anderen Bestimmungsgründen auch die verschiedene Verteilung der Arbeiterschaft auf die Berufsklassen wohl beachten müssen.

Wir fassen nun endlich die soziale Gliederung der Nationen in einem abschliessenden Bilde zusammen, indem wir den Anteil aller drei Gruppen – der Selbständigen, der Arbeiter und der Angehörigen – an der Gesamtbevölkerung berechnen.

Von je 1.000 Zugehörigen der nebenbezeichneten Umgangssprachen sind :

Tabelle VII.

 

Selbständige

Arbeiter

Angehörige

Deutsche

171

308

521

Tschechen

151

285

564

Italiener

180

188

632

Slowenen

188

182

630

Polen

158

162

680

Rumänen

164

142

694

Ruthenen

170

91

739

Serbokroaten

167

70

763

Die Nationen folgen hier in derselben Reihe wie in der Tabelle I: je höher der Anteil der industriellen Bevölkerung, desto grösser ist auch die Quote der Arbeiterschaft. Nur stehen hier die Polen hinter den Slowenen, die Serbokroaten hinter Rumänen und Ruthenen zurück, weil bei diesen Nationen auf jede Person mit eigener Berufsstellung mehr Angehörige entfallen. (Tabelle II.) Die Deutschen, die sich in den Tabellen III bis V mit der zweiten oder dritten Stelle begnügen mussten, rücken hier wieder an die erste Stelle, weil bei ihnen die wirtschaftliche Auflösung der Familie am weitesten fortgeschritten ist. Bei keiner Nation bilden die berufstätigen Arbeiter einen so grossen Teil der Gesamtbevölkerung, keiner Nation Geschick ist mit dem Wohl und Wehe der Arbeiterklasse so eng verknüpft wie das der Deutschen. Die Sache der Arbeiterklasse ist die Sache der deutschen Nation.

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Fussnoten

1. Sämtliche Zahlen sind dem 66. Bande der Oesterreichischen Statistik entnommen oder aus den dort angegebenen Zahlen berechnet.

2. Unsere Unterscheidung zwischen den Personen mit eigener Berufsstellung und den Angehörigen fällt mit der Unterscheidung der amtlichen Bearbeitung der Berufszählung zwischen Berufstätigen und Angehörigen nicht zusammen, da wir einerseits die Hausdienerschaft den Arbeitern, also auch den Personen mit eigener Berufsstellung zurechnen – denn uns handelt es sich um die soziale Stellung, nicht um die ökonomische Funktion – und andererseits die »mithelfenden Familienmitglieder« nicht zu den Personen mit eigener Berufsstellung zählen. Die Angaben der amtlichen Bearbeitung über die Gesamtzahl der Berufstätigen haben geringen Wert, da die Grenzlinie zwischen den »mithelfenden Familienmitgliedern«, die zu den Berufstätigen gerechnet wurden, und den »Angehörigen ohne eigenen Hauptberuf« insbesondere in der Landwirtschaft nicht ohne Willkür gezogen werden kann und da diese Unterscheidung in den verschiedenen Teilen des Reiches gewiss in ganz verschiedener Weise durchgeführt wurde.

3. Es handelt sich wohl überwiegend um Juden, die sich zur deutschen oder zur polnischen Umgangssprache bekannt haben.

4. Im Handel und Verkehr bei den Slowenen 5.448 Selbständige, 14.048 Arbeiter, bei den Italienern 12.762 Selbständige, 26.389 Arbeiter.

 


Leztztes Update: 6. April 2024