Otto Bauer

Krise und Teuerung

(Dezember 1907)


Der Kampf, Jahrgang 1 3. Heft, Dezember 1907, S. 116–123.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Kreislauf des Wirtschaftslebens von Hochkonjunktur zur Krise, von Krise zur Hochkonjunktur naht heute wiederum seinem Wendepunkt. Seit achtzig Jahren erlebt die kapitalistische Welt dasselbe grausame Spiel: Auf die Krise von 1825 folgte zu Beginn der Dreissiger jahre eine Periode der Prosperität, die in der schweren und schleppenden Krise von 1836 endete – jener Krise, aus der die Chartistenbewegung, die erste grosse und selbständige politische Bewegung des englischen Proletariats, so reiche Nahrung gesogen hat. Unter dem belebenden Einfluss grosser Eisenbahnbauten erholt sich die Volkswirtschaft wieder in den Vierzigerjahren; aber im Jahre 1847 bricht sie wieder zusammen und die grossen Ereignisse des folgenden Jahres erzählen von der revolutionierenden Wirkung der Krise. Die Goldfunde in Kalifornien und Eisenbahnbauten in grossem Umfang führen zu neuer Belebung der wirtschaftlichen Tätigkeit; aber auch diese Periode der Prosperität endet in einer Krise; sie geht im Jahre 1857 von Amerika aus, greift auf England und von dort auf den Kontinent über. Bis dahin dauert jeder Abschnitt des Kreislaufs zehn oder elf Jahre; die Jahre 1825, 1836, 1847, 1857 sind die Wendepunkte der Konjunktur. Die grossen Kriege von 1864, 1866 und 1870 stören die Regelmässigkeit des Ablaufs. Aber gerade diese grossen politischen Umwälzungen leiten jene Gründerperiode ein, die in dem grossen Krach von 1873 zusammenbricht. Erst um die Wende des Jahrzehnts erholt sich die europäische Wirtschaft wieder von dieser schweren Erschütterung; aber im Jahre 1882 bezeichnet der Krach des Pariser Bankhauses Bontoux neuerlich eine Wendung der Konjunktur. Zu Ende der Achtzigerjahre folgt ein neuer Aufschwung; im Jahre 1890 verkündet der Sturz des Bankhauses Baring Bros & Co. eine neue Abflauung. 1895 bis 1900 sieht Europa, insbesondere das Deutsche Reich, einen gewaltigen Aufschwung der Industrie; schon glaubten kurzatmige Theoretiker und erfolgfrohe Praktiker, die schlimmen Zeiten der Krise würden nicht wiederkehren. Aber der Zusammenbruch im Jahre 1901 zerstört ihre Hoffnungen. Ueberraschend schnell erholt sich die kapitalistische Wirtschaft von den Wirkungen der Krise und die Jahre 1904 bis 1907 tragen wieder das Gepräge der aufsteigenden Konjunktur; aber schon zweifelt niemand mehr daran, dass sich abermals eine schwere Krise mit ihrem Gefolge von Bankerotten, von Produktionseinschränkungen, von Arbeitslosigkeit und Lohnkürzungen vorbereitet.

An dem Aufschwung der letzten Jahre hatte auch die österreichische Volkswirtschaft nicht geringen Teil. Zwei gute Ernten haben die Kaufkraft des inneren Marktes in den kapitalistisch höher entwickelten Staaten gestärkt, was uns die Konkurrenz auf dem Weltmarkt erleichtert und zu einer beträchtlichen Steigerung unseres Exports geführt hat. Die durch die neuen Handelsverträge erhöhten industriellen Schutzzölle haben die Einfuhr fremder Industrieprodukte nach Oesterreich erschwert und dadurch die Gründung zahlreicher neuer Betriebe in Oesterreich gefördert. Der Bau der Alpenbahnen hat die Nachfrage nach Eisenbahnmaterial, nach Waggons, Lokomotiven, Schienen, Baumaterial, Werkzeugen und Maschinen verschiedenster Art erhöht. Die günstige Situation hat die Unternehmer ermutigt, den veralteten Produktionsapparat zu erneuern, die bestehenden Betriebe zu erweitern und neue Betriebe zu gründen; diese Erneuerung und Erweiterung unserer Produktionsapparats, an der auch die landwirtschaftliche Produktion nicht geringen

Anteil hatte, hat wiederum den Produzenten von Baumaterial und Arbeitsmitteln neue Absatzmöglichkeiten erschlossen. So waren auch in Oesterreich die letzten drei Jahre eine Periode der Ausdehnung unserer Industrie, eine Epoche der Hochkonjunktur, der hohen Preise, Profite und Löhne.

Der Finanzminister hat in seiner Rede über den Staatsvoranschlag für das Jahr 1908 mitgeteilt, dass in den beiden letzten Jahren in der Baumwollindustrie die Zahl der Spindeln um 650.000 bis 700.000, die Zahl der Webstühle um 15.000 bis 20.000 gestiegen ist. In den schweren Industrien stieg die Produktion in den Jahren 1905 bis 1906 in folgender Weise:

 

1905

1906

in Tausenden Meterzentnern

Steinkohle

125.835

134.733

Braunkohle

226.921

241.677

Eisenerz

  19.138

  22.537

Roheisen

  11.196

  12.222

Der Eisenkonsum betrug im Jahre 1905 35,2, im Jahre 1906 36,4 Kilogramm, der Kohlenverbrauch stieg von 1.169 auf 1.249 Kilogramm auf den Kopf der Bevölkerung. Auch die Steigerung der Einfuhr von Produktionsmitteln und Rohstoffen bezeugt die Ausdehnung der heimischen Produktion. Die Einfuhr in das österreichischungarische Zollgebiet betrug

 

1905

1906

 

in Tausenden Meterzentnern

Steinkohle

64.180

74.754

Kupfer

     226

     245

Maschinen und Apparate

     589

     700

Chemische Produkte und Hilfsstoffe

  2.159

  2.845

Rindshäute

     114

     198

Baumwolle

  1.631

  1.647

Ebenso geht die Steigerung der abgesetzten Warenmengen aus der Transportstatistik der Eisenbahnen und Schifffahrtsgesellschaften hervor. So wurden beispielsweise auf den Strecken der Staatseisenbahngesellschaft und der Südbahn befördert:

 

Staatsbahn

Südbahn

1905

1906

1905

1906

in Tausenden Meterzentnern

Eisen, Stahl und Waren daraus

  3.255

  3.829

  8.378

  9.538

Kohle

40.554

45.627

18.310

20.329

Zucker und Melasse

  5.867

  7.241

  2.704

  3.703

Petroleum

  2.260

  3.079

  1.311

  1.340

Getreide und Malz

  7.362

  7.736

  8.003

  8.029

Mahlprodukte

  3.034

  2.958

  4.066

  4.370

Die Ausdehnung der Warenproduktion bedeutet eine gewaltige Steigerung der Nachfrage nach Arbeitsmitteln und Rohstoffen. Dies führt eine Steigerung der Profite und der Arbeitslöhne herbei, wodurch wieder die Nachfrage nach Konsumtionsgütern vermehrt wird. Die Preise steigen, die Verkäufer zwingen die Abnehmer zu langfristigen Schlüssen. Schliesslich gehen die Verkäufer daran, ihre Machtstellung auf dem Markte zum Abschluss von Kartellen zu benützen. Sie können dies um so eher, als die neuerlich erhöhten Industriezölle ihnen die ausländische Konkurrenz vom Leibe halten. Nach unseren Aufzeichnungen wurden seit Beginn des Jahres 1905 zehn Kartelle erneuert, verlängert oder ausgestaltet und 37 neue Kartelle gegründet. Wo Preiskartelle noch nicht möglich schienen, wurden doch Vereinbarungen über die Zahlungs-und Verkaufsbedingungen geschlossen; hierher gehören das Konditionskartell der Banken, acht Konditionskartelle in der Textilindustrie und einzelne ähnliche Verbände in der Maschinenindustrie, dem Speditionsgewerbe u. s. w.

Hohe Preise – hohe Profite. Vergleichen wir den Reingewinn, den die grössten Aktiengesellschaften der wichtigsten Branchen in den Jahren 1905 und 1906 ausgewiesen haben – der ausgewiesene Gewinn bleibt gerade in den Jahren der Hochkonjunktur gegenüber dem wirklich erzielten stets weit zurück! – so sehen wir, wie gewaltig der Unternehmergewinn während der aufsteigenden Kurve des industriellen Zvklus gewachsen ist.

Branche

Zahl der berücksichtigten
Aktiengesellschaften

Ausgewiesener Reingewinn
im Jahre

 

1905

1906

Kronen

Kohlen- und Eisenwerke

7

  27.717.260

  32.912.461

Maschinenindustrie

9

    7.645.077

  11.325.490

Elektrizitätsindustrie

6

    5.782.990

    8.009.960

Holzindustrie

1

       580.205

       673.146

Chemische Industrie

6

    6.657.066

    7.178.600

Brauereien

5

    1.778.505

    1.895.965

Glasindustrie

2

    1.064.598

    1.197.294

Papierindustrie

6

    3.380.060

    4.593.187

Textilindustrie

4

    2.592.040

    2.833.008

Eisenbahnen

8

  34.865.574

  37.613.337

Eisenbahnverkehrsanstalten

2

    1.421.029

    1.888.711

Schifffahrtsgesellschaften

3

    3.978.055

    5.390.287

Banken

6

  38.190.842

  51.843.671

Zusammen

65

135.653.301

167.355.117

Im Jahre 1906 haben diese 65 grossen Aktiengesellschaften einen um 32 Millionen Kronen, das ist um 23.5 Prozent grösseren Reingewinn ausgewiesen als im Jahre 1905, obwohl doch auch dieses Jahr schon ein Jahr der Hochkonjunktur war und ihnen weit höhere Gewinne gebracht hat als die früheren Jahre und obwohl sie zweifellos dieses Jahr der Prosperität dazu benützt haben, grosse unsichtbare Reserven für schlechtere Zeiten aufzuspeichern.

Mit den Kapitalisten teilen die Grundeigentümer den Riesengewinn, der aus der Verteuerung aller Waren und der Ausdehnung der Produktion fliesst. Das Wachstum der Bevölkerung, die Vereinigung schnell wachsender Volksmassen in den Städten und Industriezentren, die wachsende Nachfrage nach Baustellen, Wohnungen, Geschäftslokalen und Werkstätten haben die Grundrente und die Bodenpreise in die Höhe getrieben. Nach den Angaben von Dr. Paul Schwarz betrug in Wien der Preis der Baustellen per Quadratmeter

 

1904–1905

1907

Kronen

Mariahilferstrasse, unterer Teil

560

600–700

Währingerstrasse, unterer Teil

220–280

250–300

Favoritenstrasse, unterer Teil

130–150

150–180

Simmeringer Hauptstrasse, unterer Teil

35–45

40–45

Kaiser-Ebersdorf

3–6

6–10

Hietzinger Hauptstrasse, unterer Teil

60–85

70–100

Grinzing

10–18

15–25

Wallensteinstrasse

110

120

Auch der Staat hat aus dieser günstigen Konjunktur überaus reichen Gewinn gezogen. Die Steuererträge sind gewaltig gestiegen, die staatlichen Betriebe haben höhere Gewinne abgeworfen. Der Ueberschuss von 146 Millionen Kronen, von dem der Finanzminister dem Abgeordnetenhause berichten konnte, stellt den Anteil des Staates an der steigenden Flut der Profite und Renten dar.

Auch der Arbeiterklasse ist es gelungen, von diesem Strom von Gold einen bescheidenen Arm in ihr Bett zu leiten. Die Ausdehnung der Produktion bewirkt eine Steigerung der Nachfrage nach Arbeitskräften. Die Ausweise der Arbeitsvermittlungsanstalten zeigen eine stetige Abnahme der Arbeitslosigkeit. In den an der Arbeitsnachweisstatistik beteiligten Nachweisstellen kamen im Jahre 1906 nur 125 Arbeitsuchende auf 100 offene Stellen, während sich im Jahre 1905 noch 153, im Jahre 1904 160 Arbeitsuchende um je 100 offene Stellen bewarben.

Die industrielle Arbeiterschaft hat diese günstige Situation auszunützen verstanden. Unsere Gewerkschaften sind in diesen Jahren gewaltig gewachsen. Die Zahl ihrer Mitglieder betrug im Jahre 1904: 189.121, 1905: 323.099, 1906: 448.270. In zahlreichen Lohnkämpfen haben die Arbeiter den Unternehmern günstige Arbeitsbedingungen abgerungen. An Ausständen waren im Jahre 1905 99.591, im Jahre 1906 135.260 Arbeiter beteiligt. Im Jahre 1905 haben 85.273, im folgenden Jahre 94.936 Arbeiter einen vollen oder teilweisen Erfolg im Lohnkampf errungen.

Auch den landwirtschaftlichen Arbeitern brachte der Aufschwung der Industrie einigen Gewinn. Die Industrie zog zahlreiche Arbeiter vom Lande an sich ; die Klagen der Landwirte über die Leutenot wurden um so lauter, als die fortschreitende Entwicklung der Landwirtschaft zu intensiverer Bodenbebauung gerade jetzt den Arbeitsbedarf auf dem Lande erhöht. Die Abwanderung der Arbeiter in die Industrieorte zwang auch die Landwirte, den Arbeitern etwas höhere Löhne zu bewilligen.

Andererseits hat die Arbeiterklasse einen beträchtlichen Teil des Gewinnes, den sie aus der Hochkonjunktur gezogen, wieder eingebüsst, da gerade sie durch die Verteuerung der Wohnungen und aller Industrieprodukte schwer betroffen wurde. Auch die auf feste Bezüge angewiesenen Angestellten und Beamten empfanden lebhafter als je das Bedürfnis, für die Verteuerung ihrer Lebens- und Genussmittel durch die Erhöhung ihrer Bezüge entschädigt zu werden. Das Beispiel der Arbeiter lehrte sie die Macht der Organisation. So war auch die lebhafte Beamtenbewegung der letzten Jahre eine Begleiterscheinung der Hochkonjunktur.

Der steigende Umfang der Warenzirkulation zwang zur Ausdehnung der der Zahlungsausgleichung dienenden Methoden des Kreditsystems. Die Umsätze im Scheckverkehr des Postsparkassenamtes stiegen in den Jahren 1905 bis 1906 von 16.227 auf 18.373 Millionen Kronen, im Giroverkehr der Oesterreichisch-ungarischen Bank von 48.590 auf 56.206 Millionen Kronen. Die Anforderungen an die Banken stiegen gewaltig. Bei der Oesterreichisch-ungarischen Bank stieg von 1905 bis 1906 der durchschnittliche Stand des Eskomptes von 380,7 auf 533,6 Millionen Kronen, der durchschnittliche Stand der Lombarddarlehen von 45,9 auf 48,9 Millionen Kronen; der niedrigste Notenumlauf betrug im Jahre 1905 1.506,96 Millionen, 1906 1.604,64 Millionen, der höchste Notenumlauf 1905 1.846,99 Millionen, 1906 1989,36 Millionen Kronen. Der durchschnittliche Stand des Metallschatzes sank von 1489 auf 1471 Millionen, die durchschnittliche Grösse der steuerfreien Banknotenreserve von 259,6 auf 112,8 Millionen Kronen. Der Zinsfuss im Eskomptegeschäft betrug im Jahresdurchschnitt 1904 3,5 Prozent, 1905 3,7 Prozent, 1906 4,332 Prozent. Zu Beginn des Jahres 1907 betrug der Zinsfuss 4,5 Prozent, er wurde am 28. Juni auf 5 Prozent erhöht und musste schliesslich unter dem Eindruck der amerikanischen Krise und infolge der Erhöhung der Diskontrate in London auf 7 Prozent, in Berlin auf 7½, Prozent, im November auf 6 Prozent erhöht werden.

So waren die letzten Jahre auch in Oesterreich eine Periode verhältnismässig schnellen Aufschwungs. Aber in der kapitalistischen Gesellschaft setzt jede Aufwärtsentwicklung der Volkswirtschaft sich selbst ihre Grenzen. Schon mehren sich die Zeichen des nahenden Sturmes.

Seit Anfang des Jahres treten krisenhafte Erscheinungen zuerst in Japan, dann in Aegypten und Italien auf. In jüngster Zeit ist in Amerika die Konjunktur zusammengebrochen. In England und Deutschland sinkt allmählich der Eisenpreis. Schon haben auch österreichische Kapitalisten an dem Kurssturz der ausländischen Werte nicht ganz unbeträchtliche Summen verloren. Schlimmer ist, dass der Umschwung der Konjunktur unseren Export gefährdet. Im nahen Orient, in der Türkei, in Rumänien, in Aegypten und der Levante, sinkt die Nachfrage nach unseren Waren. Unseren Export nach Serbien erschwert unsere Wirtschaftspolitik, die im Dienste der grossen Viehmäster und Viehhändler uns am Abschluss eines für beide Teile vorteilhaften Handelsvertrages hindert. Die Konkurrenz der anderen Staaten im Orient setzt wieder stärker ein, sobald die Unternehmer dieser Länder ihre Waren auf dem heimischen Markte schwerer absetzen. Es wird nicht leicht sein, in den nächsten Jahren unseren Export zu behaupten; auf das Steigen unserer Warenausfuhr dürfen wir wohl keinesfalls rechnen. So kommt denn alles auf die Gestaltung der Verhältnisse auf dem inneren Markt an.

Hier muss nun zunächst wohl beachtet werden, dass die weitere Ausdehnung unseres Produktionsapparats auf schwere Hindernisse stösst. Die Geldknappheit macht die Beschaffung von Geldkapital für die Gründung neuer, die Erweiterung der bestehenden Betriebe ausserordentlich schwer und kostspielig. Die hohen Preise aller Rohstoffe, Baumaterialien, Arbeitsmittel erschweren jede weitere Ausdehnung unserer Industrie. Die in den letzten Jahren in Angriff genommenen Neu- und Zubauten werden allmählich fertig; weitere Gründungen hemmt die Höhe des Zinsfusses und der Preise. Dies bedeutet aber, dass jene Industrien, die Baumaterialien und Arbeitsmittel produzieren, mit einem Rückgang der Nachfrage nach ihren Erzeugnissen rechnen müssen.

Am frühesten ist diese Erscheinung im städtischen Baugewerbe eingetreten, das gegen die Erhöhung des Zinsfusses immer sehr empfindlich ist. Schon im Jahre 1906 konnten wir in Wien einen Rückgang der Bautätigkeit beobachten:

 

1905

1906

Neubauten

621

501

Umbauten

235

180

Zubauten

279

263

Aufbauten

58

44

Im Jahre 1907 ist die Bautätigkeit noch weiter gesunken. Der Rückgang der Bautätigkeit bedeutet nun natürlich für eine ganze Reihe von Industrien eine Verringerung ihrer Absatzmöglichkeiten. Bisher wurden sie dafür freilich durch die grosse Zahl der industriellen Neubauten entschädigt. Sobald aber auch die industrielle Erweiterungstätigkeit stockt, werden die Eisenindustrie, die Bauholzlieferanten, die Ziegel- und Zementproduktion, die Werkzeug- und Maschinenfabrikation, die Fensterglasindustrie, die Baugewerbe aller Art sich zur Einschränkung ihrer Produktion gezwungen sehen. Preise und Profite werden sinken, Arbeiter werden entlassen werden.

Das Sinken der Profite und Löhne in den Produktionsmittelindustrien wird bewirken, dass auch "die Nachfrage nach allen jenen Waren sinkt, die für den unmittelbaren menschlichen Konsum bestimmt sind, nach Lebens- und Genussmitteln, Geweben, Kleidern und Wäsche, nach Möbeln u. s. w.

Die Konsumtionsgüterindustrien werden darunter desto schwerer leiden, als ihre Absatzmöglichkeiten gleichzeitig durch eine andere Reihe von Ursachen noch weit gefährlicher bedroht werden.

Das letzte Jahr brachte uns sowohl in Oesterreich als auch in Ungarn eine weniger gute Ernte.

Der Ertrag unserer heimischen Landwirtschaft und Viehzucht kann unseren Bedarf nicht befriedigen. Die Zufuhr aus dem Auslande aber wird durch unsere agrarische Gesetzgebung und Verwaltungspraxis erschwert. Die hohen Agrarzölle des neuen Zolltarifs, die unter veterinärpolizeilichen Vorwänden erlassenen Einfuhrverbote für Vieh und Fleisch werden jetzt erst wirksam. Infolgedessen steigen die Preise der unentbehrlichsten Lebensmittel.

An der Wiener Börse betrugen die Preise des Getreides und der Mahlprodukte in Kronen per 50 Kilogramm :

 

15. Oktober bis
11. November 1906

14. Oktober bis
10. November 1907

Weizen:

 

Theiss

7,75–8,45

12,40–13,45

Slowak. und Schüttler

7,40–8

11,55–12,80

Marchfeld

7,35–7,90

11,45–12,40

Roggen:

 

Slowakischer

6,70–6,90

10,95–12,20

Pester Boden

6,70–7,05

10,95–12,25

Diverser ungarischer

6,65–6,90

10,80–12,15

Oesterreichischer

6,60–6,96

10,80–12,15

Hafer, ungarischer, mittel

7,25–7.65

8,25–8,70

Mais, ungarischer

7,10–7,60

6,85–8,05

Weizenmehl Nr. 0

13,30–14

18,40–19,50

Roggenmehl Nr. 0

11,40–11,8

17–19,50

Weizenkleie, feine

4,60–4,80

6,40–6,75

Roggenkleie

5–5,20

6,85–7,25

Im Wiener Kleinhandel betrugen die Marktpreise per Kilogramm im Monate September:

 

1906

1907

Heller

Auszugmehl

28–40

32–40

Mundmehl

24–36

26–36

Pohlmehl

16–28

20–28

Weissgemischtes Brot

20,3–36,6

21,3–39,9

Schwarzgemischtes Brot

18,7–34,2

18,2–34,5

Schwarzes Brot

20,1–29,8

20,6–29,5

Erbsen, ganz

24–56

28–50

Erbsen, gespalten

28–80

36–72

Linsen

42–100

72–102

Bohnen

24–72

28–60

Hirse

20–50

32–48

Reis

24–88

38–76

Kaffee, roh

200–520

232–500

Erdäpfel

6–12

7–20

Milch (per Liter)

14–36

24–32

Butter

180–420

200–320

Margarinbutter

120–260

16–200

Steinkohle

152–190

180–212

Koks

140–180

148–250

Niederösterreichisches Bergheu

300–840

480–1.020

Niederösterreichisches Wiesenheu

360–680

560–1.020

Vorderes Rindfleisch

116–160

120–170

Seither sind die Preise der wichtigsten und unentbehrlichsten Lebensmittelpreise noch weiter gestiegen. Die Kleinhandelspreise passen sich nur allmählich, aber sicher den Veränderungen der Preise im Grosshandel an; wir müssen also damit rechnen, dass die Preise im Kleinhandel noch weiter steigen werden. Die Grosshandelspreise des Getreides und der Mahlprodukte sind heute um 40 bis 60 Prozent höher als im vorigen Jahre; das werden die Konsumenten schliesslich tragen müssen. Eine Arbeiterfamilie, die im vorigen Jahre 50 Prozent ihres Einkommens für die Lebensmittel aufwenden musste, wird heuer wenigstens 70 Prozent ihrer Einkünfte demselben Zwecke widmen müssen.

Was diese furchtbare Teuerung für unsere Konsumtionsgüterindustrien – für die Textilindustrie und die Bekleidungsgewerbe vor allem – bedeutet, kann keinem Zweitel unterliegen. Die breiten Massen der städtischen Bevölkerung müssen einen schnell wachsenden Teil ihres Einkommens für die Nahrungsmittel aufwenden. Vom Reste verzehren der steigernde Mietzins, die verteuerten Heizmaterialien, den grösseren Teil. Was kann unter solchen Umständen der Arbeiter, der Handwerker und Kleinhändler, der Beamte und Angestellte für die Befriedigung seiner Bedürfnisse nach Kleidung, Wäsche, Schuhwerk, Möbeln u. s. w. erübrigen? Die Verteuerung der Lebensmittel, der Kohle und des Holzes, der Wohnungen schränkt allen Industrien ihre Absatzmärkte ein. Auch hier werden Preise, Profite, Löhne sinken, auch hier werden Arbeiterentlassungen die Folge sein. Und wenn einerseits die Pro-duktiunseinschränkungen in den Arbeitsmittelindustrien auch den Konsumtionsgütergewerben den Absatz verkümmern, so wird andererseits die Depression in den Konsumtionsgütergewerben die Ausdehnung unserer Industrie zeitweilig völlig zum Stillstände bringen, wodurch die Produktionsmittelindustrien die Möglichkeit gewinnbringenden Absatzes in noch höherem Masse verlieren. So fügt sich eines zum anderen; eine schwere Depression befällt unsere ganze Volkswirtschaft. Die Krise im Auslande erschwert uns den Export; die hohen Preise, der hohe Zinsfuss schränken den Absatzmarkt unserer Produktionsmittelindustrien ein; die Teuerung verringert unsere Aufnahmsfähigkeit für die Waren der Konsumtionsgütergewerbe. Wer kann unter solchen Umständen daran zweifeln, dass, wenn nicht eine akute Krise, so doch eine schleichende Depression unserer gesamten Volkswirtschaft bevorsteht?

Schlimme Zeiten harren der Arbeiterklasse. Die Arbeitslosigkeit wird wachsen. Durch ausgedehnte Produktionseinschränkungen wird auch das Einkommen derjenigen Arbeiter verkürzt werden, die ihre Arbeitsstelle nicht verlieren. Die ungünstige Situation auf dem Arbeitsmarkte wird den gewerkschaftlichen Kampf erschweren. Die in den Jahren der Hochkonjunktur festgefügten Unternehmerorganisationen werden die günstige Gelegenheit auszunützen versuchen, um die Löhne zu kürzen und die Kraft der Gewerkschaften zu brechen. Und zu all dem kommt noch die Teuerung! Denn wenn auch die Depression die Preise der Industrieprodukte senken wird, so werden doch die Preise von Kohle und Holz nur sehr allmählich, die Wohnungspreise nur in wenigen Städten, die Lebensmittelpreise, durch Missernte und Zollschutz in die Höhe getrieben, in absehbarer Zeit wahrscheinlich überhaupt nicht sinken. Das Zusammentreffen der Krise mit der Teuerung wird das Elend der Arbeiterklasse furcht-bar steigern. Auch den Handwerkern und Kleinhändlern, die auf die Arbeiterkundschaft angewiesen sind, drohen böse Tage. Die Bediensteten und Beamten des Staates und der autonomen Körperschaften werden unter der Teuerung schwer leiden, ohne eine Erhöhung ihrer Bezüge leicht durchsetzen zu können; denn die Depression wird auch die Einkünfte des Staates und der Gemeinden schmälern. In Stadt und Land wird bittere Not ihren Einzug halten.

Der kämpfenden Arbeiterklasse wird die nahende Zeit der Not grosse und schwere Aufgaben stellen.

Vor allem werden wir unsere ganze Kraft daran wenden müssen, unsere Gewerkschaften, die feste Grundlage unserer Macht, gegen die Ungunst der Zeit zu verteidigen. Zeiten der Depression sind immer eine Kraftprobe für die gewerkschaftlichen Organisationen, Noch während der vorletzten Depressionsperiode ist die Zahl der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter im Deutschen Reiche in zwei Jahren von 320.213 auf 236.516 zurückgegangen. Je fester aber das Gefüge der gewerkschaftlichen Organisation wird, desto leichter und vollkommener kann sie die Gefahren der Krise bannen. So haben die reichsdeutschen Gewerkschaften während der letzten Krise im Jahre 1901 nur 2.917 Mitglieder verloren und im Jahre 1902 stieg ihre Mitgliederzahl schon wieder von 677.510 auf 733.206. Es wird die wichtigste Aufgabe der nächsten Jahre sein, das Abbröckeln der stolzen Schutzwehr, die Oesterreichs Arbeiter sich jn den Jahren der Hochkonjunktur aufgerichtet haben, mit Einsatz unserer ganzen Kraft zu verhindern.

Aber auch unserer politischen Organisation stehen schwere Zeiten bevor. Die Depression wird den Widerstand der besitzenden Klassen gegen jede soziale Reform, insbesondere gegen die »sozialpolitischen Lasten« der Alters- und Invaliditätsversicherung gewaltig steigern. Es wird nicht die leichteste Aufgabe unserer parlamentarischen Vertretung sein, diesen Widerstand zu brechen.

Wie wird aber das Hereinbrechen der Krise das Bewusstsein der Arbeiterklasse selbst bestimmen?

Dem Wahlrechtskampf und dem Wahlkampf galt unsere Arbeit während der Jahre der Hochkonjunktur. Die Kerntruppe unseres Heeres, die im Geiste des Sozialismus erzogene organisierte Arbeiterschaft, hat die Bedeutung dieser Kämpfe weder unterschätzt noch überschätzt. Sie weiss, dass das gleiche Stimmrecht die politische Macht der Arbeiterklasse gewaltig erhöht und dass diese Macht dereinst uns zum Werkzeug werden wird, das ganze Gesellschaftsgebäude umzugestalten; aber sie weiss auch, dass die Demokratie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft die grausamen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise nicht aufheben, dass auch eine starke Vertretung der Arbeiterklasse im Parlament die grosse Krankheit der kapitalistischen Gesellschaft nicht heilen kann. Aber unser grosses Heer umfasst neben diesen geschulten Truppen auch jene breiten Massen, die erst die grossen Ereignisse der letzten Jahre aus träger Teilnahmslosigkeit aufgerüttelt haben. Ist es wunderbar, dass diese Massen die Grenzen der Demokratie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht erkannt haben, dass sie von den grossen Siegen, die sie miterkämpft, unmittelbaren anschaulichen Erfolg für sich erwarten? Werden sie nicht wieder enttäuscht in politische Indifferenz verfallen, da nach der Erringung des gleichen Stimmrechts, nach einem grossen proletarischen Wahlsieg die doppelte Not der Krise und der Teuerung sie befällt? Wird nicht so mancher von ihnen, an dem langsamen und planmässigen Fortschreiten der Arbeiterbewegung verzweifelnd, an anarchistischer oder anarchistelnder Spielerei Gefallen finden?

Die Erfahrungen anderer Länder beweisen, dass solche Gefahren in der Tat bestehen. Aber wir zweifeln nicht daran, dass es gelingen wird, sie zu bannen.

Zu diesem Zwecke müssen wir vor allem auf der Tribüne des Parlaments, in den Versammlungssälen und in der Presse feststellen, wer für die bittere Not der Massen die Verantwortung trägt. Die Erkenntnis, dass die agrarische Wirtschaftspolitik durch die Verteuerung der Lebensmittel heute den Zusammenbruch der Hochkonjunktur beschleunigt und morgen die Wirkungen der Krise verschärfen wird, muss das Bewusstsein der Massen durchdringen. So wird gerade die Depression uns die grosse Aufgabe erleichtern, die Massen zum Kampfe gegen die Agrarier zu sammeln.

Aber damit dürfen wir uns nicht begnügen. Wenn in den Magazinen der Kapitalisten sich Riesenvorräte unabsetzbarer Waren häufen, während die Masse der Hungernden und Arbeitslosen in den Strassen unserer Städte furchtbar wächst, dann erkennt der Arbeiter den ganzen Widersinn, den tiefen inneren Widerspruch der kapitalistischen Produktionsweise; dann empfindet er, dass sein Streben nach Befreiung und Kultur ihn nicht nur in einseitigen Gegensatz gegen eine bestimmte Regierung, eine bestimmte Partei, ein einzelnes Gesetz, sondern in allseitigen Gegensatz gegen die ganzen Voraussetzungen des bürgerlichen Klassenstaates, der kapitalistischen Gesellschaft setzt. Was die noch ungeschulten proletarischen Massen dumpf empfinden, in Wort und Schrift klar und rückhaltslos auszudrücken, wird unsere Aufgabe sein. Sind wir der getreue Dolmetsch der durch die Krise revolutionierten Stimmung der Arbeiterklasse, dann werden wir die Vergeudung der proletarischen Kräfte verhindern, dann werden wir die Einheit der Sozialdemokratie und der Arbeiterklasse befestigen.

Mit zahllosen Opfern, mit unsäglichem Leid bezahlt das Proletariat sein grosses Werk der Selbsterziehung. In diesem weltgeschichtlichen Prozess haben die Perioden der Arbeitslosigkeit ebenso ihre besondere Funktion wie die Epochen der Ueberarbeit. So reifen wir allmählich zur Fähigkeit heran, die Arbeitsmittel, die ungeregelt und ungeleitet, von der Hochkonjunktur zur Krise, von der Krise zur Hochkonjunktur schwankend, nur selbstsüchtiges Profitstreben beherrscht, in die Hände der organisierten Gesellschaft zu überführen, die nicht die Mühen der Ueberarbeit, nicht die Leiden der Arbeitslosigkeit kennen wird, sondern nur die planmässige und wohlgegliederte Arbeit zum Vorteil aller.

 


Leztztes Update: 6. April 2024