Otto Bauer

Unser Nationalitätenprogramm
und unsere Taktik

(1. Februar 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 5. Heft, 1. Februar 1908, S. 204–210.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


»Das Recht, Gesetze zu geben, abzuändern und aufzuheben, wird von Uns und Unseren Nachfolgern nur unter Mitwirkung der gesetzlich versammelten Landtage, beziehungsweise des Reichsrates, ausgeübt werden.«

»Der Kaiser übt die Regierungsgewalt durch verantwortliche Minister und die denselben untergeordneten Beamten und Bestellten aus.«

»Der Kaiser ernennt und entlässt die Minister und besetzt über Antrag der betreffenden Minister alle Aemter in allen Zweigen des Staatsdienstes.«

Diese Rechtssätze sind auch heute noch die Grundlagen unserer Verfassung; wie das Oktoberdiplom und die Staatsgrundgesetze die öffentliche Gewalt verteilt, so ist es auch heute noch Gesetz.

Und dennoch hat sich seither eine völlige Wandlung in unserer Verfassung vollzogen. An die Zustimmung des Reichsrates und der Landtage ist die gesetzgebende Gewalt der Krone gebunden. Aber keine Reichsratsmehrheit, die Mehrheit keines Landtages kann an den Rechtsverhältnissen der Nationen auch nur das geringste ändern. Dem Reichsrate sind die Minister verantwortlich; aber kein Minister kann im Amte bleiben, wenn seine Amtsführung einer ganzen Nation unerträglich erscheint, mag er auch das Vertrauen der Mehrheit des Reichsrates geniessen. Der Kaiser ernennt über Antrag der Minister die Beamten; aber in Böhmen kann kein Beamter mehr ernannt werden, ohne dass sich der Minister vorher der Zustimmung oder doch der Duldung der beiden Nationen vergewissert hätte. Denn jede einseitige Aenderung in den Macht- und Rechtsverhältnissen der Völker, mag sie nun von der Mehrheit des Abgeordnetenhauses oder eines Landtages beschlossen oder von einem Minister verfügt werden, verhindert die Drohung der Obstruktion, die völlige Stillegung der gesetzgebenden Körperschaften. Das Recht der Nationen auf Obstruktion ist unsere ungeschriebene Verfassung. Im Reichsgesetzblatt steht von diesem Verfassungswandel freilich nichts; aber eine gewaltige soziale Umwälzung, die hier in der Veränderung der nationalen Machtverhältnisse in Erscheinung tritt, hat die Funktion der Rechtsinstitute unseres Verfassungsrechtes völlig umgestaltet.

Durch diese Tatsache ist die Eigenart unseres öffentlichen Lebens bestimmt. Dass die Waffe der Obstruktion jeder Nation letztes Mittel der Abwehr, die Obstruktion also das höchste Recht jeder Nation ist, das alle ihre einzelnen Rechte schirmt, bestimmt die Eigenart unseres Parlaments. Darum ist der österreichische Reichsrat kein Parlament wie die anderen, in denen die Mehrheit herrscht und die Minderheit auf die Kritik beschränkt bleibt, sondern, wie Genosse Diamand einmal sagte, ein Schlüsselparlament, das – innerhalb der durch die Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft bestimmten Grenzen – seine Gewalt auf Parteien und Nationen nach dem Schlüssel ihrer Machtverhältnisse verteilt, ein Parlament, das dauernd keine andere Form des Regierens ertragen kann als die, die Genosse Austerlitz im Dezemberhefte unserer Zeitschrift als die »Methode Beck« so anschaulich geschildert hat.

Für die Nationen aber bedeutet das Recht auf Obstruktion ein Stück der nationalen Autonomie. Jede Nation ist dagegen gesichert, dass der Kreis ihres Rechtes oder ihrer Macht durch Mehrheitsbeschluss oder Regierungsverfügung verkleinert werde; was sie nicht ertragen kann oder will, braucht sie nicht zu dulden. Aber gerade weil nun keine Nation mehr eine Minderung ihrer Macht dulden muss, kann auch kein Volk eine Ausdehnung seiner Macht, eine Ausgestaltung der seiner Kultur dienenden Institutionen erringen, wenn die anderen Völker oder auch nur eines von ihnen sie ihm nicht zugestehen wollen. Die negative Autonomie, die Autonomie der Abwehr, macht die Nationen allmächtig, jede Minderung ihrer Macht abzuwehren, aber sie macht sie auch ohnmächtig, die Mehrung ihrer Macht zu erringen. Darum ist die negative nationale Autonomie für alle Nationen unerträglich, desto gewisser unerträglich, je weniger die Nationen ihre kulturellen Bedürfnisse und ihr Bedürfnis nach staatlicher Macht durch die geltende Rechtsordnung befriedigt sehen. Die negative nationale Autonomie ist das Endergebnis der Entwicklung der Völker unter der liberalen Verfassung, die die Herrschaft zwischen der Parlamentsmehrheit und der Bureaukratie geteilt, aber sie ist auch eine Stufe der unvermeidlichen Entwicklung zu der positiven nationalen Autonomie, zu der demokratischen Verfassung der Selbstregierung der Völker. Von der negativen Autonomie durch die Obstruktion der Gesetzgebung zur positiven Autonomie durch die Okkupation der Verwaltung führt die Nationen ihr Weg.

Solange wir aber die Entwicklungsstufe der bloss negativen Autonomie nicht überwunden haben, ist – wenigstens in Westösterreich und jedenfalls im Verhältnis zwischen den beiden führenden Nationen – jede einseitige und vereinzelte Veränderung der nationalen Machtverhältnisse schlechthin unmöglich. Haben wir dies erkannt, dann können wir unsere Aufgabe nicht darin sehen, unsere Stellungnahme zu den nationalen Einzelforderungen zu bestimmen ; denn diese Einzelforderungen sind als solche undurchführbar und die isolierte Stellungnahme zu ihnen daher gänzlich bedeutungslos. Denn die negative nationale Autonomie, die Oesterreichs Völker sich bereits erobert haben, bedeutet zwar nicht, dass nun keine Veränderung der nationalen Machtverhältnisse mehr möglich sei äusser der Konstituierung der Nationen als juristischer Personen und der Verleihung völliger Autonomie an sie – auch die positive nationale Autonomie wird das Ergebnis der Entwicklung, nicht das Produkt eines einmaligen Aktes der Gesetzgebung sein – wohl aber kann an den rechtlichen Beziehungen der Nationen heute nichts Wesentliches mehr geändert werden äusser im Wege der Vereinbarung, die gegenseitige Zugeständnisse voraussetzt.

So ist es zum Beispiel keine Frage unserer Gegenwartspolitik, ob die deutschen Arbeiter Oesterreichs der Forderung ihrer tschechischen Klassengenossen nach Errichtung öffentlicher Schulen mit tschechischer Unterrichtssprache in Wien heute, unter der geltenden Nationalitätenverfassung, zustimmen können und sollen oder nicht. Denn die Frage des tschechischen Schulwesens in Wien ist, isoliert betrachtet, völlig unlösbar; das deutsche Bürgertum wäre heute in jedem Falle stark genug, jede Veränderung des heutigen Zustandes zu verhindern. Eine Lösung dieses Problems wird überhaupt erst dann denkbar, wenn das deutsche Bürgertum sich gezwungen sieht, den tschechischen Minderheiten im deutschen Siedlungsgebiet erweiterte Rechte zuzugestehen, um hierfür Zugeständnisse an die deutschen Minderheiten in tschechischen Städten oder die völlige Selbstregierung der deutschen Nation einzutauschen, also im Rahmen einer Vereinbarung, die eine der vielen Entwicklungsstufen zur grundsätzlichen Durchführung der nationalen Autonomie, zur prinzipiellen Lösung des Minoritätenproblems überhaupt darstellen wird.

Unter solchen Umständen ist nicht die Festlegung unserer Stellung zu nationalen Einzelforderungen, die unter der heutigen Verfassung überhaupt nicht mehr vereinzelt erledigt werden können, sondern die Arbeit an unserem Nationalitätenprogramm unsere nächste Aufgabe. Wir müssen die Grundsätze feststellen, die unser Vorgehen bei jenen Verhandlungen und Vereinbarungen leiten sollen, die jeder Veränderung des geltenden Nationalitätenrechtes vorausgehen müssen.

Wir dürfen mit Genugtuung feststellen, dass diese Arbeit an unserem Nationalitätenprogramm in den letzten Jahren recht erfreuliche Fortschritte aufzuweisen hat. Dass innerhalb des für absehbare Zeit gegebenen staatlichen Rahmens nur die nationale Autonomie das Ziel unseres Strebens sein kann, wird in der Partei nicht mehr bestritten. Immer deutlicher wird auch die Erkenntnis, wie die nationale Autonomie möglich ist; dass sie nur auf die autonome Lokalverwaltung gegründet werden kann, mit der bureaukratischen Verwaltungsorganisation unverträglich ist, wird immer klarer erkannt. So wird die demokratische Forderung der Selbstregierung jeder Nation innerhalb ihres Siedlungsgebietes von der nationalliberalen Forderung der blossen Abgrenzung bureaukratisch regierter Verwaltungssprengel je nach der Nationalität der Untertanen scharf geschieden. Dass wir die autonome Lokalverwaltung als Grundlage der nationalen Autonomie fordern müssen, wird kaum noch bestritten; dagegen zweifeln freilich manche Genossen – so zum Beispiel auch Kautsky [1] – daran, ob diese Forderung innerhalb des bürgerlichen Staates durchsetzbar ist. Gewiss dürfen wir die Macht und die Herrschsucht der Bureaukratie nicht unterschätzen; aber der Staat ist ohne die nationale Autonomie seines Daseins niemals gewiss, die nationale Autonomie ohne die völlige Umgestaltung unserer Verwaltungsorganisation nicht möglich, jede bureaukratische Verwaltungsreform aber scheitert an dem unbeugsamen Widerstand der nationalen Parteien, deren nationale, lokale oder Klasseninteressen sie zu verletzen scheint. Nur die W’ucht des demokratischen Gedankens kann den Staat über den toten Punkt hinüberführen, auf dem ihm der Kampf der Nationen immer wieder Halt gebietet. Die Bureaukratie musste den Völkern das gleiche Stimmrecht gewähren und mit den Vertretern der bürgerlichen und bäuerlichen Parteien im Ministerium selbst Macht und Einfluss teilen, um einen Ausweg aus der zehnjährigen Staatskrise zu finden. So wird sie auch die Kraft der Demokratie nutzen müssen, um die dauernd nicht zu umgehenden Probleme der Reorganisation unserer Verwaltung zu lösen. Die Teilung der böhmischen Landesverwaltung muss, rein bureaukratisch gedacht, an dem Widerstande des tschechischen Bürgertums scheitern; sollen aber die neuen Verwaltungssprengel von den Erwählten des Volkes selbst verwaltet werden, dann würde jede Partei, die sich der Reform zu widersetzen wagte, als die Beschützerin des bureaukratischen Privilegs, als die Feindin der Selbstregierung des Volkes von dem Unwillen der Massen hinweggefegt werden. Die Verlegenheit des Staates wird hier zur Gelegenheit der Völker, ein grosses Reformwerk zu erzwingen. Gewiss wird kein bürgerlicher Staat mehr die ganze innere Verwaltung frei gewählten Körperschaften übertragen; aber man wird den k. k. Kreishauptmann die Gewalt mit einem Kreisrat teilen lassen müssen, wenn der Jahrzehnte alte Streit um die Autonomie Deutschböhmens endlich verstummen soll. Mag sein, dass das Bürgertum eines hochentwickelten Landes alle Kraft einsetzen wird, zu verhindern, dass die autonomen Verwaltungskörperschaften auf Grund des gleichen Wahlrechtes zusammengesetzt werden; das allgemeine Wahlrecht aber wird man den Kreisräten nicht verweigern dürfen, da doch nur die Kraft der Demokratie die Reibung des nationalen Gegensatzes überwinden kann. Nationale Autonomie auf Grund der autonomen Lokalverwaltung – darüber kann kein Streit bestehen. [2]

Wie ist nun dieser Grundsatz im einzelnen auszugestalten ? Bei der Beratung des Brünner Programms standen einander noch das Territorialprinzip und das Personalitätsprinzip wie unvereinbare Gegensätze gegenüber. Heute aber kann es nicht mehr fraglich sein, ob dieses oder jenes, sondern nur noch, wie viel von jedem der beiden der neuen Nationalitätenverfassung zugrunde zu legen ist. Dass die Siedlungsgebiete der Nationen voneinander rechtlich abgegrenzt werden müssen, ist selbstverständlich; ebenso kann es aber auch keinem Zweifel unterliegen, dass keine Nation darauf völlig verzichten kann, dass ihre Minderheiten im fremden Sprachgebiet als öffentlichrechtliche Körperschaften konstituiert werden. Diese Erkenntnis ordnet das Problem des Personalitätsprinzips der allgemeinen Frage der nationalen Minderheiten ein. Wo, inwieweit und mit welchem Rechtskreis wir die Minoritäten als Körperschaften auf Grund des Personalitätsprinzips konstituieren, wo wir uns mir dem Schutze gewisser nationaler Rechte der fremdsprachigen, nicht öffentlichrechtlich organisierten einzelnen begnügen sollen, ist die Frage. Für die Deutschen, die in mancher Stadt der Sudetenländer nur im harten Kampfe und nur unter dem Schutze der Wahlrechtsprivilegien ihre Herrschaft behaupten, für die Tschechen im deutschen Sprachgebiet ist dies die entscheidende Frage. Ihrer Erörterung werden wir in der nächsten Zeit die grösste Aufmerksamkeit schenken müssen.

Die Untersuchung der sozialen Grundlagen dieses Problems und der rechtlichen Möglichkeiten seiner Lösung erscheint mir weit wichtiger und dringender als die in jüngster Zeit so lebhaft – zuletzt auch von Kautsky [3] – erörterte Frage der Grenzen der nationalen Autonomie. Man hat gefragt, ob die Durchführung der nationalen Autonomie eine völlige Lösung der Amtssprachenfrage und der Frage der Aemterbesetzung bedeute. Genosse Renner hat, wie wir glauben, überzeugend nachgewiesen [4], dass dies auf dem weiten Felde der inneren Verwaltung allerdings der Fall ist; bei den allen Nationen gemeinsamen Behörden muss die nationale Autonomie allerdings ihre Ergänzung finden in dem Prinzip der verhältnismässigen Beamtung und in der deutschen Vermittlungssprache im inneren Verkehr zwischen den obersten allen Nationen gemeinsamen Behörden. Wohl scheint heute jenes den Deutschen, dies den Tschechen unannehmbar; aber beide Rechtsregeln erscheinen ebenso ungefährlich als selbstverständlich, sobald allen Nationen volle Selbstregierung gesichert ist, sobald die Vermittlungssprache nur die Verkehrssprache der erlesenen Vertrauensmänner aller Nationen ist, sobald den auf alle Nationen je nach ihrer Stärke zu verteilenden Aemtern jeder Eingriff in die nationalen Machtverhältnisse entzogen ist.

Man hat darauf hingewiesen, dass auch zwischen den konstituierten autonomen Nationen noch ein finanzieller Interessengegensatz bestehen werde: wie sollen die gemeinsamen staatlichen Mittel für die Zwecke der einzelnen Nationen verwendet, nach welchem Schlüssel auf sie aufgeteilt werden? Nun hängt diese Frage mit der ganzen Organisation unseres Steuerwesens zusammen und kann nur im Zusammenhang mit ihr erwogen werden. Doch ergibt sich aus unserer ganzen Auffassung des Steuerwesens jedenfalls die allgemeine Forderung, dass die Steuer nicht derjenigen Nation zufliessen soll, zu der sich der Steuerzahler bekennt, sondern jener, der der Steuerträger angehört. So wäre also die Hauszinssteuer der Nation des Mieters, nicht der des Hausbesitzers zuzurechnen, wofür sich im englischen Recht ein Vorbild findet. Wie dieser Grundsatz auch auf die anderen Ertragsteuern angewendet werden könnte, habe ich in meiner Nationalitätenfrage auszuführen gesucht. [5] Und wenn Ludo Hartmann dagegen eingewendet hat [6], die Kompliziertheit des von mir beispielsweise vorgeschlagenen Verfahrens beweise, wie schwer das Personalitätsprinzip überhaupt durchgeführt werden könne, so darf ich wohl darauf verweisen, dass diese Methode der Steuerverteilung weit weniger kompliziert ist als die unserem Steuersystem längst vertrauten Methoden der Kontingentierung, Repartition, Ueberweisung und Rückvergütung der Steuern.

So hat denn die Erörterung unseres Nationalitätenprogramms die wichtigsten Lücken ausgefüllt, viele, wenn auch noch nicht alle Streitfragen gelöst. Aber auch über die Wege zu dem Ziel haben sich wohl schon die Meinungen geklärt. Genosse Austerlitz hat in einem Artikel, dem mit Recht weite Kreise Beachtung geschenkt haben, die Bildung nationaler Parlamente vorgeschlagen [7], was freilich bloss eine leere Form bliebe, solange die sachliche und örtliche Zuständigkeit und die Grenzen der Steuerhoheit dieser Parlamente nicht festgestellt würden; auch wäre die Festsetzung der örtlichen Zuständigkeit nicht leicht, da für Mähren das Personalitätsprinzip, für Galizien die Minoritätsvertretung in die Reichsratswahlordnung aufgenommen wurde. Genosse Soukup hat demgegenüber ausgeführt, dass die Demokratisierung der Gemeindevertretungen und der Landtage die Voraussetzung der nationalen Autonomie ist. [8] Genosse Renner sieht in der Reorganisation der Verwaltung, in der Bildung autonomer Kreise den ersten Schritt zur Begründung der Selbstbestimmung der Völker. Alle diese Reformen sind notwendige Stadien auf dem Wege zur nationalen Autonomie. Die Demokratisierung der Gemeindevertretungen und der Landtage rollt das nationale Problem erst in seinem ganzen Umfang auf; sie ist die Voraussetzung der Lösung des nationalen Problems, wie sie andererseits diese Lösung voraussetzt. Die Notwendigkeit dieser Demokratisierung wird gewiss eine der stärksten Triebkräfte zur Durchführung der nationalen Autonomie sein. Ebenso ist es gewiss, dass das Volksparlament heute schon tatsächlich in »nationale Parlamente« zerfällt: in der Regierung, im Präsidium, in den Ausschüssen heischt jede Nation je nach ihrer Stärke ihre Vertretung; die tatsächliche Scheidung des Parlaments in die Delegationen der einzelnen Völker wird schliesslich zur entsprechenden rechtlichen Gliederung führen, die nationalen Parlamente werden die Vertreter der Nationen bei den Verhandlungen über die schliessliche Regelung ihrer Beziehungen zueinander und zum Staate sein, bis das Gebäude der nationalen Autonomie vollendet, das nationale Parlament die oberste gesetzgebende Körperschaft der Nation wird. Dass aber dieser vollständige Neubau des Staates nur auf der Grundlage der neu zu schaffenden autonomen Lokalverwaltung errichtet werden kann, ist uns schon bekannt.

Indessen steht all das noch nicht auf der Tagesordnung. Die Verfassung, die keiner Nation eine gesicherte Machtsphäre einräumt, zwingt immer noch die mündig gewordenen Völker zum Kampf um die Macht. Der Waffenstillstand, den sie geschlossen haben, wird immer wieder gebrochen und unablässig rüsten die Völker zu neuem Kampf.

Auch die Sozialdemokratie kann sich dem durch die Verfassung gebotenen Machtkampf der Nationen nicht völlig entziehen. Müssen nicht auch die Arbeiter an dem Kampf ihrer Nation teilnehmen, solange ihr nicht volle Selbstbestimmung gesichert ist? So treibt die Verfassung, die die Nationen nicht kennt und gerade dadurch die Bühne des öffentlichen Lebens mit dem Lärm des nationalen Kampfes erfüllt, die Arbeiterparteien aller Nationen dazu, sich dem Heere ihrer Nation einzureihen und ihre Kraft für die nationalen Forderungen der bürgerlichen Parteien des eigenen Volkes einzusetzen; so entsteht notwendig die Tendenz zu jener Taktik, die ich als den nationalen Revisionismus zu beschreiben versucht habe. [9]

Als einen Erfolg des nationalen Revisionismus, als ein Schulbeispiel dieser Taktik müssen wir die Resolution ansehen, die die Parteileitung der tschechischen Sozialdemokratie und der Klub der tschechischen sozialdemokratischen Abgeordneten vor kurzem bei ihrer gemeinsamen Beratung über die deutsch-tschechische Verständigungsaktion angenommen haben. [10] Die Vertrauensmänner unserer tschechischen Bruderpartei erklärten in dieser Entschliessung, die tschechische Sozialdemokratie müsse, solange das nationale Problem nicht »durch einen kollektiven Vertrag einerseits zwischen der tschechischen und deutschen Nation, andererseits zwischen beiden Nationen und dem Staat« gelöst sei, auf der Einheit und Unteilbarkeit der Landesverwaltung und auf der Zweisprachigkeit aller Landes- und Staatsbehörden in Böhmen, Mähren und Schlesien bestehen. Der Gedankengang des nationalen Revisionismus erscheint hier ganz folgerichtig angewendet. Die nationale Autonomie bleibt das Ziel; solange sie aber nicht verwirklicht ist, übernimmt die Sozialdemokratie die Forderungen des nationalen Bürgertums und nimmt unter seiner Führung an dem Machtkampf der Nation teil.

Es wäre nutzlos und feig, zu leugnen oder zu verschweigen, dass diese Resolution den deutschbürgerlichen Nationalisten eine nicht ganz ungefährliche Waffe in die Hand drückt. Sie werden auch den deutschen Arbeitern die Politik des nationalen Revisionismus empfehlen: Beharrt in Gottes Namen bei eurer Forderung der demokratischen Selbstregierung der Völker! Aber solange sie nicht verwirklicht, solange jener »kollektive Vertrag« nicht zustande gekommen ist, stellt euch unter unser Kommando und schreibt unsere Forderungen auf eure Fahnen! Auch ihr müsst nun den Ausbau des tschechischen Schulwesens bekämpfen, die innere tschechische Amtssprache in den tschechischen Teilen Böhmens ablehnen, die deutsche Staatssprache fordern!

Aber wenn die unselige und unerträgliche Verfassung Oesterreichs die Nationen zum Kampf um die Macht zwingt, die Arbeiter jedes Volkes zur Politik des nationalen Revisionismus treibt, so zeugen die ehernen Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise die Gegentendenz zu einer anderen Taktik. Uns alle umschlingt das starke Band der Gemeinschaft aller proletarischen Interessen; soll die Teilnahme am Machtkampf der Nationen unsere gemeinsamen Organisationen zerstören und die Macht der Teile schwächen, indem sie das Ganze zerstört? Innerhalb aller Völker klafft der Klassengegensatz zwischen Besitzenden und Besitzlosen; soll die revolutionäre Partei der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Schlachtfelde der Nationen als nichts anderes erscheinen denn als der rechte, der gemässigte Flügel des von bürgerlichen Chauvinisten geführten nationalen Heeres? Die nationale Autonomie schafft den Klassenkämpfen in Oesterreich erst freie Bahn; soll sie zur blossen Phrase am Anfang oder Schlüsse einer Resolution werden oder sollen wir unsere ganze Kraft einsetzen, um unsere eigenste Aufgabe auf dem Boden der nationalen Kämpfe zu erfüllen, um den Staat und die Völker – Schritt für Schritt – zur demokratischen Nationalitätenverfassung hinzudrängen?

Auch unsere tschechischen Genossen erkennen immer klarer, dass nur die nationale Autonomie die Bedürfnisse ihres Volkes befriedigen kann, dass der Kampf um die nationale Autonomie, nicht das Gezänk um die Forderungen bürgerlicher Nationalisten unsere Aufgabe ist. Im letzten Heft der Akademie führt Genosse Šmeral aus, dass die nationale Autonomie nicht etwa nur die Forderung der Deutschen in Böhmen befriedigt, dass über ihre Angelegenheit nicht ein Landtag entscheide, in dem sie zur Rolle einer hoffnungslosen Minderheit verurteilt sind, sondern dass sie auch dem tschechischen Volke weit mehr gibt als irgend ein bürgerliches Programm: die volle Einheit und Selbstregierung der Nation. Die nationale Autonomie sei aber nur möglich, wenn nach englischem Beispiel wenigstens ein grosser Teil der Kompetenzen der staatlichen Behörden an die autonomen Korporationen in der Gemeinde, dem Bezirk und dem Kreise übertragen werde, und sie setze die Demokratisierung der Landtage und der Gemeindevertretungen voraus. Solange die Regierung nicht erklärt, dass sie sich um die Regelung des Verhältnisses zwischen Deutschen und Tschechen in seinem ganzen Umfang – also nicht nur in Böhmen – bemühen will, solange sie sich nicht mit einer grundlegenden Reform der inneren Verwaltung in der Richtung zur autonomen Lokalverwaltung einverstanden erklärt, solange sie sich nicht zur Beseitigung des Privilegienwahlrechts füi die Landtage verpflichtet, müsse die tschechische Sozialdemokratie an dem Ernst jeder Verständigungsaktion zweifeln und die Verantwortung für sie den bürgerlichen Parteien überlassen. [11]

Gewiss muss bei jeder Verhandlung über die Lösung der nationalen Probleme auch die Sozialdemokratie ihre Stimme erheben. Ohne Zugeständnisse an alle Beteiligten ist keine Vereinbarung möglich. Mag also dem tschechischen Bürgertum die innere tschechische Amtssprache, der deutschen Bourgeoisie die Trennung des böhmischen Konkretualstatus [12] zugestanden werden – aber auch die Arbeiterschaft darf in dem Verständnispakte nicht leer ausgehen. Zwei wichtige Zugeständnisse muss sie fordern: erstens die Demokratisierung des Landtagswahlrechtes, zweitens die Schaffung der Grundlagen für die autonome Lokalverwaltung. Wenn die längst geplanten Kreisbehörden eingeführt werden sollen, muss neben den k. k. Kreishauptmann ein Kreisrat mit weitem Kompetenzenkreis treten, in dem auch die Arbeiter vertreten sind. Das sind die natürlichen Forderungen der Arbeiterschaft in allen künftigen Verhandlungen über den nationalen Ausgleich. Wenn die deutsche und die tschechische Sozialdemokratie ihre Stimme im Ruf nach der Erfüllung dieser Forderungen vereinen, wird ihrem Streben der Erfolg nicht völlig versagt bleiben; so stark ist der österreichische Staat nicht, dass er der Arbeiterschaft mit schroffem Nein antworten könnte, wenn er einen Waffenstillstand zwischen den beiden Bourgeoisien zustande bringen will.

Wir dürfen uns nicht vor das Gefährt des bürgerlichen Nationalismus spannen, damit seine Peitsche uns nicht auf fremde Bahnen führe, die uns von unseren Brüdern trennen; vielmehr soll die Kraft sehniger Proletarierleiber den Kampfwagen der Nation hinausschieben aus dem Sumpfe, in den ihn die Unfähigkeit und der Aberwitz seiner bürgerlichen Lenker gebracht, sie soll ihn feiten auf die breite Strasse der Demokratie und der Selbstregierung der Völker.

* * *

Fussnoten

1. Kautsky, Nationalität und Internationalität, Ergänzungshefte zur Neuen Zeit, Nr. 1, Seite 31 f.

2. Einige tschechischbürgerliche Zeitungen wenden gegen das Programm der nationalen Autonomie ein, es wolle die Nation auf die Verwaltung ihres Schulwesens und einzelner Wohlfahrtseinrichtungen beschränken; damit könne sich eine Nation, die staatliche Selbständigkeit fordert, nicht abspeisen lassen. Sie übersehen, dass den Selbstverwaltungskörpern der national abgegrenzten Gebiete nach unserem Programm die ganze innere Verwaltung übergeben werden soll. Den Herren, die seit Jahrzehnten von Autonomie reden, wäre das Studium der englischen Lokalverwaltung dringend zu empfehlen.

3. Kautsky, Nationalität und Internationalität, Seite 29 f.

4. Die Artikel, die Genosse Renner im Kampf veröffentlicht hat, sind seither in einer Broschüre unter dem Titel Der nationale Streit um die Aemter und die Sozialdemokratie im Verlage der Wiener Volksbuchhandlung gesammelt erschienen. Preis 60 h.

5. Otto Bauer, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Marx-Studien, II. Band, Seite 363 ff.; Sonderausgabe Seite 316 ff.

6. Ludo M. Hartmann, Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie, Neue Gesellschaft, V. Seite 270.

7. Arbeiter-Zeitung vom 28. Juli 1907.

8. Soukup, Mrtvý dům mrtvého království, Akademie, XII. Seite 17. Vgl. den Bericht über die tschechische Parteiliteratur im Dezemberheft des Kampf.

9. Marx-Studien, II, Seite 563 ff.; Sonderausgabe Seite 489 ff.

10. Vgl. Arbeiter-Zeitung vom 15. Jänner 1908.

11. Šmeral, K vládni akci česko-německého vyrovnánì, Akademie, XII. Heft 4.

12. Die innere tschechische Amtssprache in Tschechischböhmen berührt kein Interesse der deutschen Arbeiterschaft. Andererseits könnte auch das tschechische Proletariat die Zweiteilung des böhmischen Konkretualstatus leicht zugestehen. Für die Bedürfnisse der Minderheiten liesse sich trotzdem Vorsorge treffen. Man könnte zum Beispiel sowohl für Beamte als auch für Richter einen besonderen deutschen und tschechischen Status schaffen, die Beamten- und Richterstellen in jedem Sprachgebiet den Zugehörigen des betreffenden nationalen Status vorbehalten, zugleich aber bestimmen, dass in allen Verwaltungsgebieten und Gerichtssprengeln, die eine beträchtliche nationale Minderheit einschliessen, bei jeder politischen Behörde ein Konzeptsbeamter, bei jedem Bezirksgericht ein Richter, bei jedem Gerichtshof je zwei Räte für bürgerliche Rechtssachen und für Straisachen und ein Untersuchungsrichter dem Status derjenigen Nation zu entnehmen sind, zu der in dem betreffenden Sprengel die Minderheit gehört. Dieser Vorschlag beruht auf einer Kombination der von Genossen Stark im dritten Hefte des Kampf gegebenen Anregung mit Anträgen, die schon früher, zum Beispiel in den vom Ministerium Thun ausgearbeiteten Grundsätzen zur Regelung der Sprachenfrage, gestellt worden sind. Es wäre zu erwägen, ob dieser oder ein ähnlicher Vorschlag geeignet wäre, den Anspruch des deutschen Volkes in Böhmen auf seine Aemter und Gerichte ebenso zu befriedigen wie die praktischen Bedürfnisse der tschechischen Minderheiten in Deutschböhmen.

 


Leztztes Update: 6. April 2024