O. B.

Bücherschau

Nationalitätenfrage

(1. Juli 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 10. Heft, 1. Juli 1908, S. 479–480.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Professor Heinrich Rauchberg fasst in seiner Broschüre Die Bedeutung der Deutschen in Oesterreich, die in der von der Dresdener Gehe-Stiftung herausgegebenen Sammlung Neue Zeit- und Streitfragen erschienen ist, die Ergebnisse seiner statistischen Untersuchungen über die nationale Frage in den Sudetenländern kurz zusammen. Wer Rauchbergs ausführlichere Arbeiten noch nicht kennt, kann sich aus diesem Schriftchen über ihre Ergebnisse unterrichten. Aber auch derjenige, dem Rauchbergs treffliche Arbeiten bekannt sind, wird in der Broschüre einiges Neue finden. Interessant sind insbesondere die von Rauchberg berechneten Zahlen, aus denen hervorgeht, dass auch in Mähren die Verringerung des deutschen Besitzstandes nicht etwa auf den Verlust von Volksgenossen an die Tschechen zurückzuführen ist, sondern darauf, dass der Geburtenüberschuss der deutschen Bezirke erheblich hinter jenem der tschechischen Bezirke zurückbleibt. Im Jahrzehnt 1891 bis 1900 trafen auf je 100 Personen mehr Lebendgeborene als Gestorbene: in den deutschen Bezirken Mährens 6,93, in den tschechischen Bezirken des Landes 11,58. Rauchberg führt dies auf wirtschaftliche Ursachen zurück:

»Durch zielbewusste wirtschaftspolitische Massnahmen könnte die deutsche Stellung sicherlich erheblich gebessert werden: Wenn man den verelendeten Handwebern im Norden Mährens Hilfe brächte, wenn man den Deutschen, die jetzt auf Arbeitsuche äusser Landes gehen müssen, den Brünner Arbeitsmarkt erschlösse, der bisher fast ausschliesslich dem tschechischen Zuzuge gehört. Die nationale Frage geht hier über in die Verkehrsfrage und in die Wohnungsfrage.«

»Soziale Arbeit ist nationale Arbeit und es gibt keine wirksamere Nationalpolitik als eine kräftig vorschreitende Sozialpolitik.«

Sehr einsichtsvoll, wenn auch nicht ganz frei von Irrtümern ist Rauchbergs Urteil über die Stellung der Sozialdemokratie zu den nationalen Problemen, das er in folgenden Worten zusammenfasst:

»Die österreichische Sozialdemokratie ist eine internationale Partei, indem das Band der Klassensolidarität Angehörige verschiedener Nationalitäten verbindet und sie von dem Anschlüsse an ihre bürgerlichen Volksgenossen abhält. Aber diese internationale Partei setzt sich aus nationalen Fraktionen zusammen, die ihr Volkstum und ihre nationalen Kulturinteressen nicht minder hoch halten wie die bürgerlichen Parteien.«

 


Leztztes Update: 6. April 2024