Otto Bauer

Parlamentarismus und Arbeiterschaft

(1. August 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 11. Heft, 1 August 1908, S. 481–488.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Acht Jahre lang tobte im Parlament die Obstruktion. Keine Klasse erwartete mehr eine Arbeitsleistung von dem unfähigen Parlament der Privilegierten. Der Widerwillen gegen den parlamentarischen Skandal, die Unlust an dem leeren Geklapper der parlamentarischen Maschine erfüllte die ganze Gesellschaft. Da peitschten die Siegesnachricht aus Russland und die Ereignisse im ungarischen Militärkonflikt die Arbeiterschaft zum Kampfe auf. Hunderttausende, die sich niemals um öffentliche Fragen gekümmert hatten, nahmen an unseren Versammlungen teil, zogen mit uns auf die Strasse. Und als nun das Privilegienparlament dem Ansturm der Volksmassen erlag, setzten Millionen auf das neue Parlament des gleichen Stimmrechtes die grössten Hoffnungen. Unser grosser Sieg bei den ersten Wahlen hat das Selbstbewusstsein und die Erwartungen der Arbeiterklasse noch gewaltig gesteigert.

Ist es wunderbar, dass so mancher nun enttäuscht ist, da auch das neue Parlament den Wechselfällen der kapitalistischen Gesellschaft, dem Kreislauf von Prosperität und Krise, ohnmächtig gegenübersteht, da auch das neue Parlament sich eben als bürgerliches Parlament erweist, da es sich mit der Erfüllung der Forderungen der Volksmassen nicht eben beeilt, und die Bedürfnisse der Herrschenden gehorsam befriedigt?

So ist es wohl begreiflich, dass die alte Frage nach dem Wert des Parlamentarismus von neuem wieder auftaucht. Es ist also wohl an der Zeit, dass wir uns wieder daran erinnern, was wir vom Parlament erwarten dürfen, was das Parlament für uns leisten kann.
 

Der Niedergang des bürgerlichen Parlamentarismus

Ein durch Recht oder Gewohnheit verknüpfter Verband kann entweder Herrschaftsverband oder Genossenschaft sein. Im Herrschaftsverbande stehen dem Herrn die Untertanen gegenüber: der Hörige dem Grundherrn, der Dienstmann dem Dienstherrn, der Lehensmann dem Lehensherrn, der Untertan dem Landesfürsten. In der Genossenschaft schaffen alle an dem Gesamtwillen mit, dem sie unterworfen sind: So war es in den Genossenschaften des alten Rechtes, den Friedens- und Rechtsvereinen der Geschlechts-, Stammes- und Volksgenossen, so ist es in jeder modernen Genossenschaft, in jedem Verein ebenso wie in jeder demokratisch organisierten Gemeinde, in jeder demokratischen Republik.

Eine jede Genossenschaft besorgt in doppelter Weise ihre Geschäfte: zunächst in der Form der unmittelbaren Selbstregierung (Volksversammlung in den alten Gemeinwesen, Generalversammlung in einem Verein, Volksabstimmung im demokratischen Staat), dann aber auch in der Form der mittelbaren Selbstregierung durch frei gewählte Vertreter (Vereinsausschuss, Gemeindevertretung, Parlament). Parlamentarismus ist nichts anderes als mittelbare Selbstregierung. Kein ausgedehntes und mit umfangreichen Aufgaben betrautes Gemeinwesen kann alle Angelegenheiten in der Volksversammlung oder durch Volksabstimmung erledigen, ebensowenig wie ein Verein alle Geschäfte in der Generalversammlung besorgen kann. Jeder Verein bedarf eines Ausschusses, jedes Gemeinwesen einer Volksvertretung, eines Parlaments. Der Parlamentarismus ist also eine unentbehrliche Methode der Selbstregierung jeder Genossenschaft, eine Methode, die das grösste Gemeinwesen ebensowenig entbehren kann wie der kleinste Verein. Ueber die Notwendigkeit des Parlamentarismus überhaupt kann es also keinen Streit geben.

Aber die Angriffe der Gegner richten sich nicht gegen den Parlamentarismus schlechthin, sondern gegen den bürgerlichen Parlamentarismus, gegen den Parlamentarismus des kapitalistischen Klassenstaates.

Die bürgerliche Revolution hat das Parlament und seine Organe in der Republik an die Stelle der landesfürstlichen Obrigkeit, in der konstitutionellen Monarchie neben sie gesetzt. Die erste Aufgabe des bürgerlichen Parlamentarismus war die Auseinandersetzung mit dem Absolutismus und seiner Bureaukratie. Er hat dem Individuum eine staatsfreie Sphäre gegen den Eingriff der Bureaukratie gesichert; er hat die Gebilde der Selbstverwaltung der bureaukratischen Verwaltung entgegengesetzt; er hat das Recht des Parlaments gegen die Macht des Fürsten, seiner Armee und seines Beamtenheeres abgegrenzt; er hat gegen die Ansprüche der Bureaukratie und des Militarismus die Forderung der Steuerzahler nach einem »gouvernement à bon marche«, nach einer billigen Regierung vertreten. So erschien das Parlament als Sachwalter des Volkes gegen die auf die Bureaukratie und das Heer gestützte fürstliche Gewalt. Aber das junge bürgerliche Parlament hat nicht nur auf den Trümmern des Absolutismus den Verfassungsstaat, sondern auch auf den Ruinen der feudalen die bürgerliche Gesellschaft errichtet. Es hat die feudalen Freiheiten abgetragen und an ihre Stelle die eine bürgerliche Freiheit gesetzt: den freien Grundbesitz an die Stelle der Grundherrschaft, die Gewerbefreiheit an die Stelle des Zunftrechts, das Staatsbürgerrecht an die Stelle der ständischen Privilegien, die Glaubens- und Gewissensfreiheit an die Stelle des Konkordats. In seinen grossen Kodifikationen schuf es ein neues Recht. So erschien das Parlament als Sachwalter der bürgerlichen Gesellschaft gegen die Mächte der Vergangenheit. Darum war das Parlament allen politisch reifen Klassen des Volkes ein gemeinsames Gut, alle schützten seine Macht und Würde und willig musste sich die Minderheit dem Mehrheitswillen unterwerfen.

Aber seit dieser Heroenzeit des bürgerlichen Parlamentarismus hat sich das Bild der bürgerlichen Gesellschaft völlig verändert. Damals stand dem Staat das eine Bürgertum gegenüber, bürgerliches Recht und bürgerliche Erwerbsfreiheit fordernd. Heute sieht der Staat sich gegenüber die einzelnen Schichten der besitzenden Klassen, in festgefügten Organisationen vereint: die machtvollen Banken, die Kartelle und Verbände der industriellen Unternehmer, die grossen Handelshäuser und Reedereien, die lärmenden Organisationen der Kleingewerbetreibenden und Kleinhändler, die Armee der in wirtschaftlichen und politischen Organisationen vereinigten Grossgrundbesitzer und Grossbauern. Und sie alle fordern von ihm nicht grosse Gesetzgebungswerke, nicht eine billige Verwaltung, sondern unmittelbaren Vorteil: Zölle, Prämien, Subventionen, Steuerbegünstigungen, Lieferungen, Absatzgebiete. Das Parlament erscheint nicht mehr als der Sachwalter des Volkes gegen die Fürstengewalt, sondern als der Markt, auf dem die Interessentengruppen um Gabe und Gegengabe feilschen; nicht mehr die grossen Schlachten zwischen feudalem und bürgerlichem Recht, sondern der Handel um das Kompromiss zwischen den Wünschen profitgieriger Interessentengruppen gibt dem parlamentarischen Treiben das Gepräge.

Zur Lösung seiner alten Aufgabe, zur Auseinandersetzung mit der Bureaukratie und dem Militarismus fehlt dem Parlament nun alle Fähigkeit. Gerade die mächtigsten kapitalistischen Interessentengruppen können ihre Geschäfte durch unmittelbare Beeinflussung der Bureaukratie viel besser besorgen als auf dem parlamentarischen Wege; bei der Wahl werden ja die Stimmen nur gezählt, die wirtschaftliche Macht ihrer Träger wird nicht gewogen. So suchen sie die Hilfe der Bureaukratie gegen das Parlament. Der Militarismus aber erscheint ihnen nun als das Werkzeug ihrer Interessen, das ihnen Absatzgebiete und Ausbeutungssphären sichern soll.

Und nun erhebt in diesem Chaos auch das Proletariat seine Stimme. Die Furcht vor den Arbeitermassen treibt die besitzenden Klassen noch mehr der. Bureaukratie und dem Militarismus in die Arme. So untergräbt das bürgerliche Parlament selbst die Basis seiner Macht. Es ist ohnmächtig gegen den Fürsten, da es auf die Demokratisierung der Armee und der Verwaltung verzichtet hat. Denn Armee und Bureaukratie sichern die Ruhe und den Fortgang der Staatsgeschäfte, wenn das Parlament selbst auseinandergejagt wird. Das Parlament kann darum keinen Widerstand gegen die Herrschenden mehr wagen; es bleibt ihm nichts als der Handel um die Geschäfte der Interessentengruppen.

Mit der Macht hat das bürgerliche Parlament auch alle Wrürde verloren; auch die bürgerlichen Schriftsteller sprechen nun vom Niedergang des Parlamentarismus, ohne dass sie wüssten, was an seine Stelle treten könnte. Die Arbeiterschaft aber darf sich durch ihr Gerede nicht beirren lassen; denn uns ist die Teilnahme am bürgerlichen nur der Weg zum proletarischen Parlament.
 

Die Sozialdemokratie im bürgerlichen Parlament

Das Parlament ist nicht eine selbständig wirkende Macht, die über der Gesellschaft steht und sie gestaltet, sondern es ist das Mittel, durch das die in der Gesellschaft wirkenden Kräfte ihren Willen zum Rechtssatz machen. Daher entscheidet über die Tätigkeit eines Parlaments zunächst der Klassenaufbau des Staatsvolkes, das das Parlament vertritt. Bilden in einem Staat die Arbeiter noch die Minderheit der Bevölkerung, dann wird das Parlament bürgerlichen und bäuerlichen Charakter tragen, seine Mehrheit wird der Arbeiterklasse feindlich gegenüberstehen.

Aber über die Zusammensetzung des Parlaments entscheidet nicht nur die zahlenmässige Stärke der Klassen, sondern auch der Grad ihrer Reife, die Fähigkeit der einzelnen Klassengenossen, ihre Klassenlage und das Interesse ihrer Klasse zu erkennen. Nationen, deren Mehrheit die Arbeiterklasse bildet, können trotzdem in das Parlament eine Mehrheit von bürgerlichen und bäuerlichen Abgeordneten entsenden.

Wenn also das Parlament die Forderungen der Arbeiterklasse nicht erfüllt, so ist dies erstens darauf zurückzuführen, dass die Arbeiterklasse noch nicht die Mehrheit der Wählerschaft bildet, und zweitens darauf, dass Hunderttausende von Arbeitern noch den bürgerlichen Parteien Gefolgschaft leisten, noch nicht zum Klassenbewusstsein gereift sind. Den Klassenaufbau der Gesellschaft kann nur die kapitalistische Entwicklung selbst verändern; sie wird die Arbeiterschaft allmählich überall zur Mehrheit der Wählerschaft machen. Die Arbeiter aber zum Klassenbewusstsein zu erziehen, ist unsere Aufgabe.

Für die Erfüllung dieser Erziehungsaufgabe ist uns nun auch das bürgerliche Parlament ein unentbehrliches Werkzeug. Schon in der Stunde seiner Geburt, im Augenblick der Wahl, leistet es uns einen unschätzbaren Dienst. Der Wahlkampf rüttelt breite Massen aus träger Teilnahmslosigkeit auf und lenkt ihre Aufmerksamkeit auf öffentliche Fragen. In diesem Augenblick des lebhaftesten Interesses für alle Probleme des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens hören uns viele, zu denen unser Wort sonst nicht dringt. Die Erziehungsarbeit, die wir im Wahlkampfe leisten, setzen dann unsere Abgeordneten im Parlament fort. Zu breiteren Massen als die Versammlungsrede und das Zeitungsblatt dringt das Wort von der parlamentarischen Tribüne. Und wo das Wort ohnmächtig ist, wird doch die Tat verstanden: So oft die bürgerliche Parlamentsmehrheit einen sozialdemokratischen Antrag ablehnt, lernen Tausende Freund und Feind unterscheiden, lösen sich Hunderte Proletarier aus dem Banne der bürgerlichen Welt. So dient der Parlamentarismus auch dann, wenn wir im Parlament zur Rolle der einflusslosen Minderheit verdammt sind, unserer wichtigsten Aufgabe: der Loslösung der Arbeiter von den besitzenden Klassen, der Konstituierung des Proletariats als seiner selbst bewussten, für ihr eigenes Ziel kämpfenden Klasse.

Wenn unsere Kämpfe im bürgerlichen Parlament die Arbeiterklasse zu klarer Erkenntnis ihrer Bedürfnisse, zu freiem und selbständigem Wollen erziehen, bereiten sie unseren endlichen Sieg vor. Aber zugleich bringen sie doch auch der Arbeiterklasse unmittelbare Erfolge, fühlbare Linderung ihrer Leiden unter der Herrschaft des Kapitals. In welcher Weise dies geschieht, hängt wiederum von dem Entwicklungsgrad der kapitalistischen Gesellschaft ab.

Am Anfang ihrer Entwicklung erscheint die Sozialdemokratie dem Bürgertum als eine kleine Partei; ihre Schwäche im Parlament lässt es als unnötig, ihr revolutionärer Charakter als unmöglich erscheinen, ihr unmittelbaren Einfluss auf die Staatsgeschäfte einzuräumen, mit ihr zu verhandeln und Kompromisse mit ihr zu schliessen. Die sozialdemokratische Fraktion ist ein Bestandteil der Minderheit, der äusserste linke Flügel der Opposition des Parlaments.

Auf der höchsten Entwicklungsstufe der kapitalistischen Gesellschaft erscheint alles, was sonst die besitzenden Klassen geschieden hat, bedeutungslos im Vergleich mit der drohenden Gefahr des proletarischen Sieges. Ein bürgerlicher »Block« steht der Sozialdemokratie gegenüber. Die sozialdemokratische Fraktion ist die Minderheit, die Opposition des Parlaments.

Aber zwischen dem Anfang und dem Ende der Entwicklung kann eine Phase liegen, in der die Sozialdemokratie nicht mehr schwach genug ist, als dass mit ihr als einer parlamentarischen Kraft nicht gerechnet werden müsste, und doch noch nicht stark genug, als dass die Furcht vor ihr alle bürgerlichen Parteien zusammen-schweissen würde. In dieser Situation ist es möglich, dass die Sozialdemokratie den einen Teil der besitzenden Klassen gegen den anderen unterstützt und dafür unmittelbare Errungenschaften für das Proletariat eintauscht. Es ist dies diejenige Situation, in der praktische Gegenwartserfolge am leichtesten zu erringen sind, aber auch jene, in der der parlamentarische Kampf der Arbeiterpartei von der grössten Gefahr bedroht ist: von der Versuchung, um praktischer Erfolge willen die grosse Erziehungsarbeit zu vernachlässigen, die im bürgerlichen Parlament unsere erste Aufgabe ist und bleibt. Dem Proletariat an praktischen Erfolgen zu erobern, was wir ihm erobern können, und dennoch den allseitigen Gegensatz der Arbeiterklasse gegen die ganze bürgerliche Gesellschaft unverhüllt auszudrücken, mit den bürgerlichen Parteien zu handeln und zu verhandeln und dennoch die Kampfstellung gegen den bürgerlichen Staat nicht zu verlassen : das ist das schwierige Problem der parlamentarischen Taktik auf dieser Entwicklungsstufe.

Aber auch dann, wenn diese Situation nicht gegeben ist, wenn unsere Fraktion erst ein kleiner Teil des Parlaments und darum ein Teil der Opposition gegen den herrschenden Teil der besitzenden Klassen oder schon ein grosser Teil des Parlaments und darum die Opposition gegen den bürgerlichen »Block« ist, auch dann bleibt ihrer Tätigkeit der Erfolg nicht dauernd versagt. Unsere Fraktion muss sich dann freilich auf ihre Erziehungsarbeit, auf die Kritik des bürgerlichen Staates und der bürgerlichen Politik, beschränken. Aber die bürgerlichen Parteien fürchten den Erfolg dieser Tätigkeit, die Trennung der Arbeitermassen von ihrer Gefolgschaft. Kapitalistische Profitgier, kleinbürgerliche und bäuerliche Engherzigkeit mögen sich noch so lange sträuben: von Zeit zu Zeit müssen sie' doch der Arbeiterschaft ein Zugeständnis machen, um zu verhindern, dass die letzte Arbeiterschichte ihr Lager verlässt. So wirkt unsere Erziehungsarbeit, die den proletarischen Wählern gilt, erzieherisch auch auf die bürgerlichen Gegner. So bleibt unsere Kritik auch dort nicht erfolglos, wo wir scheinbar nur die undankbare Rolle der einflusslosen Minderheit spielen. Die Furcht vor uns ist unsere Macht. Auf diese Weise hat die Sozialdemokratie dem starken Deutschen Reich nach Bismarcks Zeugnis die Sozialreform abgerungen. Sollten wir das schwache Oesterreich nicht zu weit grösseren Zugeständnissen zwingen können?
 

Das österreichische Parlament

Das österreichische Parlament war bis zum Sturze des Ministeriums Taaffe ein schwächliches Gebilde. Die Bureaukratie hielt die Staatsmaschine fest in ihrer Hand und gewährte je nach ihrem Belieben bald der deutschen Bourgeoisie, bald dem von den Feudalen geführten und gegängelten slawischen Bürgertum kleine Zugeständnisse, um sich die Zustimmung des Parlaments zu dem in der Verwaltung und im Heere herrschenden Absolutismus zu erkaufen. Die breiten Volksmassen sahen dem politischen Leben teilnahmslos zu.

Erst die Revolte des Kleinbürgertums führte breitere Massen auf das politische Schlachtfeld. Die Deutschliberalen wurden von den Ghristlichsozialen und der Deutschen Volkspartei abgelöst. Der Nationalismus fand breitere Stütze und energischere Mittel: mit dem Sturze der Alttschechen fiel der böhmische Ausgleich. Dem Kleinbürgertum folgte die Arbeiterschaft. Die alten Parteien, die einander früher im Wettbewerb um die Gunst der Regierung befehdet hatten, schlossen sich gegen den Ansturm der Massen zusammen. Aber an den nationalen Gegensätzen scheiterte das Ministerium Windischgrätz. Nun versuchten die Herrschenden durch eine Veränderung des Nationalitätenrechtes die Möglichkeit eines neuen parlamentarischen Systems zu schaffen. Aber es zeigte sich, dass die Nationen keine einseitige Verschiebung ihrer Machtverhältnisse mehr ertragen, dass kein Volk mehr die Bureaukratie oder die Parlamentsmehrheit über seine Ansprüche entscheiden lässt. Oesterreich hatte jene Entwicklungsstufe erreicht, die ich als die der negativen Autonomie bezeichnet habe. Die deutsche Obstruktion fegte das Ministerium Badeni hinweg, die tschechische stürzte das Ministerium Koerber.

Die Jahre der Obstruktion haben die Macht des Parlaments gewaltig gesteigert. Die Bureaukratie hat es gelernt, das Parlament zu fürchten. Sie kann nicht mehr regieren, ohne die Parteien an der Regierung selbst zu beteiligen, ohne auf die Bedürfnisse der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen: die mittlere Linie zwischen den Wünschen der Parteien ward zur Regierungsmaxime. Aber die Obstruktion hat auch die Grundlage alles Parlamentarismus, das Majoritätsprinzip, erschüttert. Die Obstruktion wurde zur Waffe aller Parteien. Was die einen unter der Drohung der Obstruktion forderten, verweigerten die anderen, gleichfalls mit der Obstruktion drohend.

Der Ansturm des Proletariats zerschmetterte endlich die alte Ordnung. Das allgemeine und gleiche Wahlrecht hat die Bureaukratie gezwungen, dem Kleinbürgertum und der Bauernschaft Einfluss auf die Staatsgewalt einzuräumen. Das neue Parlament geniesst alle Vorteile der Obstruktionszeit: die »Politik des Dreinfahrens« ist unmöglich, die Bureaukratie muss allen starken Parteien Zugeständnisse machen, das einst so schwache Parlament kann die Verwaltung viel wirksamer unmittelbar beeinflussen als viel ältere Parlamente. Aber andererseits sind .auch die Gefahren der Obstruktionszeit nicht gänzlich geschwunden: das Parlament sieht immer wieder durch die Gefahr einer Obstruktion seine Arbeitsfähigkeit bedroht, keine Partei will auf diese letzte und stärkste Waffe verzichten, blosse Opposition, die die Waffe der Obstruktion verschmäht, gilt als schwächliche Mässigung.

Das österreichische Abgeordnetenhaus ist ein Parlament und in jedem Parlament gilt das Majoritätsprinzip. Die Sozialdemokratie kann in diesem Parlament immer nur die Opposition sein; denn für den österreichischen Staat kann ein Sozialdemokrat noch weniger die Verantwortung übernehmen als für jeden anderen kapitalistischen Klassenstaat, in dessen Klassencharakter sich doch das Gemeinwesen der Nation verbirgt. Der Sozialdemokratie steht ein bürgerlicher Block gegenüber, der alle Nationen äusser den Ruthenen, alle Klassen äusser dem Proletariat umfasst. So scheint die Taktik unserer Fraktion sehr einfach zu sein: sie kann als Oppositionspartei die Regierung nicht unmittelbar beeinflussen. Sie muss sich also auf die erzieherische Aufgabe der Kritik beschränken. Sie kann positive Erfolge für die Arbeiterklasse nur so weit erringen, als die Furcht vor den Wirkungen dieser Kritik die bürgerlichen Parteien und die Regierung zu Zugeständnissen zwingt.

Aber das österreichische Parlament auf der Entwicklungsstufe der negativen Autonomie der Nationen ist ein Gebilde ganz besonderer Art. Hier gilt das Majoritätsprinzip nicht: denn solange die positive nationale Selbstregierung nicht besteht, ist das Recht der Minderheit, feindliche Massnahmen durch die Obstruktion zu verhindern, die einzige Schutzwehr aller Nationen, der Anspruch der Minderheiten – und in dem Parlament der acht Nationen sind alle Parteien Minderheiten – auf die Beteiligung an der Regierung die einzige Form der Teilnahme der Nationen an der Staatsgewalt. Obstruktion und Ministerialismus sind die politischen Methoden der Parteien. Nun ist die sozialdemokratische Fraktion im Abgeordneterhause eine Partei so gut wie die anderen: auch sie kann also die Verweigerung ihrer Forderungen mit der Obstruktion bestrafen, ihre Erfüllung durch die Förderung der Geschäfte der Regierung belohnen. Die Verlockung zur Anwendung dieser Methode ist sehr gross. Müssen nicht auch wir zur Obstruktion greifen, da die Volksmassen, an die lärmenden Methoden der Obstruktion gewöhnt, die ruhige Methode der blossen Opposition nicht mehr verstehen? Müssen nicht auch wir für die Förderung der Regierungsgeschäfte unmittelbare Erfolge einzutauschen suchen, da alle Klassen, der fruchtlosen Obstruktionszeit müde, von einem wahren Heisshunger nach »positiver Arbeit« und »positiven Erfolgen« erfüllt sind?

So sind zwei Methoden sozialdemokratischer Politik im österreichischen Abgeordnetenhause denkbar: die dem allgemeinen Gesetz des Parlamentarismus, dem Majoritätsprinzip, entsprechende Methode der kritisierenden Opposition und die die Eigenart des österreichischen Parlamentarismus ausnützende Methode der Obstruktion und des Ministerialismus. Die Kategorien des Opportunismus und des Radikalismus versagen hier vollständig. Die Methode, die uns auf die kritisierende Aufgabe der Opposition beschränkt, ist in den anderen Ländern die Methode des prinzipiellen Radikalismus; in Oesterreich hält man sie für die Methode der Mässigung, der Kraftlosigkeit, des schwächlichen Opportunismus. Und was die guten Oesterreicher für Radikalismus halten, die Anwendung obstruktionistischer Mittel, das ist doch nur die eine Phase jener spezifisch österreichischen Kampfesweise, deren andere Phase der Ministerialismus ist.

Unsere Fraktion hat bisher beide Methoden klug kombiniert. Sie erfüllt ihre grosse Erziehungsaufgabe als die prinzipielle Opposition des Hauses; als solche steht sie ausserhalb des parlamentarischen Treibens der bürgerlichen Parteien, sie kritisiert die bürgerliche Mehrheit, aber sie hindert sie nicht, als Mehrheit ihren Willen durchzusetzen, weil sie selbst kein Teil dieser Mehrheit werden will. Ihre Methode ist die der Opposition; sie verschmäht die Anwendung obstruktionistischer Mittel, aber sie sucht auch keinen Teil an der Staatsgewalt.

Aber andererseits weiss die Regierung und wissen auch die bürgerlichen Parteien, dass der sozialdemokratische Verband die furchtbaren Machtmittel, über die im österreichischen Parlament jede Minorität verfügt, anwenden müsste, sobald ein Lebensinteresse des Proletariats von der Regierung und ihrer Mehrheit angetastet würde. Darum hat. man es nicht gewagt, Herrn Gessmann zum Minister für Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung zu machen ; darum wird man es nicht wagen, das Koalitionsrecht der Arbeiter ernsthaft anzutasten, obwohl die überwiegende Mehrheit des Abgeordnetenhauses nichts lieber täte als dies.

Und schliesslich kann die Regierung, die allen Parteien Zugeständnisse machen muss, auch der Arbeiterschaft nicht ganz vergessen. Denn hier ist unsere Opposition schon der Regierung ein Zugeständnis, da sie immer fürchten muss, dass die Opposition zur Obstruktion werden könnte. In anderen Parlamenten kann die Sozialdemokratie nur Zugeständnisse eintauschen, indem sie für Regierungsvorlagen stimmt, in Oesterreich schon dann, wenn sie sich damit bescheidet, bloss gegen sie zu stimmen.

Die Taktik der sozialdemokratischen Fraktion im österreichischen Parlament stellt unserem Verband viel schwierigere Aufgaben, als sie jemals eine sozialdemokratische Fraktion in irgend einem Parlament zu lösen hatte. Aber andererseits sind die Aussichten des Erfolges auch grösser als in jedem anderen Parlament. Wir sind keine einflusslose Minderheit, aber wir sind auch nicht gezwungen, uns mit bürgerlichen Parteien zu koalieren unddieVerantwortung für die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Als prinzipielle kritisierende Opposition erfüllen wir unsere Aufgabe der Erziehung, der Demaskierung der Gegner, der Loslösung aller proletarischen Schichten von der Gefolgschaft der bürgerlichen Parteien. Dass unser Interesse an der Arbeitsfähigkeit des stets bedrohten Parlaments nicht schwinde, dafür muss die Regierung sorgen, indem sie auch der Arbeiterschaft von Zeit zu Zeit Zugeständnisse macht. Und wagt man einmal einen Anschlag auf eines der wichtigsten Rechte der Arbeiter, dann kann unsere Obstruktion sein Gelingen verhindern. Dass auf diesem Wege kleine Erfolge errungen werden können, hat schon das erste Jahr des neuen Parlaments bewiesen; dass die folgenden Jahre uns grössere Erfolge bringen werden, ist gewiss. Gerade in Oesterreich kann also der Wert des Parlamentarismus für die Arbeiterschaft am allerwenigsten geleugnet werden.

Gewiss, was das Parlament uns heute bringen kann, ist immer nur eine kleine Linderung unserer Leiden. Aber wer sich darüber wundert, beweist nur, dass er selbst die Grenzen des Parlamentarismus verkannt, die Leistungsfähigkeit dieser Methode des proletarischen Klassenkampfes überschätzt hat.
 

Die Grenzen des Parlamentarismus

Auf dem Sondereigentum an den Arbeitsmitteln beruht die kapitalistische Gesellschaftsordnung. Die Gesellschaft überlässt Privatleuten die Nutzung der Arbeitsmittel : so hat sie die Herrschaft über das Wirtschaftsleben aus der Hand gegeben. Kein Staatsgesetz regelt den Umfang der Produktion, die Verteilung der Arbeit auf die einzelnen Produktionszweige, die Verteilung des Arbeitsertrages auf die Klassen. Ohnmächtig muss der Staat der Eigenbewegung der Volkswirtschaft zusehen, ohnmächtig sieht er den steten Wechsel von Prosperität und Depression, von Teuerung und Absatzstockung, von Ueberarbeit und Arbeitslosigkeit.

So ist der Tätigkeit des Staates und aller seiner Organe, also auch des Parlaments, durch das Privateigentum eine Grenze gesetzt. Auch die Arbeiterschaft kann sich daher nicht darauf beschränken, durch das Parlament den Staat zu beeinflussen, damit dieser zu ihren Gunsten in das Getriebe der Volkswirtschaft eingreift. Auch sie muss durch die Selbsthilfe, durch die direkte Aktion auf dem Gebiete der wirtschaftlichen Kämpfe den Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung führen. Aber zur Selbsthilfe genügen uns nicht jene Mittelchen, die Liberale und Philanthropen uns empfehlen, in der direkten Aktion sind jene machtlosen Demonstrationen unzureichend, zu denen Anarchisten und Syndikalisten uns raten. [1] Unsere Selbsthilfe, unsere direkte Aktion sind die Kämpfe unserer Gewerkschaften und Genossenschaften. Dass diese direkte Aktion mit den Kämpfen um das Parlament und im Parlament stets innig verbunden war und ist, ist der Stolz der österreichischen Arbeiterbewegung.

Aber auch auf dem politischen Kampfboden haben die österreichischen Arbeiter es stets verstanden, durch die Aktion der Masse selbst dem Wirken ihrer Vertreter Kraft und Nachdruck zu verleihen. Kennen die Leute, die Oesterreichs Arbeiter über Zweck und Nutzen der direkten Aktion belehren wollen, die Geschichte unseres Wahlrechtskampfes nicht, dieses einheitliche Zusammenwirken kluger parlamentarischer Taktik mit der direkten Aktion der Masse in den zahllosen Versammlungen, in den Demonstrationen und Aufzügen, in der passiven Resistenz der Eisenbahner, in der Arbeitseinstellung vom 28. November, in der drohenden Vorbereitung des Massenstreiks? »Man holt das Recht sich auf der Strasse«, wenn alle anderen Mittel versagen – darüber bedürfen gerade die österreichischen Arbeiter am allerwenigsten der Belehrung.

Die sozialdemokratische Arbeiterschaft hat es in Oesterreich stets verstanden, die direkte Aktion der Masse selbst mit der parlamentarischen Aktion klug zu verknüpfen. So führt das Proletariat innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft seinen Kampf, wie Parvus sagt, mit kombinierten Waffen. Und dieselben Waffen wird es auch in dem grossen Entscheidungskampfe führen, in dem wir die Staatsgewalt erobern werden, um sie zur Umwälzung des ganzen Gesellschaftsgebäudes zu gebrauchen.

Auch diese grosse Aufgabe der Ueberführung der Arbeitsmittel in den Besitz und die Verwaltung der Gesellschaft, der planmässigen Neuordnung der gesellschaftlichen Produktion und des gesellschaftlichen Konsums wird natürlich von Vertretungen der Volksgesamtheit, also von parlamentarischen Körperschaften, geleitet werden müssen. Genügt also die parlamentarische Aktion, um unsere grosse Aufgabe zu erfüllen? Wo die Demokratie der Gesetzgebung in der demokratischen Organisation der autonomen Lokalverwaltung und in einer demokratischen Heeres-verfassung ihre Ergänzung findet, dort haben die Herrschenden keine Waffe gegen eine proletarische Parlamentsmehrheit, dort ist das Schicksal der kapitalistischen Gesellschaft entschieden, wenn nur das Proletariat das Parlament erobert. Wo aber die Verwaltung in den Händen der Bureaukratie liegt, wo die Söhne des Volkes im Heere als gefügige Werkzeuge fremden Interessen dienen, dort könnte es wohl geschehen, dass die Herrschenden durch die Rückkehr zum Absolutismus oder durch einen Wahlrechtsraub die Eroberung des Parlaments durch das Proletariat zu verhindern versuchen. In diesem Falle bedarf die parlamentarische Aktion des Schutzes durch die direkte Aktion der Masse. An Waffen wird es dem Proletariat, das die Steuern zahlt und die Soldaten stellt, das den ganzen Produktionsprozess jederzeit stilllegen kann, auf dieser letzter Stufe der kapitalistischen Entwicklung gewiss nicht fehlen.

Innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft wie im letzten Entscheidungskampfe wird also das Proletariat die parlamentarische Aktion niemals entbehren können, aber immer wird sie ihre Ergänzung finden müssen in den Kämpfen der proletarischen Masse selbst. Der parlamentarische Kampf ist uns nur ein unentbehrliches Mittel neben anderen ebenso unentbehrlichen Mitteln unseres Klassenkampfes – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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Fussnote

1. Das Musterbeispiel einer solchen »direkten Aktion«, die durch die grossmäulige Phrase den Mangel festgefügter proletarischer Organisationen zu ersetzen sucht, war der »Kampf« der französischen Syndikalisten für den Achtstundentag. Die »föderalistischen« Gewerkschaften Frankreichs mit ihrer kleinen Mitgliederzahl und ihren niedrigen Beiträgen waren unfähig, die Verkürzung der Arbeitszeit Schritt für Schritt durchzusetzen. So erklärten sie denn, dass sie den Achtstundentag durch die »direkte Aktion« durchsetzen werden : vom 1.Mai 1906 an würden die Arbeiter einfach nach 8 Stunden die Werkstätten verlassen, ohne sich um den Widerspruch der Unternehmer zu kümmern. Aber Herr Clemenceau liess am 1. Mai die Führer der Bewegung verhaften und ein paar Bataillone ausrücken – und die ganze Bewegung endete kläglich ohne jeden ent-scheidenderf Erfolg! Die föderalistisch zersplitterten Gewerkschaften mit ihren leeren Kassen konnten eben keinen ernsthaften Kampf führen! Mit dieser »direkten Aktion« der Phrase, der wirkungslosen Drohung vergleiche man die zielbewusste, auf wirkliche Macht, auf starke, einheitlich geleitete und finanziell kräftige Organisationen gestützte »direkte Aktion« der deutschen, englischen und österreichischen Gewerkschaften.

 


Leztztes Update: 6. April 2024