Otto Bauer

Bücherschau

Tschechische Parteiliteratur

(1. Oktober 1908)


Der Kampf, Jahrgang 2 1. Heft, 1, Oktober 1908, S. 44–46.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Wie schwer es vielen unserer Genossen wird, sich den Einflüssen der mit tausend Stimmen unablässig uns bestürmenden bürgerlich-nationalen Ideologie zu entziehen, beweist die Broschüre, in der Genosse Modráček unsere Diskussion über die Nationalitätenfrage bespricht. [1]

Ein grosser Teil dieser Broschüre beschäftigt sich mit den Vorschlägen Renners und mit meiner Nationalitätenfrage. Leider werden aber unsere Anschauungen in vielen Punkten unrichtig wiedergegeben. Zum Beispiel behauptet Modráček, auch nach der Konstituierung der Minoritätsgemeinden solle die nationale Minderheit nach unseren Vorschlägen benachteiligt werden; denn die nationale Mehrheit werde nur einer Gemeinde steuern, die Minderheit aber müsste dann zwei kommunalen Organisationen Steuer zahlen und darum doppelte Steuern entrichten. Das ist ein grobes Missverständnis. Die nationale Minderheit soll wohl die Kosten ihres Schulwesens aufbringen, aber dafür wird sie doch von den Beiträgen für das Schulwesen der Mehrheit befreit!

Durch eine Serie ähnlicher Missverständnisse wird das Bild der von Renner propagierten Nationalitätenverfassung bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Schliesslich behauptet Modräcek gar, Renner habe zwar die nationale Selbstregierung früher für alle Nationen verlangt, heute aber wolle er sie nur in denjenigen Ländern durchführen, in welchen die Deutschen die Minderheit der Bevölkerung sind. Zum Beweis führt Modráček eine von der deutschen Sozialdemokratie in Böhmen beschlossene Resolution an, die er Renner zuschreibt. Natürlich spricht diese Resolution nur deshalb bloss von Böhmen, weil die deutschböhmischen Genossen nicht kompetent sind, Programme für das ganze Reich zu beschliessen.

Renner fordert, dass jeder beträchtlichen nationalen Minderheit die Möglichkeit gesichert werde, in den Aemtem und Gerichten in ihrer Sprache ihr Recht zu finden. Dies erfordert aber nicht die Mehrsprachigkeit aller Beamten,

sondern bloss die Mehrsprachigkeit der Aemter. Darin sieht Modräcek die Preisgabe des Personalitätsprinzips! Er bemerkt nicht, dass in dem Motivenbericht zu dem Koerberschen Sprachengesetzentwurf, auf den er sich beruft, das Wort Personalitätsprinzip in einem ganz anderen Sinne gebraucht wird als in unserer Literatur. Seine ganze Kritik beruht auf einem ganz falschen Bilde der in Renners Kampf der österreichischen Nationen entworfenen Nationalitätenverfassung. Diese beruht auf dem Territorialprinzip, der Abgrenzung der nationalen Siedlungsgebiete; sie führt das Personalitätsprinzip nur bei Konstituierung der nationalen Selbstverwaltungskörper in Gebieten starker nationaler Mischung und zur Konstituierung der Minoritäten ein. Damit stehen Renners Vorschläge über Amtsbesetzung und Sprachengebrauch der Aemter in Einklang. Aber ist das nicht dieselbe Verfassung, die Modráček selbst in der Danzerschen Enquete [2] gefordert hat?

Modráček hat in jener Enquete auch gesagt, die Kronländer hatten „für das kulturelle Leben der Nationen kaum praktischen Wert“. Heute fordert er wieder die „Dezentralisierung“ der Reichsverwaltung, die Erweiterung der Kompetenzen der Landtage. Er begründet dies mit ein paar Budgetziffern, die bezeugen, dass heute der Staat auch mit lokalen Angelegenheiten belastet ist (Strassen-, Brückenbauten und dergleichen). Mit demselben Argument lässt sich aber auch die Dezentralisation der Landesverwaltung verteidigen, die Uebertragung von Landeskompetenzen an die Kreise. Das ist aber Genossen Modráček nicht sympathisch; die Kreisorganisation entspreche dem alten absolutistischen „Teile und herrsche!“ Wer will teilen, um zu herrschen? Doch wohl die zentralistische Bureaukratie ? Aber die sich selbst regierenden Kreise sollen doch gerade an die Stelle der bureaukratischen Verwaltung treten, die Beamten den Selbstverwaltungskörpern unterstellt werden! Solche Missverständnisse machen es möglich, dass die nationale Selbstregierung als ein arglistiger Plan zur Unterdrückung des tschechischen Volkes erscheinen kann!

Modráček fasst schliesslich seine Kritik in den Worten zusammen: „Die tschechische Sozialdemokratie fordert Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung, die deutsche Sozialdemokratie die nationale Autonomie.“ Aber die Gleichberechtigung ist ein rein formales Prinzip. Sie besteht, wo die Ruthenen ebenso gut behandelt werden wie die Polen; aber auch, wo es den Polen ebenso schlecht geht wie den Ruthenen. Die Forderung der Gleichberechtigung genügt geschichtslosen Nationen, die sich erst auf das Niveau erheben wollen, das die historischen Nationen längst erreicht haben; wo aber nur noch historische Nationen einander gegenüberstehen, dort erfüllen sie die Form der blossen Gleichheit mit dem Inhalt der vollen Freiheit, indem sie für alle Völker gleiche Selbstregierung fordern. In der Tat kann auch Genosse Modräcek bei der leeren Phrase der Gleichberechtigung nicht stehen bleiben; auch er entwirft nun ein Programm der nationalen Autonomie.

Genosse Modräcek will die nationale Frage auf Grund folgender Prinzipien lösen: „Nationale Selbstverwaltung in den national strittigen Zweigen der Landesverwaltung; nationale Abgrenzung der Verwaltungssprengel; rechtlicher Schutz gegen die rücksichtslose Majorisierung der nationalen Minderheit in der Landesverwaltung.“

Zu diesem Zweck sind nationale Kurien und nationale Sektionen für die einzelnen Zweige der Landesverwaltung, soweit diese Gegenstand des nationalen Streites sind, zu gründen. Von den Einkünften des Landes sind den einzelnen nationalen Sektionen diejenigen zuzuweisen, die aus den Bezirken ihrer Nationalität fliessen. Die Abgaben der gemischten Bezirke werden auf die nationalen Sektionen in dem Verhältnis der Bevölkerungszahl beider Nationen in diesen Bezirken verteilt. Ausserdem kann jede nationale Sektion auch den Bezirken ihrer Nationalität Steuerzuschläge vorschreiben; die gemischten Bezirke haben diese Steuerzuschläge nicht in voller Höhe zu tragen, sondern nur jenen Prozentsatz, der dem Anteil der betreffenden Nation an der Gesamtbevölkerung des Bezirkes entspricht.

Wie man sieht, unterscheidet auch Modráček nationale – oder, wie er sagt, „national strittige“ – Verwaltungszweige und solche, die für das ganze Verwaltungsgebiet – hier das ganze Land – einheitlich verwaltet werden können: er tut also dasselbe, was er Renner und mir gegenüber für unmöglich erklärt. Für die national strittigen Verwaltungszweige fordert auch er die nationale Autonomie. Auch er kombiniert das Territorialprinzip mit dem Personalitätsprinzip: die nationalen Verwaltungssektionen verwalten die Angelegenheiten der Bezirke ihrer Nationalität, überdies aber auch gewisse Angelegenheiten ihrer Volksgenossen in den gemischten Bezirken. Die Aufbringung der Mittel unterscheidet sich gleichfalls nur unwesentlich von jener, die ich in meiner „Nationalitätenfrage“ vorgeschlagen habe: jeder nationalen Verwaltungssefction fallen alle Steuern der Bezirke ihrer Nationalität und ein prozentualer Anteil an den Steuern der gemischten Bezirke zu.

Wodurch unterscheiden sich nun Modráček Vorschläge von den unseren?

Erstens dadurch,dass die nationaleAutonomie bei Modráček unvollständig bleibt. Die nationalen Sektionen stellen zwar ihr Budget selbständig auf, aber es muss in das Budget des Landes eingestellt, also doch wohl vom Landtag angenommen werden. Die nationale Autonomie der Italiener in Tirol bliebe also dadurch beschränkt, dass die deutsche Landtagsmehrheit dem von ihr aufgestellten Budget die Zustimmung erteilen müsste. Wir vermissen jeden Grund für diese Beschränkung.

Zweitens: Modráček macht Organe des Landes zu Trägern der nationalen Autonomie, während wir den Nationen selbständigen Wirkungskreis, völlig abgetrennt von der Landesverwaltung, und selbständige Organe, von denen des Landes geschieden, zuerkennen wollen.

Sehen wir uns zum Beispiel Tirol an! Hier lassen sich die von den beiden Nationen bewohnten Gebiete reinlich scheiden, jedes der beiden Gebiete ist sehr wohl geeignet, ein selbständiges Verwaltungsgebiet zu bilden. Wir verlangen also die Trennung des Landes in zwei Verwaltungsgebiete und für jedes der beiden einen besonderen Landtag. Modráček dagegen

will die Italiener in allen national nicht strittigen Angelegenheiten dem Innsbrucker Landtag unterwerfen und er macht ihre nationalen Verwaltungssektionen zu Organen dieses Landtages. Da aber die Kompetenz der italienischen Verwaltungssektionen sich doch auf die italienischen Bezirke beschränken und ihnen nur die Steuern der italienischen Bezirke zufliessen sollen, ist nicht recht einzusehen, warum diese Körperschaften in Innsbruck sitzen sollen und nicht in Trient. Der ganze Vorschlag Modráčeks wäre für Tirol eine zwecklose Halbheit! Sollte er es nicht auch für andere Länder sein ? Als erster Schritt zur nationalen Autonomie wäre eine solche Regelung für die Slowenen in Steiermark, für die Ruthenen in Galizien wohl annehmbar, als Programm erscheint sie doch wohl zu inkonsequent.

Etwas anders liegen die Dinge in Böhmen. Dieses Land ist eine geographische Einheit und gewisse Angelegenheiten – man denke zum Beispiel an den Strassen- und Wasserbau, an das Lokalbahnwesen – können vielleicht am zweckmässigsten für das ganze Land einheitlich verwaltet werden. Andere Verwaltungsaufgaben sind dagegen von beiden Nationen gesondert zu besorgen. Daher sind die Kreise einerseits territorial zusammenzufassen im Lande Böhmen – sie finden ihre Vertretung im Prager Landtag – andererseits aber sind sie für die Verwaltung nationaler Angelegenheiten national zu trennen: sie finden ihre Vertretung in einer deutschen Landesvertretung in Reichenberg oder Aussig und einer tschechischen in Prag. Modräcek setzt an die Stelle dieser beiden Landesvertretungen blosse Sektionen des Prager Landtages. Wenn er aber diesenSektionen annähernd dieselben Kompetenzen und dieselben Steuerquellen zuweisen will wie wir, so ist der Unterschied hier nicht eben bedeutsam.

Drittens: Modráček beschränkt sich auf die Lösung des Problems im Lande. Wir glauben, dass einerseits auch die kleineren Verwaltungssprengel – Gemeinden, Bezirke und Kreise – analoge Institutionen brauchen und dass andererseits die Nationen auch im ganzen Reiche eigener Institutionen bedürfen, deren Verwaltung den Nationalräten obliegen soll. Wie wichtig die Durchführung der nationalen Autonomie gerade in den kleinsten Verwaltungssprengeln, in den Gemeinden, ist, hat Renner im Kampf, I., Seite 356 ff., treffend gezeigt. Nicht minder wichtig ist aber die Zusammenfassung der ganzen Nationen im Reiche. Wem sonst soll die oberste Gesetzgebung über das ganze tschechische Schulwesen zustehen als dem Nationalrat, der Gesamtvertretung der ganzen tschechischen Nation? Will Modräcek sie dem Reichsrat belassen oder drei Landtagen ausliefern, in denen andere Nationen mitbestimmen und die doch nur drei verschiedene Landesschulen, aber keine einheitliche Nationalschule schaffen könnten? Und bedarf die tschechische Nation nicht einer Körperschaft, die berufen ist, Hochschulen zu gründen und zu verwalten, die Entwicklung der tschechischen Wissenschaft und Kunst planmässig zu fördern, einer Körperschaft, die die der ganzen Nation gemeinsamen Angelegenheiten besorgt und die Einheit und Souveränität der Nation repräsentiert? Was aber das Problem betrifft, Kompetenzen und Steuererträgnisse auf den Reichsrat und die

verschiedenen Nationalräte zu verteilen, so ist es nicht schwerer lösbar und kann ganz ähnlich gelöst werden wie Modráčeks Kompetenzen- und Steuerverteilung zwischen dem Landtag und den nationalen Verwaltungssektionen.

Was Modräcek uns vorschlägt, ist die halbe Autonomie der Nationen. Die Halbheit hat ihren Grund in der Sorge um die glorreichen „Königreiche und Länder“. Und diese Sorge soll uns in einem Augenblick lebendig werden, in dem selbst in Russland [3] die historischen Landesgrenzen versinken vor der lebendigen Wirklichkeit der nationalen Gemeinschaften.

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Fussnoten

1. Modráček, Otázka národní v sociální demokracii Rakouska. Prag 1908.

2. Vergl. Kampf, I., Seite 430.

3. Vergl. Leuthner, Das Ende der polnischen Reichsidee, Sozialistische Monatshefte, XII., 2., Seite 599 ff.

 


Leztztes Update: 6. April 2024