Otto Bauer

Bücherschau

Marx-Literatur

(1. November 1908)


Der Kampf, Jahrgang 2 2. Heft, 1. November 1908, S. 94–95.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die grossen Ereignisse des gesellschaftlichen Lebens sind die treibenden Kräfte, die auch die Bewegung des Denkens auslösen. Veränderungen der Daseinsweise der Menschen erzeugen Veränderungen ihrer psychischen Disposition; sie wenden die Aufmerksamkeit der Beobachter und Forscher neuen Gegenständen zu, sie machen die Menschen fähig, dasUeberlieferte anders zu werten, als die Väter es getan, und steigern dadurch auch die Fähigkeit, durch die Kritik der überlieferten Vorstellungen zu neuen und reiferen Vorstellungen aufzusteigen. Jede grosse Wendung der Erkenntnis ward nur durch eine grosse Umwälzung im Leben der Menschen möglich.

Aber die neue Erkenntnis ist nicht etwa nur bestimmt durch die neuen Tatsachen, die neuen Erfahrungen, die die soziale Wirklichkeit selbst dem Beschauer zuträgt, sondern immer auch durch die Beschaffenheit des diese Tatsachen betrachtenden und ordnenden Bewusstseins selbst. Dieses Bewusstsein aber bearbeitet die Erfahrungstatsachen mit jenen Erkenntnismitteln, die die früheren Geschlechter, seine Vorarbeiter, erarbeitet und ihm vererbt haben. Obwohl eine neue Erkenntnis nur durch neue Erfahrung ermöglicht wird, die einerseits als neuer Gegenstand des Wissens sich dem Forscher darbietet und andererseits durch die Erschütterung der alten Vorstellungen und Vorstellungsverknüpfungen die Disposition zu neuer Gestaltung und Ordnung des Erfahrungsmaterials schafft, so kann doch das erkennende Bewusstsein die neuen Tatsachen immer nur mit Hilfe der ihm von den Aelteren überlieferten Denkmittel sich aneignen. So schliesst auch die radikalste Umwälzung der Wissenschaft ein historisches Element ein; die neuartigste Erkenntnis ist doch immer nur die Verknüpfung neuen Erfahrungsmaterials mit Erkenntnisformen, die älteren Entwicklungsstufen des menschlichen Bewusstseins entstammen. Diese Tatsache begründet die Kontinuität der Entwicklung des menschlichen Denkens.

Wer also ein grosses Erlebnis aus der Geschichte der Wissenschaft, wie es die Entstehung der Marxschen Gesellschaftslehre ist, erklären will, kann sich nicht damit begnügen, zu zeigen, wie die kapitalistische Umwälzung und die in ihrem Gefolge einherschreitende politische Revolution dem Begründer des modernen Sozialismus eine Fülle neuer Erfahrungstatsachen als das Material seiner Wissenschaft zugetragen und wie diese Revolution im Leben der Menschen die Disposition zur völligen Umwälzung ihres Denkens geschaffen hat; er muss vielmehr auch darstellen, wie in Marxens Bewusstsein die neue Arbeit an dem neuen Erfahrungsmaterial geleistet wurde mit den Denkmitteln, die sein Erbe aus der älteren Geschichte des menschlichen Denkens waren. Diese zuletzt umschriebene Aufgabe löst die gedankenreiche Schrift, in der Dr. Max Adler Marx als Denker feiert. [1]

Max Adler beginnt mit einer kurzen Kritik der Philosophie Hegels, die hoffentlich dazu beitragen wird, die falsche, von einem geistlosen Materialismus und Positivismus in Umlauf gesetzte und trotz aller Widerlegungen immer noch fortlebende Hegel-Legende zu zerstören. Dass Hegels Philosophie nichts anderes war als ein grandioser Versuch, die lebendige Wirklichkeit der Erfahrung in den Rahmen eines philosophischen Systems einzuspannen, dass Hegel, in dieser Hinsicht ganz ein Kind des naturwissenschaftlichen Zeitalters, in der Selbstbewegung des Geistes doch nur die Eigengesetzlichkeit des Weltprozesses darstellt und, indem er den Geist auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung zum Bewusstsein seiner selbst kommen lässt, das menschliche Denken als einen Teil des Weltprozesses erfasst und in die unendliche Kausalreihe hineinstellt, wird hier treffend gezeigt. Vielleicht wäre die Darstellung noch anschaulicher geworden, wenn Adler aus Hegels Phänomenologie die eigene Darstellung des Denkers über das Verhältnis des Geistes zum Bewusstsein übernommen hätte, an der sich, wie ich glaube, am überzeugendsten nachweisen lässt, dass ein naturwissenschaftlich orientierter kritischer Empirismus der Hegelschen Philosophie zugrunde liegt.

Max Adler zeigt nun, wie Marx Hegels Eigengesetzlichkeit des Geistes umgestaltet zur Eigengesetzlichkeit des sozialen Geschehens. Wie bei Hegel der sich nach eigenen Gesetzen bewegende Weltprozess zum Bewusstsein seiner selbst kommt im menschlichen Denken, so wird bei Marx die zwar durch das Bewusstsein der Menschen verlaufende, aber ihnen unbewusst gebliebene Gesetzlichkeit des sozialen Geschehens auf einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer selbst bewusst in der sozialen Erkenntnis, die nun nichts anderes ist als die reale Gesetzlichkeit des sozialen Geschehens, in das Bewusstsein gehoben. So wird aber diese Erkenntnis nun selbst zum Kausalfaktor: die soziale Theorie schlägt um in die soziale Praxis, die Erkenntnis der gesellschaftlichen Arbeit in ihre planmässige Organisation und Leitung. Zur Erkenntnis der sozialen Gesetzlichkeit, der ihr Leben unterworfen ist, gereift, hebt die Arbeiterklasse diese Gesetzlichkeit als eine fremde Macht auf, indem sie selbst zur Gesetzgeberin wird; indem sie den gesellschaftlichen Charakter der individuellen Arbeit durchschaut, erkämpft sie die planmässige und unmittelbare Leitung der gesellschaftlichen Arbeit. So stammt Marxens Sozialismus von jenem Hegelschen Gedanken eines Weltprozesses, der, zunächst unbewusst fortschreitend, schliesslich im Denken der Menschen zum Bewusstsein seiner selbst und dadurch erst zu seiner reifsten Selbstgestaltung gelangt.

Die eigentliche Leistung von Max Adlers Schrift ist nun der Nachweis, wie dieser Gedanke, im Keime schon in Marx’ Jugendschriften enthalten, sich allmählich zum System entfaltet, bis er im Kapital seine reifste Gestalt findet. So sehen wir in der Einheitlichkeit des Marxschen Denkens doch auch sein organisches Wachstum. Dieses Nachweises wegen erscheint uns Adlers Schrift als eine überaus wertvolle Vorarbeit zu einer wissenschaftlichen Biographie von Karl Marx. „Ein Gedanke der Jugend, verwirklicht in der Reife des Alters“ — so erscheint uns nun in der Tat Marx’ Gedankengebäude.

In einer Hinsicht bedarf allerdings Max Adlers Arbeit noch einer wichtigen Ergänzung. Ich habe in der Neuen Zeit gelegentlich darauf hingewiesen, dass alle drei Bände des Kapitals sehr zahlreiche methodologische Bemerkungen enthalten, die, in die ökonomische Analyse eingestreut, der philosophischen Marx-Kritik bisher entgangen sind, auch von Max Adler weniger als Marx’ Jugendschriften beachtet werden. Und doch vollzieht sich gerade in diesen Bemerkungen im engsten Zusammenhang mit Marx’ wissenschaftlicher Verarbeitung des ökonomischen Tatsachenmaterials eine fortwährende Auseinandersetzung mit Hegel, in der einerseits der der Hegelschen Philosophie zugrunde liegende kritische Empirismus von seiner metaphysischen Umrahmung befreit und andererseits der Gedanke der sich ohne Bewusstsein der Beteiligten vollziehenden sozialen Gesetzlichkeit, die erst in der sozialen Erkenntnis ihrer selbst bewusst wird und durch sie den Weg zur selbstbewussten Wirksamkeit findet, immer deutlicher herausgearbeitet wird.

Doch würde, wie wir glauben, auch die nähere Analyse dieser Teile des Marxschen Werkes an dem schönen Bilde, das Adler entwirft, nichts Wesentliches ändern. Gerade als treuer Schüler und eifriger Interpret Kants war Adler wie kein anderer berufen, das grosse Erbe Hegels aus Marx’ System herauszuheben und gegen die leichtfertige bürgerliche und revisionistische Kritik festzuhalten, die sich mit Unrecht auf Kant berufen zu können wähnt, wenn sie die soziale Erkenntnis, die uns durch Marx zu einem Teil des sozialen Naturprozesses selbst geworden, diesem Naturprozess wieder als etwas ihm Fremdes, als einen blossen Massstab der Wertung gegenüberstellen will.

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Fussnote

1. Max Adler, Marx als Denker, Berlin, Vorwärts, 1908.

 


Leztztes Update: 6. April 2024