Otto Bauer

Sozialdemokratische Friedenspropaganda

(1. Dezember 1908)


Der Kampf, Jahrgang 2 3. Heft, 1. Dezember 1908, S. 102–105.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Seit der glorreichen Annexion Bosniens und der Herzegowina bringt uns jeder Tag Nachrichten, die wohl geeignet sind, die Bevölkerung Oesterreichs aus der teilnahmslosen Gleichgültigkeit aufzurütteln, die bisher die Entscheidung aller Fragen der auswärtigen Politik der unkontrollierten Willkür volksfremder Diplomaten überlassen hat. Das Schriftstück, durch das der Kaiser von Oesterreich und König von Ungarn seine Souveränitätsrechte über die seit dem Jahre 1878 okkupierten Provinzen ausgedehnt hat, hat die tatsächliche Machtstellung der Monarchie in diesen Ländern natürlich nicht zu verstärken vermocht. Die Macht der Monarchie in den beiden Provinzen stützt sich auf Mannlichergewehre und Haubitzen; papierene Rechtstitel können sie nicht stärken. Wohl aber ward die Verwandlung der tatsächlichen Macht in formales Recht nicht nur durch Zugeständnisse an Montenegro, Italien und die Türkei erkauft, die von manchen österreichischen Patrioten für nicht unbedenklich gehalten werden, sie hat auch in Serbien, Montenegro und in der Türkei eine Empörung hervorgerufen, die unserem Warenaustausch mit diesen Ländern schon schwere Wunden geschlagen und überdies die Herrschenden zu militärischen Massregeln gezwungen hat, die Tausenden junger Männer schwere persönliche Opfer auferlegen. Und noch wissen wir nicht, ob der von den Patrioten so laut gerühmte Vorstoss der gemeinsamen Regierung in seinen weiteren Folgen uns nicht noch weit schwerere Opfer auferlegen wird. Der Sozialdemokratie erwächst daraus heute die Pflicht, den Problemen der auswärtigen Politik erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken.

Es ist gewiss, dass die auswärtige Politik der Sozialdemokratie sich nicht für alle Zeiten und nicht unter allen Bedingungen die Erhaltung des Friedens zum Ziele setzen kann. Aber dass die Verteidigung des Völkerfriedens eine, wenn auch keineswegs die einzige Aufgabe unserer Politik ist, mag dieses Ziel auch unter bestimmten Umständen höheren Zielen geopfert werden müssen, unterliegt gewiss keinem Zweifel. Nur von den Methoden unserer Friedenspolitik, nicht von ihrer Begrenzung durch andere höhere Ziele soll heute die Rede sein.

In den letzten Jahren haben insbesondere unsere französischen Genossen die Mittel und Wege sozialdemokratischer Friedenspolitik lebhaft erörtert. Auf der einen Seite wurde die Frage zur Diskussion gestellt, ob die Arbeiterschaft durch eine revolutionäre Erhebung, durch den Generalstreik und die organisierte Fahnenflucht, den Ausbruch eines Krieges verhindern könne und solle. Auf der anderen Seite hat man gehofft, durch den Ausbau des Völkerrechtes, durch Bündnis- und Schiedsgerichtsverträge die Gefahr kriegerischer Verwicklungen zu verringern.

Neben diesen grossen Fragen, die die französischen Sozialisten der Internationale gestellt haben, wurde in der deutschen, italienischen und englischen Parteipresse ein an sich viel kleineres und unscheinbares Problem erörtert, das aber in unserer heutigen Lage, zumal in Oesterreich, uns dringender und wichtiger erscheint als jene grossen Fragen der Zukunft: wir meinen die Frage, in welcher Weise die Wortführer der Arbeiterschaft in der Presse und in den parlamentarischen Körperschaften am wirkungsvollsten imperialistischer Kriegshetze entgegenwirken können.

Die Sozialdemokratie steht im Gegensatz zu den imperialistischen Tendenzen aller Staaten. Der deutsche Sozialdemokrat sieht nicht nur in der planlosen, alle Staaten beunruhigenden Weltpolitik des Deutschen Reiches, sondern auch in dem zähen und klugen britischen Imperialismus, der Österreichische Arbeiter nicht nur in dem juristischen Kretinismus Aehrenthals, der der bedeutungslosen Aenderung einer leeren Rechtsform unsere Sicherheit geopfert hat, sondern auch in der selbstmörderischen Kriegshetze serbischer Chauvinisten eine Bedrohung des Friedens. Aber seit Jahrzehnten war es eine selbstverständliche und unbestrittene Regel unserer Taktik, die Friedensstörer aller Länder in der Weise zu bekämpfen, dass die Sozialdemokraten überall ihre Angriffe gegen die Friedensstörer ihres eigenen Landes, ihrer eigenen Nation richten.

Uns Oesterreichern ist die Notwendigkeit einer solchen Taktik aus den inneren nationalen Kämpfen unseres Landes längst bekannt. Es scheint uns selbstverständlich, dass nur die deutschen Arbeiter den deutschen, nur die tschechischen Arbeiter den tschechischen Chauvinismus bekämpfen und besiegen können. Würde zum Beispiel ein tschechisches sozialdemokratisches Blatt den Kampf gegen den deutschen Chauvinismus sich zur Aufgabe machen, dann würde es zwar den Nationalismus der deutschbürgerlichen Parteien nicht treffen, der ja nur von Deutschen, nur innerhalb des deutschen Volkes mit Erfolg bekämpft werden kann, es würde den deutschen Nationalisten nicht einen Wähler abspenstig machen, aber es würde den tschechischen Chauvinismus stärken, der ja aus den Schilderungen der nationalistischen Tendenzen der Deutschen den besten Teil seiner Kraft schöpft, und den Kampf der deutschen Genossen gegen die deutschen Chauvinisten erschweren. So scheint es uns selbstverständlich, dass die Sozialdemokraten jeder Nation nicht durch Angriffe gegen die Nationalisten der anderen Völker, sondern im Kampfe gegen die Chauvinisten der eigenen Nation für den nationalen Frieden wirken müssen.

Was in den inneren nationalen Kämpfen in Oesterreich richtig ist, gilt aber auch von den grossen Kämpfen der Staaten und Nationen auf der Weltbühne.

Gewiss birgt diese Methode die Gefahr der einseitigen Uebertreibung in sich. Zunächst dürfen wir nie vergessen, dass die Verteidigung des Friedens überhaupt nicht das einzige, auch nicht das höchste Ziel unserer auswärtigen Politik ist. Schon diese Erwägung setzt dem Kampfe gegen Krieg und Kriegshetze eine Grenze. Bebel hat in seinen grossen Anklagereden gegen die Weltpolitik des Deutschen Reiches doch stets erklärt, dass die deutsche Arbeiterklasse, so feindlich sie auch allen Eroberungsgelüsten des deutschen Imperialismus gegenübersteht, doch stets ihre nationale Pflicht erfüllen wird, wenn dem deutschen Volke die Gefahr der Fremdherrschaft droht oder wenn das Reich die Volksmassen zum Verteidigungskrieg gegen den völkermordenden Zarismus ruft. Aber auch dann, wenn die Sozialdemokratie nichts als die Erhaltung des Friedens erstrebt und darum mit gutem Recht ihre Angriffe vorzugsweise gegen die Kriegshetzer innerhalb der eigenen Nation richtet, darf sie ihre Angriffe gewiss nicht dem Spott der Gegner aussetzen, indem sie die Lügen und Uebertreibungen, deren sich die Jingopresse der anderen Länder bedient, ungeprüft verbreitet und so im allzu hitzigen Kampfe gegen den unmittelbaren Gegner dem ferneren Feinde, den Nationalisten der anderen Länder, unfreiwillig Unterstützung bringt. Wir dürfen es wohl als eine gefährliche Uebertreibung einer an sich wohlberechtigten Kampfesweise ansehen, wenn ein deutscher sozialdemokratischer Journalist die deutsche Geschichte so darstellt, als wäre die Zertrümmerung der französischen Fremdherrschaft ein nationales Unglück für die Deutschen gewesen, und wenn er für alles, was heute Europas Frieden stört, selbst für Ereignisse, die dem Deutschen Reich sehr unerwünscht gewesen sind, die Intrigen der deutschen Diplomatie verantwortlich macht.

Nicht minder gefährlich als diese Verirrung ist aber auch die Reaktion, die sie in unseren Reihen hervorruft. Weil unsere Angriffe gegen die Imperialisten unserer Nation von den Kriegshetzern in anderen Staaten missbraucht werden könnten, um die Gefährlichkeit der Politik unseres Landes zu erweisen und dadurch die den Frieden bedrohende kriegerische Stimmung in den anderen Staaten zu stärken, scheut nun mancher von uns die Angriffe gegen die Friedensstörer im eigenen Lande und meint gar, der Sache des Friedens zu dienen, wenn er das Treiben der Imperialisten seines Landes beschönigt, um dadurch die erregte Stimmung in den anderen Ländern zu beruhigen. In Wirklichkeit aber schaltet man auf diese Weise nicht nur jede Opposition gegen den Imperialismus im eigenen Lande aus, sondern erweckt auch in den anderen Staaten den Eindrude, dass in unserem Lande nun auch die Arbeiterklasse von der nationalistischen Hetze ergriffen sei und der Imperialismus allen Widerstand gebrochen und das ganze Volk zum Kampfe gegen die anderen Nationen gesammelt habe. Jaures hätte gewiss nicht der Sache des Friedens gedient, wenn er, um die Stimmung in Deutschland zu beruhigen und um nicht den deutschen Imperialisten Argumente für ihre Agitation zu liefern, Herrn Delcasse hätte ruhig schalten und walten lassen.

Darum halten wir es für einen bedauerlichen Fehler, wenn ein angesehener eng-lischer Genosse die englischen Hörer und Leser durch übertreibende Schilderungen der Gefahren des deutschen Imperialismus schreckt; es ist keineswegs rühmlich für ihn, wenn eine bürgerliche Revue schreibt, nicht die „national unverlässliche“ Labour Party, sondern die gut national – das heisst: imperialistisch – fühlende Social Democratic Party sei die Zukunft der britischen Arbeiterklasse. Ebenso falsch ist es, wenn einzelne reichsitalienische Parteiblätter durch unbesonnene Angriffe auf die Politik Oesterreich-Ungarns dem italienischen Imperialismus in die Hände arbeiten. Die reichsdeutsche Sozialdemokratie tut gewiss gut daran, wenn sie nicht den Ratschlägen jener folgt, die, um das Ausland zu beruhigen, darauf verzichten möchten, die vielleicht nicht von kriegerischen Absichten erfüllte, aber gewiss friedensstörende Wirkungen auslösende Politik Bülows vor der deutschen Oeffentlichkeit zu demaskieren und ihre Gefahren aufzuzeigen.

Auch für die österreichische Sozialdemokratie ist dieses Problem nicht ohne Bedeutung. Wohl fehlt der österreichischen Grossmachtpolitik die Kraft, die der Imperialismus in den grossen Nationalstaaten daraus schöpft, dass er stets die Sonderinteressen der Dynastien, des Militarismus und Kapitalismus in das Gewand nationaler Gesamtinteressen kleiden kann. Doch fehlt es auch hier nicht an „Patrioten“ ; und der Oesterreicher – oder doch der Deutschösterreicher – fühlt sich zu sehr als Bürger eines grossen Staates, als dass nicht die unbesonnenen Demonstrationen in Serbien und Montenegro seine Eitelkeit verletzen würden. Baron Aehrenthal, der schon zweimal Europa durch einen unvorbereiteten Handstreich verblüfft hat, wäre wohl der Mann, solche Stimmungen für eine gefährliche Prestigepolitik auszunützen. Dem entgegenzuwirken, ist unsere Aufgabe. Dass die Demonstrationen Serbiens und Montenegros unklug sind und den Frieden gefährden, ist gewiss; aber unsere Parteipresse kann wohl nicht hoffen, die Stimmung in Belgrad zu beeinflussen. Wohl aber kann sie in Oesterreich eine Stimmung erzeugen, die die Herrschenden zur Vorsicht und Zurückhaltung zwingt. Dies kann aber nicht durch verdammende Urteile über die wahnwitzige Verblendung serbischer Patrioten, sondern nur durch eine scharfe und rückhaltlose Kritik der österreichischen Politik geschehen.

Wenn die schwarzgelben Patrioten nicht mehr wissen, als dass Serbien und Montenegro kleine und arme Länder sind, die durch ihre Demonstrationen den mächtigen Nachbar reizen, so sind wir wohl verpflichtet, die österreichische Bevölkerung über die tieferen Ursachen dieser scheinbar so unbegreiflichen Politik zu belehren. Die serbische Nation ist in sechs Staatsgebiete zerrissen; nach nationaler Einheit und Freiheit zu streben, ist ihr wie jedes anderen Volkes Recht. Die beiden unabhängigen serbischen Staaten sind klein, arm, machtlos; in Grünbergs Schriften können die Patrioten nachlesen, wie Serbiens unglückliche geographische Lage es in unerträglicher Weise von dem mächtigen Nachbar wirtschaftlich abhängig macht, seine ganze ökonomische Entwicklung hoffnungslos erscheinen lässt. In Ungarn, in Bosnien, in der Türkei entbehren die Serben der primitivsten nationalen Rechte. So kann die Nation sich heute kein anderes Ziel setzen, als die Bildung eines grossen serbischen Nationalstaates, die nur im Kampf gegen Oesterreich erreicht werden kann; sei es nun, dass die Serben mit Hilfe Russlands und Englands oder dass sie im Bunde mit den anderen Balkanvölkern diesen Kampf zu bestehen hoffen. Erst wenn Oesterreich-Ungarn ein demokratischer Bundesstaat würde, der auch ein grosses autonomes serbokroatisches Gemeinwesen umschliesst, könnte die Lösung der südslawischen Frage nicht gegen, sondern durch Oesterreich möglich erscheinen. Die Herrschenden aber, die die Gewaltherrschaft der magyarischen Grundherrenklasse über serbisches Land durch das Pluralwahlrecht verewigen, die in Kroatien und Slavonien den dürftig verhüllten Absolutismus, in Bosnien die Diktatur des Militärs aufrecht erhalten, haben kein Recht, sich zu wundern und zu beklagen, dass serbische Patrioten heute im Verzweiflungskampf gegen Oesterreich ihres Volkes einzige Rettung sehen. Nicht der wohlfeile Spott über machtlose Demonstrationen, sondern die Anklage gegen die Herrschenden, die uns in diese bedrohliche Situation geführt haben, ist unsere Aufgabe. So erfüllen wir nicht nur eine Pflicht, die die höhere Einsicht in die historischen Zusammenhänge, die das Bekenntnis zu unseres eigenen Volkes Freiheit und Einheit, die schliesslich das Gebot der internationalen Solidarität uns auferlegt, so wirken wir auch der Verbreitung und Vertiefung einer Volksstimmung entgegen, die von den Herrschenden zu einem nutzlosen und gefährlichen Abenteuer missbraucht werden könnte.

Im Grunde dieser taktischen Meinungsverschiedenheit birgt sich ein tieferes und allgemeines Problem. Die Sozialdemokratie hat einerseits die Aufgabe, den schlummernden Klasseninstinkt des Proletariats zu erwecken und zu klarem Klassenbewusstsein zu entfalten ; so hat sie eine Erziehungsaufgabe innnerhalb des Proletariats zu leisten. Andererseits aber haben wir auch die Aufgabe, den Willen und die Interessen des Proletariats nach aussen, gegen seine äusseren Feinde zu vertreten. Nicht immer ist es leicht, diese beiden Funktionen zu vereinigen. Die Taktik, die der Erziehung der proletarischen Massen dient, steht zuweilen im Widerspruch zu dem Bedürfnis, die äusseren Gegner des Proletariats, den Klassenstaat und die bürgerlichen Parteien, möglichst wirksam und schnell zu beeinflussen.

Auch das taktische Problem unserer Friedenspropaganda führt uns auf diesen Zwiespalt zurück. Sichern wir den Frieden, indem wir, nach aussen wirkend, die fremden Nationen darüber belehren, dass ihr Gehaben unklug ist und dass die Beherrscher unseres Landes nicht so schlimme Pläne hegen, wie den fremden Völkern von ihren Chauvinisten erzählt wird ? Oder dienen wir wirksamer der Sache des Friedens, wenn wir die Stimmung des Proletariats im eigenen Lande zu beeinflussen streben, es zu energischer Abwehr gegen die Friedensstörer im eigenen Lande erziehen? Wir sind überzeugt, dass die Erziehungsarbeit innerhalb der proletarischen Massen, die allein unser Wort erreicht, die wirksamste Arbeit für die Sache des Friedens ist.

 


Leztztes Update: 6. April 2024