Otto Bauer

Politische Symbole

(1. Februar 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 5, 1. Februar 1909, S. 193–196.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Einem alten höfisch-parlamentarischen Brauche folgend, haben sich die Vizepräsidenten des Abgeordnetenhauses dem Kaiser vorgestellt. Was für jeden bürgerlichen Vizepräsidenten die selbstverständliche Erfüllung einer durch alten Brauch gebotenen Pflicht ist, konnte aber der sozialdemokratische Vizepräsident nicht tun, ohne einen Brauch unserer Partei zu verletzen.

Gewiss ändert die Befolgung einer höfisch-parlamentarischen Sitte nichts an unserem Wollen, der Verzicht auf eine unserer Gepflogenheiten nichts an unserer Macht. Indem der Sozialdemokratische Verband den Genossen Pernerstorfer beauftragt hat, sich der parlamentarischen Etikette zu fügen, hat er keiner Forderung unseres Parteiprogramms zuwidergehandelt, sondern nur mit einer Regel unserer Etikette gebrochen. Wir wollen den Fehler vermeiden, die Bedeutung einer Etikettefrage zu überschätzen. Trotzdem halten wir die Erörterung dieser Frage für unsere Pflicht.

Vor kurzem noch lag das Schwergewicht unserer Tätigkeit ausserhalb des Parlaments; heute ist unser Verband die zweitstärkste Partei des Abgeordnetenhauses. Er steht dort auf einem Boden, der von dem jedes anderen Parlaments völlig verschieden ist. So sind wir zum Kampfe in einer Stellung gezwungen, die weder in der Geschichte unserer Partei noch in der unserer Bruderparteien in anderen Ländern ein Vorbild hat. Die Regeln dieses Kampfes müssen wir erst in gemeinsamem Wirken erarbeiten; an dieser Arbeit teilzunehmen ist jedes denkenden Genossen Pflicht. Auch die Erörterung einer blossen Etikettefrage ist unter solchen Umständen unerlässlich, wenn sich in der Verschiedenheit der Meinungen über sie tiefer liegende Gegensätze bergen.

Dass Sozialdemokraten nicht zu Hofe gehen, ist gewiss kein Kampfmittel, sondern nur die Kundgebung einer Gesinnung. Die Unterlassung dessen, was alle bürgerlichen Politiker tun, ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Symbol. Unsere Politik ist reich an solchen Symbolen. Wir legen am 1. Mai die Arbeit nieder und ziehen an den Gedenktagen der Revolution zum Grabe ihrer Märtyrer. Wir fordern unsere Genossen auf, auch in solchen Wahlbezirken einem sozialdemokratischen Wahlwerber ihre Stimme zu geben, in denen kein Sozialdemokrat gewählt werden kann. Unsere Abgeordneten stimmen gegen das Budget und gegen das Rekrutenkontingent, obwohl sie wissen, dass ihr Votum die Einhebung der Steuern und die Einberufung der Rekruten nicht verhindern kann. Wir streben nicht die Ernennung eines Parteigenossen zum Minister an, obwohl ein Sozialdemokrat im Ministerium den Arbeitern vielleicht manchen Vorteil bringen, gewiss manche Schädigung ihrer Interessen verhindern könnte. Wir beteiligen uns nicht an Huldigungsfeierlichkeiten und bewerben uns nicht um Titel, Orden und Ehrenzeichen. Wir bitten nicht um die Begnadigung von Parteigenossen, die der Klassenjustiz Opfer geworden sind. Alle diese Handlungen und Unterlassungen sind an sich gänzlich ungeeignet, unsere politische Macht unmittelbar zu erweitern oder unsere wirtschaftliche Lage unmittelbar zu verbessern. Sie sind keine Kampfmittel. Wohl aber bekundet sich in ihnen eine Gesinnung. Sie sind politische Symbole. Das ganze Bild unseres politischen Lebens würde völlig verändert, wenn wir auf diese Symbole verzichten wollten.

In den ersten Anfängen der Arbeiterbewegung ist die erwachende Arbeiterschaft von revolutionärem Instinkt erfüllt, der sich allmählich zu klarer Erkenntnis des allseitigen Gegensatzes entwickelt, in dem wir zur kapitalistischen Gesellschaft und zum kapitalistischen Klassenstaat stehen. Die Arbeiterschaft hat das Bedürfnis, ihr Verhältnis zu den ihr feindlichen Herrschaftsorganisationen in ihrem Verhalten auszudrücken und im Verhalten ihrer Wortführer ausgedrückt zu sehen. Darum hat sie gewisse Regeln dieses Verhaltens von der bürgerlichen Demokratie übernommen, andere allmählich selbst ausgebildet. Diese Regeln bilden nun einen Bestandteil unserer Tradition, in ihnen birgt sich ein Stück unserer Geschichte. Wer sie nicht beachtet, muss fürchten, den Argwohn zu erwecken, dass er nicht mehr von jenem Bewusstsein erfüllt sei, das in den überlieferten symbolischen Handlungen und Unterlassungen anschaulichen Ausdruck sucht. Mag solcher Argwohn auch unberechtigt sein, so wäre sein Auftauchen doch gewiss eine ernste Gefahr; eine doppelt grosse Gefahr nach gewaltigen Siegen, da das Misstrauen, ob der Starke und Erfolgreiche erfüllen wird, was der Schwache und Verfolgte verheissen hat, in vielen Volksschichten leicht erweckt werden kann. Die Regeln unseres Verhaltens, die man höhnisch die sozialdemokratische Etikette nennt, sind aus dem revolutionären Empfinden erwachsen; ihre Missachtung kann das revolutionäre Empfinden der Massen verletzen, deren Willen zu vollziehen unsere Aufgabe ist.

Vor einigen Jahren hat Genosse Viktor Adler vor Wiener Arbeitern einen Vortrag über den „Fall Millerand“ gehalten. Adler gab zu, dass der Eintritt eines Sozialdemokraten in die Regierung der Arbeiterschaft manchen wirtschaftlichen Vorteil bringen könne. Er sprach aber auch von der Gefahr, dass die zur Regierungspartei gewordene Sozialdemokratie vor den proletarischen Massen verantwortlich erscheinen könnte für den bürgerlichen Klassenstaat, der auch dann den Forderungen der Arbeiterklasse nicht zu entsprechen vermag, wenn er einen ihrer Vertreter an seiner Regierung teilnehmen lässt. Mag sein, dass unserer Politik mancher Einzelerfolg entgeht, weil dieses Empfinden der Arbeiter es ihren Vertretern erschwert, ihnen unmittelbare soziale Errungenschaften heimzubringen. „Aber,“ so löste Adler damals das Problem, „ich will lieber mit den Arbeitern irren, als gegen sie recht haben.“ Die Partei der Arbeiter kann das Proletariat nicht im Widerspruch zu seinem Empfinden zu seinem Ziel führen; sie kann nur mit Waffen, die seiner Klassenideologie entsprechen, für seine Klasseninteressen kämpfen. Dass dieser Satz eine der ersten Regeln sozialdemokratischer Taktik ausdrückt, dass ihre Verletzung die grössten Gefahren heraufbeschwört, beweist die Geschichte der französischen Arbeiterbewegung seit dem „Fall Millerand“.

Wir geben zu, dass die österreichische Bevölkerung für Fragen der Etikette weit weniger Sinn und Interesse hat als die manches anderen Landes. Auch ist es gewiss, dass die österreichische Arbeiterklasse keinen Groll gegen den greisen Monarchen hegt. Darum war hier möglich, was im Deutschen Reich an dem Widerstand der überwiegenden Mehrheit der Parteigenossen gescheitert ist. Der Sozialdemokratische Verband kann gewiss besser als jede andere Körperschaft beurteilen, ob das Empfinden der Arbeiterklasse durch sein Vorgehen oder das Vorgehen eines seiner Mitglieder verletzt wird. Dass er diese Frage erörtert hat, unterliegt keinem Zweifel. Seiner Entscheidung wird gewiss kein Parteigenosse Achtung versagen. Und wenn wir auch glauben, dass ein Abweichen von dem, was die Parteigeschichte uns als Regel unseres Verhaltens überliefert hat, auch dann schon bedenklich ist, wenn es auch nur das Empfinden eines Teiles der Arbeiterklasse verletzt, so hoffen wir doch, dass der Verband die Denkweise der Arbeiter richtig beurteilt hat und dass die Arbeiter nicht verkennen werden, dass sich an unserer Gesinnung nichts geändert hat, wenn wir auch auf ihre Bekundung in einem einzelnen Falle verzichtet haben.

Aber der Verzicht auf ein politisches Symbol ist darum doch nicht unbedenklich. Denn die symbolischen Handlungen und Unterlassungen, in denen unsere Begriffe vom bürgerlichen Staate in Erscheinung treten, sind nicht nur aus dem Bewusstsein der Arbeiterklasse erwachsen, sie sind auch selbst Mittel zur Erziehung der proletarischen Massen.

In revolutionären Epochen tritt der Charakter unserer Partei anschaulich hervor; in solchen Zeiten bedürfen wir keiner Symbole. In Zeiten ruhiger Entwicklung dagegen können wir kein Ziel erstreben, das nicht neben uns auch bürgerliche Parteien mit denselben Mitteln, wenn auch vielleicht mit geringerer Entschiedenheit erstreben würden. Dass der Charakter unserer Partei von dem aller bürgerlichen Parteien völlig verschieden ist, zeigt sich nur in der theoretischen Bewertung des augenblicklichen Kampfzieles: darin, dass die bürgerlichen Parteien als Reform des bürgerlichen Staates erstreben, was uns nur ein Mittel des Klassenkampfes ist, der über den bürgerlichen Staat hinausführt. Aber dieser begriffliche Unterschied muss in Symbolen anschaulich werden, um in das Bewusstsein der Massen einzugehen. Darum ist es kein Zufall, dass in allen Ländern gerade die Marxisten sich so schwer entschliessen, auf eines der uns überlieferten Symbole zu verzichten, obwohl Karl Marx gewiss alles eher gewesen ist als ein Zeremonienmeister der Revolution: wer sich die Erziehung der Massen zur Erkenntnis der Klassengegensätze zur Aufgabe macht, wer die scharfe Scheidung der Klassenpartei des Proletariats von allen bürgerlichen Reformparteien fordert und über dem Kampf um die kleinen Aufgaben des Tages das grosse Ziel der Zukunft nicht vergessen will, wird nicht leichtfertig auf ein Symbol verzichten, in dem anschaulich, den Volksmassen sichtbar in Erscheinung tritt, was sonst nur in Begriffen lebt: dass eine grosse geschichtliche Bestimmung uns vom bürgerlichen Staat und allen bürgerlichen Parteien scheidet. Die Veranschaulichung dieses Wesens der Sozialdemokratie ist die Erziehungsfunktion unserer politischen Symbole.

Ich glaube, dass wir gerade in Oesterreich auf kein Mittel zur Erziehung der proletarischen Massen leichten Sinnes verzichten können. Denn die Erziehung der Massen zu sozialdemokratischem Denken wird hier durch das Wesen und die Formen der politischen Kämpfe erschwert. Wohl bedeutet uns dieser Staat noch viel weniger als jeder andere Staat dem Proletariat, das er beherrscht. Der Nationalstaat ist als Klassenstaat der Arbeiterklasse Feind: fällt die Klassenherrschaft, so bleibt er doch als nationales Gemeinwesen bestehen. Die „im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder“ dagegen sind nicht die Verkörperung einer realen Gemeinschaft; sie bestehen nur dank der Trägheit alles historisch Gewordenen und werden einst der umwälzenden Kraft der Geschichte weichen. Es gibt eine deutsche, eine französische, eine spanische, aber keine österreichische Sozialdemokratie, sondern nur eine „sozialdemokratische Arbeiterpartei in Oesterreich“. Nicht ohne Absicht drückt schon der Name unserer Partei aus, dass dieser Staat nicht die Erfüllung unseres Staatsprinzips, sondern nur der reale Boden unseres Kampfes ist. Aber im politischen Alltagsleben wird dieser Gegensatz nicht offenbar. Als internationale Partei stehen wir hier den nationalen Bourgeoisien gegenüber; und neben uns tritt im politischen Kampfe nur noch eine internationale Macht auf: der Staat. Der Gegensatz gegen den nationalen Chauvinismus eint uns hier oft mit dem Staate. Was uns im Ziele von diesem Staate trennt, bringt uns ihm im Kampfe näher. Oft erscheinen wir den Volksmassen als das, was wir nicht sind, nicht sein können: als die Bundesgenossen des Staates gegen die durch die Bourgeoisien vertretenen Nationen. Je schärfer wir in Erfüllung unserer Pflicht den internationalen Charakter unserer Partei betonen, je weiter wir uns, unserem Programm entsprechend, vom bürgerlichen Nationalismus entfernen, desto leichter können wir als die Verbündeten oder gar als die Sachwalter des Staates erscheinen. Dass wir im Kampfe gegen diesen Klassenstaat stehen, tritt viel weniger deutlich in Erscheinung als im Nationalstaat, der sich den proletarischen Massen Tag für Tag als die Herrschaftsorganisation der nationalen Bourgeoisie offenbart. Wir sind durch die Eigenart des Geländes, auf dem vorzurücken wir berufen sind, zu einer Kampfesweise gezwungen, die das Wesen unserer Partei sehr oft nicht anschaulich genug hervortreten lässt. Daraus ist wohl zu erklären, dass unsere Vertreter auch vor dem Ungewöhnlichen nicht zurückschrecken: sie haben so oft das Ungewöhnliche als vernünftig und notwendig erkannt, dass sie nun geneigt sind, für vernünftig und notwendig zu halten, was ungewöhnlich ist. Ist darum ihr Irrtum begreiflich, so ist er hier doch doppelt schädlich. Zu Kampfesmethoden gezwungen, die unsere Erziehungsaufgaben erschweren, dürfen wir ohne Not auf kein Erziehungsmittel, auf kein Symbol verzichten, das sich der Phantasie der Menschen einprägt und ihre Vorstellungen über das Wesen und Ziel unserer Partei gestaltet. Wer auf solche Symbole leichtfertig verzichtet, erschwert die Erziehung der proletarischen Massen.

Dass aber zwingende Notwendigkeit den Verzicht auf eines dieser Symbole geboten hat, kann niemand ernsthaft behaupten. In einem Parlament, in dem die natio-nalen Gegensätze eine Geschäftsordnung verewigen, die auch der Minderheit gewaltige Machtmittel gibt, bedürfen wir der kleinen und fragwürdigen Hilfe von Zeremonien nicht, um unserer Vertretung dieselben Rechte zu sichern, die jede andere Partei geniesst.

Erst seit zwei Jahren konzentriert sich unsere politische Tätigkeit im Parlament. Wir müssen es erst lernen, den parlamentarischen Kampf organisch unserer Gesamtbewegung einzugliedern. Jede parlamentarische Fraktion hat das Bedürfnis, als eine Fraktion wie die bürgerlichen Fraktionen zu erscheinen; überall regen sich in den sozialdemokratischen Fraktionen die Stimmen, die uns mahnen, dieselben Pflichten wie alle anderen Parteien auf uns zu nehmen, um auch dieselben Rechte wie die anderen Parteien zu geniessen. Aber diesem Bedürfnis der Fraktion widerstreitet das Bedürfnis der Partei, die von allen bürgerlichen Parteien wesensverschieden ist und wesensverschieden erscheinen will. Und wie die Bedürfnisse unserer Gewerkschaften, unserer Genossenschaften, unserer Krankenkassen, unserer Erziehungsarbeit, unserer Presse, so müssen auch die Bedürfnisse unserer parlamentarischen Aktion in den Bedürfnissen der proletarischen Gesamtbewegung ihre Grenze finden. Darum dürfen wir nicht um parlamentarischer Bedürfnisse willen beirren, was die tiefste Wurzel unserer Kraft, die reichste Quelle des Vertrauens, der Treue und des Opfermuts unserer Genossen ist: die Ueberzeugung der proletarischen Massen, dass wir im unversöhnlichen Kampfe gegen die Grossen und Mächtigen dieser Welt die leidende Menschheit emporführen werden zu ihrer Befreiung.

 


Leztztes Update: 6. April 2024