O. B.

Bücherschau

Marx-Literatur

(1. Mai 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 8, 1. Mai 1909, S. 380–381.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das von uns schon im vorigen Jahre (Kampf, I., Seite 287) besprochene Buch des Genossen Boudin Das theoretische System von Karl Marx ist in deutscher Uebersetzung erschienen. (Verlag Dietz, Stuttgart.) Wer Marx’ theoretische Lehren bereits kennt und sich nun über die Auseinandersetzung der Marxschen Schule mit ihren bürgerlichen und revisionistischen Gegnern unterrichten will, dem wird Boudins Buch die besten Dienste leisten.

Sombart hat schon in seinem bekannten Büchlein Sozialismus und soziale Bewegung die Frage zu beantworten versucht, was Marx für die soziale Bewegung unserer Zeit bedeutet. Im 27. Band des Archivs für Sozialwissenschaft hat er die Frage gestellt, worin die Bedeutung Marxens für die soziale Wissenschaft zu suchen sei. Er hält beide Abhandlungen für bedeutend genug, um sie nun, mit einigen Abänderungen und Ergänzungen in einer Broschüre unter dem Titel Das Lebenswerk von Karl Marx (Verlag Fischer, Jena) vereinigt, nochmals herauszugeben.

Der sozialen Bewegung hat Marx das notwendige Ziel und die Wege zum Ziele gewiesen. Aber nicht diese realen, sondern fiktive Werte erklären die Sieghaftigkeit seiner Lehre: so die Arbeitswerttheorie, die von seinen Gläubigen als Verurteilung der Ausbeutung missverstanden wurde; der vermeintliche Nachweis, dass das heissersehnte Ziel zugleich unvermeidliches Entwicklungsprodukt sei; die revolutionäre Schwungkraft seiner Darstellungsweise. („Das ist ein herrliches Bum! Bum! und Tschingdara! wie es sich der blutrünstige revolutionäre Jüngling und die hysterische revolutionäre Jungfrau nicht schöner wünschen kann,“ sagt Sombart vom Kommunistischen Manifest.)

Sind das in der Tat „fiktive Werte“? Sombart macht keinen Versuch, Marxens Lehrsätze ernsthaft zu widerlegen; er sucht nur den Leser von ihrem konkreten Inhalt abzulenken. Er knüpft zu diesem Zwecke an Windelbands und Rickerts Unterscheidung der Gesetzeswissenschaften und der im engsten Sinne historischen Wissenschaften an. Zu einer sozialen Gesetzeswissenschaft habe Marx nichts Dauerndes beigetragen. So sei zum Beispiel sein Wertgesetz bestenfalls ein nützliches heuristisches Prinzip. (Das Wertprodukt des Jahres 1909 verhält sich zum Wertprodukt des Jahres 1908 wie die Menge der im Jahre 1909 zur Menge der im Jahre 1908 aufgewendeten gesellschaftlichen Arbeit, – dieser Satz kann wahr oder falsch, er kann aber nicht ein „heuristisches Prinzip“ sein.) Marx’ Bedeutung für die Sozialwissenschaft liege also auf historischem, nicht auf gesetzeswissenschaftlichem Gebiete: „Er entdeckte die Subjekte des Kapitalismus: die ,eminent Spinners‘, die ,extensive sausage makers‘ und die ‚influential shoe black dealers‘.“ So gelingt es dem Herrn Professor, aus dem Kapital ein schöngeistiges Feuilleton zu machen und aus Marx eine Art – Sombart.

Herr Professor Sombart hat sich durch seine älteren Schriften grosse Verdienste um den Ausbau und die Popularisierung der Wirtschaftslehre erworben. Aber je älter er wird, desto mehr kommt der begabte Mann der Neigung der Halbgebildeten entgegen, die so gern über die ernstesten und schwierigsten Probleme im leichten Plauderton sprechen hören. Marx mit Zola verglichen – wie interessant, wie interessant! Wer aber ernste Probleme ernsthaft studieren will, muss vor solchen Feuilletons gewarnt werden.

Weiss Sombart selbst dem armseligsten Gedankensplitterchen durch die Kunst seiner Darstellung den Anschein einer tief dringenden Erkenntnis zu geben, so hat Georg v. Charasoff den richtigen Grundgedanken seines Buches Karl Marx über die menschliche und kapitalistische Wirtschaft (Verlag Hans Bondy, Berlin) durch seine unglückliche Darstellungsweise bis zur Lächerlichkeit verzerrt. Charasoff hebt aus dem Kapital den Gedanken heraus, dass die kapitalistische Produktionsweise, so sehr sie auch die Ergiebigkeit der menschlichen Arbeit steigert, dennoch schliesslich zu einem Hemmnis ihrer weiteren Steigerung wird, dass sie uns das technisch mögliche Maximum der Produktivität nicht erreichen lässt. Ist es auch unrichtig, dass Marx nur die Grösse, nicht die Verteilung des Reinertrages der Volkswirtschaft interessiere, so ist doch der von Charasoff herausgehobene Gedankengang gewiss einer der Grundsteine der Marxschen Oekonomie. Charasoff zeigt, dass der Kapitalismus Arbeit ersparende, also die Produktivität steigernde Arbeitsmethoden nicht anwenden kann, wenn ihre Kosten grösser sind als der zu ersparende Wert der Arbeitskraft, obgleich geringer als der Wert der zu erzeugenden Ware, dass also der technische Fortschritt, die Einführung mancher Arbeit ersparenden Produktionsmethoden durch die Tatsache gehemmt wird, dass der Kapitalist nur einen Teil der aufgewendeten Arbeit, nur die notwendige, nicht die Mehrarbeit bezahlt. Diese Tatsache ist gewiss das grundlegende und allgemeinste Hindernis der technischen Entwicklung in der kapitalistischen Produktionsweise. Freilich gibt es ausser ihr noch andere, die Charasoff nicht erwähnt ich habe sie in meiner Nationalitätenfrage aufzuzählen versucht. (Marx-Studien, II., Seite 95 ff.; Sonderausgabe Seite 82 ff.)

Diesen richtigen Grundgedanken stellt aber Charasoff so ungeschickt als nur möglich dar. Er fasst nämlich die politische Oekonomie nicht als eine Wissenschaft auf, die unter Gesetzen begreift, was im Wirtschaftsleben geschieht, sondern als eine Kunstlehre, die den Menschen rät, wie sie wirtschaften sollen, um das technisch mögliche Maximum der Produktivität der Arbeit zu erreichen. Sein Wertgesetz lautet also: Soll eine Wirtschaft des technischen Fortschritts fähig sein, so müssen in ihr die Geldpreise die in den Waren verkörperte Arbeit messen. Seine Kritik des Kapitalismus: Die kapitalistische Produktion ist nicht rationell, weil sie nicht mit der ganzen Arbeithaushalt, sondern nur über den im Lohn bezahlten Teil der Arbeit Buch führt. Gesellschaftlich betrachtet, ist der Profit – ein Rechenfehler, die Lohnarbeit – eine falsche Buchführung über die Kosten des Haushalts. Seine Entwicklungstendenzen: Die Arbeiterklasse wird über die Kapitalistenklasse siegen, nicht weil es die Moral verlangt, nicht weil die Verteilung des Wirtschaftsertrages ungerecht ist, sondern weil das Proletariat die einzige Klasse ist, welche die richtige Buchführung, die wissenschaftlich genaue Arbeitsbilanz verwirklichen kann. All das ist, wenn auch nicht, wie Charasoff meint, der ganze Marx, so doch ein wesentlicher Bestandteil der Marxschen Lehre, aber so unbeholfen als nur möglich ausgedrückt. Aber wir gestehen, dass uns die ungeschickte, aber ernste Darstellung eines richtigen und wichtigen Gedankens immer noch lieber ist, als noch so geistreiche Feuilletons, die, allen Ernstes bar, über alle Schwierigkeiten grosser Probleme hinübertänzeln.

 


Leztztes Update: 6. April 2024