O. B.

Bücherschau

Nationalitätenfrage

(1. Juni 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 9, 1. Juni 1909, S. 431–432.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Dr. Michael Hainisch hat in seiner bekannten Schrift Die Zukunft der Deutschösterreicher auf Grund der Bevölkerungsstatistik der Jahre 1881 bis 1883 bewiesen, dass die Ueberflutung des deutschen Siedlungsgebietes in Oesterreich mit fremdsprachigen Einwanderern auf den ausserordentlich kleinen natürlichen Bevölkerungszuwachs der deutschen Bevölkerung zurückzuführen ist. Hainisch hat nun dieselbe Berechnung auf Grund der Bevölkerungsstatistik der Jahre 1901 bis 1903 wiederholt und ihre Ergebnisse nebst verschiedenen interessanten Ergänzungen unter dem Titel Einige neue Zahlen zur Statistik der Deutschösterreicher (Wien, Deuticke) veröffentlicht. Das Ergebnis dieser Untersuchung ist für das Deutschtum in Oesterreich sehr erfreulich.

„In den Achtzigerjahren verhielt sich der Geburtenüberschuss des deutschen Gebietes zu dem d++es tschechischen wie 5,17 zu 10,09; der letztere war also doppelt so gross als der erstere. Zu Beginn des jetzigen Jahrhunderts war das Verhältnis das von 9,58 : 11,88 oder das von etwas mehr als 4 : 5.“

Diese günstige Entwicklung zeigt sich fast in allen Reichsteilen: in Steiermark, in Kärnten, in Tirol, insbesondere aber in den Sudetenländern.

„In den Sudetenländem ist der Unterschied zwischen dem Geburtenüberschuss des deutschen und dem des slawischen Gebietes ein geringfügiger geworden. Er wäre ganz verschwunden, wenn nicht das westliche Schlesien und der angrenzende Teil Nordmährens populationistisch recht ungünstige Erscheinungen zeigten.“

„Der Geburtenüberschuss der Deutschösterreicher war in den letzten Jahren so gross, dass er nahe an den seiner Nachbarvölker heranreichte. Langsam, aber stetig ist er angestiegen, so dass die Vorstellung von einer Hochflut, die über die Sprachgrenzen hinüber unser gesamtes deutsches Gebiet zu überschwemmen droht, weil die Volksvermehrung unserer Nachbarn um vieles grösser ist als unsere eigene, von Jahr zu Jahr mehr ihre Richtigkeit einbüsst.“

Die Verringerung des Unterschiedes zwischen den Geburtenüberschüssen zeigt auch, dass die Geburtenhäufigkeit und die Sterblichkeit nicht auf unveränderliche Rasseneigentümlichkeiten, sondern auf beeinflussbare soziale Verhältnisse zurückzuführen sind. Diese Erkenntnis zeigt den Deutschösterreichern das Ziel einer wahrhaft nationalen Politik.

„Es ist nicht gerade ein Zeichen der höheren Kultur, auf die sich die Deutschösterreicher so gern viel zugute tun, wenn nicht nur Deutschböhmen und Deutschmähren, sondern auch Deutschsteiermark und Deutschkärnten höhere Sterblichkeitsraten haben, als die angrenzenden slawischen Gebiete ... Die relativ hohe Sterblichkeitsrate einzelner deutscher Gebietsteile gibt uns einen Wink, wo einzusetzen sein wird, um ein Sinken der deutschen Zuwachsrate aufzuhalten.“

Sehr interessant sind die Zahlen, die Hainisch zur Darstellung der nationalen Zusammensetzung der Wiener Bevölkerung benützt.

„Der Anteil der in den Sudetenländem Geborenen an der Wiener Bevölkerung hat sich seit einem halben Jahrhundert nur wenig geändert. Die Zuwanderung ist alt, geändert hat sich nur das nationale Selbstbewusstsein der Einwanderer.“

Hainisch glaubt, dass die dadurch erschwerte Eingliederung der Einwanderer in die deutsche Kulturgemeinschaft durch den Ausbau der kommunalen Kinder- und Jugendfürsorge und der Volksbildungsinstitutionen am wirksamsten gefördert werden könne.

So zeigt die kleine Schrift an einer Fülle lehrreicher Zahlen, dass sich in den nationalen Verschiebungen soziale Probleme bergen. Wir empfehlen unseren Genossen dringend das Studium der nur drei Bogen umfassenden Arbeit; sie werden aus ihr wertvolle Argumente für den Kampf um den Ausbau der sozialen Gesetzgebung und sozialen Verwaltung und für die Widerlegung der Vorurteile schöpfen, aus denen der deutsche Nationalismus immer noch den grössten Teil seiner Kraft zieht.

Wie wenig die Deutschnationalen die wahren Ursachen der nationalen Verschiebungen kennen, beweist eine Broschüre des unseren deutschmährischen Genossen bekannten Herrn Josef Hoyer: Deutsche und Tschechen im Kampfe für ihr Volkstum. (Hans Lustenöder, Zittau i. S.) Von den sozialen Problemen, in denen die nationalen wurzeln, hat der „Wanderlehrer“ des Bundes der Deutschen Nordmährens kaum eine Ahnung; werden soziale Fragen von ihm überhaupt gestreift, so nur in einem recht antisozialen Sinne: Herr Hoyer meint, dass der Unternehmer den „Mäulern“ der Arbeiter „das Brot gebe“ (Seite 26), also auch „seinen“ Arbeitern vorschreiben dürfe, wie sie wählen, welche Umgangssprache sie bei der Volkszählung angeben und in welche Schulen sie ihre Kinder schicken sollen. (Seite 25.) Wer über soziale Dinge so rückständig denkt, dem löst sich natürlich das ganze nationale Problem in jene Wettkämpfe der Schutzvereine an der Sprachgrenze auf, die ja gewiss nicht ganz bedeutungslos sind, an dem Machtverhältnis der Nationsgesamtheiten aber, wie insbesondere Rauchberg gezeigt hat, so gut wie gar nichts ändern. In seiner Besprechung dieser Kämpfe wird Hoyer zu einem begeisterten Lobredner der Tschechen, die für ihre Schutzvereine angeblich die grössten Opfer bringen, zu einem Ankläger des deutschen Volkes, das für sein Volkstum keine Opfer bringen wolle. Herr Hoyer wird wohl ein wenig übertreiben; aber manche der Geschichten, die er erzählt, sind doch recht interessant; so zum Beispiel die von jenem grossen Sängerfest in Aussig, dessen von völkischem Hochgefühl erfüllte Besucher für völkische Zwecke einen Betrag von – Kr. 39,55 gespendet haben! Die deutschnationale Bourgeoisie, die die Arbeiter des Volksverrates zu beschuldigen wagt, hat für nationale Zwecke kaum ein paar Heller übrig! Herr Hoyer zeigt das an manchem lehrreichen Beispiel. Wer deutschvölkische Worte mit deutschvölkischen Taten vergleichen will, wird in seiner Broschüre schätzbares Material finden.

 


Leztztes Update: 6. April 2024