Otto Bauer

Der Kampf gegen die Schuldknechtschaft

(1. Juni 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 9, 1. Juni 1909, S. 396–402.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In der alteren sozialistischen Literatur kehren die Klagen über die furchtbare Belastung des bäuerlichen Grundbesitzes durch drückende Hypothekarschulden und die Versuche, Mittel zur Beseitigung der bäuerlichen Schuldknechtschaft zu finden, immer wieder. Der französische Sozialist Vidal hat zuerst die allgemeine Zwangskonversion der Grundschulden gefordert. Die Argumente des deutschen Sozialisten Rodbertus beherrschen heute noch die Diskussion des Problems. Aber der moderne proletarische Sozialismus ist von dem älteren Allerweltssozialismus, in dem noch die Forderungen aller im Klassenkampf gegen die Bourgeoisie stehenden Klassen zusammenflossen, wesensverschieden. Er muss auch dieses Problem unter dem Gesichtswinkel des proletarischen Befreiungskampfes betrachten. Für die österreichische Sozialdemokratie ist das Problem durch die Wahl eines Bodenentschuldungsausschusses im Abgeordnetenhaus aktuell geworden.

In Oesterreich ist der bücherliche Lastenstand im „sonstigen Besitz“ (im Gegensatz zum landtäflichen, bergbücherlichen und städtischen Besitz) von 2.800 Millionen Kronen im Jahre 1868 auf 5.600 Millionen im Jahre 1906 gestiegen. Der Ueberschuss der jährlichen Neubelastung über die bücherlich durchgeführte Entlastung betrug in jedem der letzten Jahre 200 Millionen Kronen. In Wirklichkeit ist die Schuldenlast des bäuerlichen Besitzes wohl viel kleiner. Der „sonstige Besitz“ umfasst ja nicht nur Bauernland, sondern auch sehr viele Fabriksanlagen, Hotels, Kurhäuser, Villen, Wohnhäuser. Die Statistik vermag die Verringerung der Schuldenlast durch die Leistung von Annuitätenzahlungen nicht zu erfassen. Viele bereits getilgte Forderungen werden in den Grundbüchern nicht gelöscht. Kautionshypotheken, die gar nicht oder nur teilweise benützt wurden, werden mit ihrem Höchstbetrag eingestellt. Simultanhypotheken werden oft wiederholt gezählt. Trotzdem unterliegt es keinem Zweifel, dass auf dem bäuerlichen Grundbesitz eine schwere, alljährlich wachsende Schuld lastet, deren Zinsen gewiss einen nicht geringen Teil des bäuerlichen Wirtschaftsertrages verzehren.

In England gehört der Grund und Boden dem Grundherrn, der ihn Pächtern zur Bewirtschaftung übergibt; der Pächter lässt den Boden von Lohnarbeitern bestellen. Der Grundherr bezieht in der Gestalt des Pachtzinses die Grundrente, der Pächter den Profit, der Arbeiter den Arbeitslohn. Die Rente ist das Einkommen aus dem Grundbesitz, der Profit aus der landwirtschaftlichen Unternehmung, der Arbeitslohn aus der Verwertung der Arbeitskraft. Der Bauer dagegen ist Grundbesitzer, Unternehmer und Arbeiter in einer Person. In seinem Wirtschaftsertrag sind also Rente, Profit und Lohn vereinigt. Aber aus diesem Ertrag muss er den Gläubigern die Schuldzinsen bezahlen.

Ist die Zinsenlast so gross, dass der Landwirt die ganze Grundrente an seine Gläubiger abführen muss, dann ist er, obwohl juristisch Eigentümer des Bodens, doch wirtschaftlich des Einkommens aus dem Bodenbesitz beraubt. Der Bauer ist zwar nicht juristisch, wohl aber ökonomisch enteignet, in die Stellung des Pächters hinabgedrängt.

Steigt die Zinsenlast noch weiter, so dass sie neben der Rente auch den Profit verzehrt, dann ist der Bauer, obwohl er rechtlich in der Stellung des selbständigen Unternehmers bleibt, wirtschaftlich doch des Unternehmergewinnes beraubt und auf seinen Arbeitslohn angewiesen. Er ist zwar nicht juristisch, wohl aber ökonomisch proletarisiert, in die Stellung des Lohnarbeiters hinabgedrängt.

Verzehrt schliesslich die Zinsenlast neben der Rente und dem Profit auch noch einen Teil des Arbeitslohnes, dann bleibt dem Bauern nicht einmal mehr der Entgelt seiner Arbeitskraft. Er mag sich eine Zeitlang durch „Ueberarbeit und Unterernährung“ auf seiner Scholle behaupten; schliesslich aber ist er nicht mehr imstande, die Schuldzinsen zu bezahlen. Nun vertreibt ihn das Hypothekenkapital von Haus und Hof. Der ökonomischen Proletarisierung folgt die juristische. Der Bauer wird zum besitzlosen Lohnarbeiter.

So ist die Belastung des bäuerlichen Grundbesitzes eines der Mittel des Kapitals, auch die Landwirtschaft seiner Herrschaft zu unterwerfen, den bäuerlichen Wirtschaftsertrag in Kapitalszins zu verwandeln, die Masse der Bauern ökonomisch, einen Teil von ihnen auch juristisch des Bodenbesitzes zu berauben, sie aus der Unternehmerstellung hinauszudrängen und in Lohnarbeiter zu verwandeln. Die wachsende Bodenverschuldung ist eine der vielen besonderen Erscheinungsformen der allgemeinen Entwicklungsgesetze der kapitalistischen Wirtschaft.

Die Zunahme der bäuerlichen Schuldenlast erfolgt bei verschiedenen Anlässen und aus verschiedenen Gründen.

Der Uebergang zu intensiverer Kultur erfordert Meliorationen. Der Bauer nimmt Schulden auf, um sie durchführen zu können. Die Erhöhung der Zinsenlast findet in der durch die Melioration herbeigeführten Steigerung des landwirtschaftlichen Unternehmergewinnes ihre Deckung. Der Boden wird hier dem Kapital zinspflichtig, nachdem das Kapital den Boden befruchtet hat. Diese Schuldengattung ist also für den Bauer nicht drückend, ihre Vermehrung ist eine Folge des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft.

Viel bedenklicher ist es schon, wenn der Landwirt sich auch Betriebskapital im Wege des Hypothekarkredits beschafft. Die hypothekarisch sichergestellte Schuld kann ohne Gefahr die Mittel zur Vermehrung des fixen Kapitals beschaffen, das den Bodenertrag dauernd vermehrt; aber höchst unwirtschaftlich ist es, das zirkulierende Kapital, das innerhalb einer Produktionsperiode umschlagen muss, durch eine Kreditoperation zu beschaffen, die spätere Produktionsperioden belastet. Trotzdem ist – insbesondere bei unvollkommenem Ausbau der landwirtschaftlichen Kreditgenossenschaften – die Verpfändung des Bodens für Betriebsschulden nicht immer zu vermeiden, wenn der Landwirt von Unglücksfällen (Missernte, Viehsterben, Brand, Wasserschäden, Hagelschlag) betroffen wird oder wenn er trotz ungenügenden eigenen Betriebskapitals mit einem Schlage zu intensiverer Wirtschaft übergeht. Immerhin haben die Betriebsschulden mit den Meliorationsschulden doch ein Merkmal gemeinsam: in beiden Fällen wird der Landwirt dem Kapital zinspflichtig, nachdem das Kapital ihm Produktionselemente beschafft hat, die er braucht. Wir fassen daher beide Verschuldungsfälle unter dem Begriff des produktiven Kredits zusammen.

Ganz anderer Art ist die Belastung des Bodens mit Restkaufschillingen. Der Bodenkäufer, dem die Mittel zur Barzahlung fehlen, verpfändet die gekaufte Liegenschaft dem Kapitalisten, der ihm einen Teil des Kaufschillings borgt, oder dem Verkäufer, der ihm einen Teil des Kaufschillings stundet. Hier wird der Bodenbesitzer dem Kapital zinspflichtig, ohne dass das Kapital dem Boden irgendwelche Produktionselemente zugeführt hat. Der Bodenbesitzer veräussert einen Teil seiner Grundrente an den Kapitalisten, der ihm durch das Darlehen den Erwerb des Bodens ermöglicht hat. Die Grundrente, der ökonomische Ausdruck des Bodenbesitzes, wird zwischen dem Bebauer und dem Kapitalisten geteilt, ein Teil des Bodenertrages an das Kapital abgegeben.

In ganz ähnlicher Weise vollzieht sich die Belastung des Bodens bei dem Erbgang. Die Abfindungsgelder der „weichenden Geschwister“ bleiben als Hypothekarschulden auf dem Boden stehen. Die Auflösung der bäuerlichen Familienwirtschaft, die einen Teil des bäuerlichen Nachwuchses aus den Dörfern in die Städte und Industrieorte führt, findet ihr Gegenbild in der Teilung der Grundrente zwischen dem Gutsübernehmer und den aus der bäuerlichen Wirtschaft ausscheidenden Miterben. Auch hier wird ein Teil der Rente in Kapitalszins verwandelt, ohne dass das Kapital dem Boden irgendwelche Produktionselemente zugeführt hat. Wir fassen daher die Restkaufschillinge und die Familienschulden (Erbabfindungsgelder) unter dem Begriff des Besitzkredits zusammen und stellen diesen dem produktiven Kredit (Meliorations- und Betriebskredit) gegenüber.

Steigt die Belastung des Bodens mit produktiven Schulden infolge des Uebergangs zu intensiverer Kultur, so wächst die Last der Besitzschulden infolge des Steigens der Grundrente. Je teurer die Lebensmittel, desto höher die Rente; je höher die Rente, desto höher der Bodenpreis; je höher der Bodenpreis, desto grösser die Last der Restkaufschillinge und Familienschulden.

Indessen wächst die Last der Besitzschulden nicht nur mit der Grundrente, sondern noch schneller als sie. Bei richtige! kapitalistischer Schätzung ist der Boden gleich viel wert wie ein Kapital, das eben so viel an Jahreszinsen trägt wie der Boden an Rente. Tatsächlich ist aber der „Verkehrswert“ des Bodens, der Preis, den die Bevölkerung für Boden zahlt und der auch bei der Erbteilung zugrunde gelegt wird, stets höher als der durch Kapitalisierung der Rente ermittelte „Ertragswert“. Diese Ueberschätzung des Bodens ist darauf zurückzuführen, dass die herkömmliche Wertschätzung des „eigenen Herdes“, die Schwierigkeit, in anderen Wirtschaftszweigen wirtschaftliche Selbständigkeit zu erringen, das Streben, sich durch Eigenbesitz eine Gelegenheit zur Verwertung der Arbeitskraft zu sichern, und die Erwartung, dass die Grundrente steigen werde, die Nachfrage nach Grund und Boden erhöhen. Wächst der Verkehrswert schneller als der Ertragswert, dann steigen die Zinsen der bei Kauf und Erbgang aufgenommenen Besitzschulden schneller als die Grundrente. So kann es geschehen, dass der Hypothekenzins nicht nur die Grundrente, sondern auch den Profit und selbst einen Teil des Arbeitslohnes aufzehrt.

Auch die Bewegung des Zinsfusses hat auf die Teilung der Rente zwischen den Grundbesitzern und dem Kapital grossen Einfluss. Sinkt der Zinsfuss, dann steigt der Bodenwert, mit ihm auch die Masse der bei Kauf und Erbgang aufgenommenen Besitzschulden, obwohl die Rente unverändert bleibt. Steigt der Zinsfuss, dann steigt auch die Zinsenlast, obwohl der Bodenwert bei steigendem Zinsfuss sinkt.

Auf alle diese Ursachen ist die zunehmende Bodenverschuldung zurückzuführea. Konservative Gesellschaftsreformer, die in einem schuldenfreien „Bauernstand“ eine Schutzwehr gegen das revolutionäre Proletariat zu finden hoffen, haben die radikalsten Mittel vorgeschlagen, um die Bauern aus der Schuldknechtschaft zu befreien und weitere Verschuldung zu verhindern. Aber die grosszügigen Reformpläne der Rodbertus, Schäffle, Lorenz von Stein, Vogelsang [1] scheiterten an der Unmöglichkeit, das Recht des Sondereigentums durch die Beseitigung seiner Wirkungen, das Dasein der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch die Aufhebung ihrer Entwicklungsgesetze zu sichern.

So müssen sich denn die Agrarreformer mit bescheideneren Massregeln begnügen. In Oesterreich haben sich ihre Bestrebungen allmählich zu einem konkreten Reformprogramm verdichtet, dss vielleicht sehr bald das Abgeordnetenhaus beschäftigen wird. [2]

Das österreichische Reformprogramm geht von der Form der Verschuldung aus. Kann der Gläubiger die Hypothek kündigen, so ist ihm der Schuldner auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Er kann die Kapitalsschuld nur bezahlen, wenn er einen neuen Gläubiger findet; gelingt ihm das, dann muss er dem neuen Gläubiger, der die Notlage des Kredit suchenden Bauern ausnützt, oft höheren Zins bewilligen; gelingt es dem Bauer nicht, einen neuen Gläubiger zu finden, dann wird ihm Haus und Hof versteigert. Das Reformprogramm fordert daher die Ersetzung der kündbaren durch auf Seite des Gläubigers unkündbare Hypotheken.

Die Schuldenlast des bäuerlichen Besitzes wächst, weil die Grundbesitzer neue Schulden auf nehmen, ohne die alten abzutragen. Darum will das Reformprogramm die Bauern verpflichten, ihre Hypothekarschulden durch Zahlung von Annuitäten (Jahresraten) binnen einer durch den Schuldvertrag zu bestimmenden, höchstens 60jährigen Frist zu tilgen. Die Verpflichtung zur Annuitätentilgung schützt den Landwirt freilich nicht vor der Vermehrung seiner Schuldenlast: er kann ja neue Schulden aufnehmen, während er die alten abträgt. Doch hoffen die Bauern, den Spartrieb ihrer Söhne zu stärken, wenn sie sie verhalten, in jedem Jahre einen Teil ihrer Schulden abzuzahlen.

Die Verwandlung aller Hypothekarschulden in binnen höchstens 60 Jahren durch Annuitätenzahlung zu tilgende, auf Seite des Gläubigers unkündbare Pfandschulden ist das Ziel des österreichischen Reformprogramms. Die Landeshypothekenbanken sollen die Konvertierung der stehenden Hypotheken billig und gebührenfrei durchführen. Alle zur öffentlichen Rechnungslegung verpflichteten Kreditanstalten (Hypothekenbanken, Spar-, Vorschuss- und Waisenkassen) sollen zur Konvertierung der kündbaren Kapitalshypotheken in unkündbare Tilgungsschulden verpflichtet werden. Diejenigen Kreditanstalten, die sich die Kapitalien zur Gewährung von Darlehen nicht durch Ausgabe von Pfandbriefen, sondern aus kündbaren Einlagen verschaffen und daher unkündbare Darlehen nicht gewähren können, sollen ihre Hypothekenforderungen an Verbände übertragen, die Pfandbriefe ausgeben, und für die Hypotheken diese Pfandbriefe eintauschen. Gegen dieser. Teil des Reformprogramms ist gewiss nichts einzuwenden. Es befreit die Bauern zwar nicht von ihrer Schuldenlast, hemmt auch nicht das Fortschreiten der Bodenverschuldung, kleidet aber doch die Schuld in die am wenigsten bedrohliche Gestalt.

Aber über diese unbedenklichen Forderungen geht das Reformprogramm weit hinaus, indem es fordert, dass künftig auf landwirtschaftliche Liegenschaften mittlerer Grösse keine anderen Forderungen mehr eingetragen werden dürfen als solche, deren Tilgung durch Zahlung von Annuitäten binnen höchstens 60 Jahren vertragsmässig festgestellt und deren Kündigung durch den Gläubiger vertragsmässig ausgeschlossen ist. Nun kann man ohne Gefahr die Kreditanstalten verpflichten, ihre Hypothekarforderungen in unkündbare Tilgungsschulden zu verwandeln und künftig nur noch Hypothekardarlehen in dieser Form zu gewähren; bestimmt das Gesetz aber, dass Hypothekardarlehen überhaupt nur noch in dieser Gestalt gewährt werden dürfen, dann schliesst man den Einzelgläubiger aus dem Grundbuch überhaupt aus und führt das Monopol der Kreditanstalten ein. Alle Sachkundigen sind darüber einig, dass kein Einzelkapitalist Darlehen in dieser Form gewähren wird. Aber auch die weichenden Geschwister, die im Erbgang abgefunden werden müssen, die Bauern, die ihren Nachbarn oder Verwandten Kredit gewähren, werden nicht auf Bedingungen eingehen, die nur ein Pfandbriefe ausgebendes Kreditinstitut zugestehen kann. Die geforderte obligatorische Einführung der unkündbaren Annuitätenschuld bedeutet also die völlige Verdrängung der Individualhypothek. Sie würde die wucherischen Nachhypotheken, aber auch die billigen Geschwister-, Vettern-und Nachbarnhypotheken beseitigen. [3]

Die völlige Verdrängung des Individualkredits durch den Anstaltkredit wäre aber ein folgenschweres Ereignis. Denn die zu öffentlicher Rechnungslegung verpflichteten Kreditanstalten dürfen nur mündelsicheren Hypothekarkredit gewähren. Wird der Individualkredit ausgeschlossen, dann wird die Belehnungsgrenze der Kreditanstalten zur Verschuldungsgrenze des Grundbesitzes. Die mittelbare Festsetzung einer Verschuldungsgrenze durch die obligatorische Bestimmung von Darlehensbedingungen, die für den Individualkredit unannehmbar sind, müsste aber sehr bedenkliche Folgen herbeiführen.

Grundbesitzer, deren Boden schon bis zur Grenze der Pupillarsicherheit oder über sie hinaus verschuldet ist, könnten nach dieser Bestimmung überhaupt keinen, Grundbesitzer, deren Liegenschaft schon bis nahe an die Grenze der Mündelsicherheit verschuldet ist, nur einen sehr eng begrenzten Hypothekarkredit erlangen. Gerade den von der Schuldenlast am meisten bedrückten Bauern bringt das Reformprogramm nichts als die Kreditsperre und damit die Sicherheit des wirtschaftlichen Zusammenbruchs, die Sicherheit der Vergantung, sobald sie ohne Aufnahme neuer Darlehen ihre Schuldzinsen und Steuern nicht bezahlen können. Die erste Wirkung des Reformprogramms wäre der Ruin vieler armer Bauern bei der ersten Missernte, die Proletarisierung vieler Bauernfamilien, die sich heute durch Darlehensaufnahme über schlechte Zeiten hinüberhelfen und allmählich wieder emporarbeiten können.

Die nächsten schlimmen Folgen würden sich beim Erbgang zeigen. Hochverschuldete Güter könnten mit den Abfindungsgeldern nicht mehr belastet werden, weil sonst die durch die Pupillarsicherheit gegebene Verschuldungsgrenze überschritten würde. Das Gericht müsste daher die Güter zur Zwangsversteigerung bringen, um die Erben zu befriedigen. Die zweite Folge des Reformprogramms wäre also die Proletarisierung vieler armer Bauernfamilien beim Erbgang.

Aber die Kreditsperre würde nicht nur viele arme Bauern, von Haus und Hof verjagen, sondern auch dem ganzen armen Landvolk die Möglichkeit, Boden zu erwerben, rauben. Der Minderbemittelte kann Boden nur erwerben, wenn ihm ein Teil des Kaufschillings gestundet wird. Können aber auf Liegenschaften, die schon bis zur Grenze der Pupillarsicherheit verschuldet sind, Restkaufschillinge nicht mehr einverleibt werden, dann können solche Liegenschaften nur diejenigen erwerben, die den ganzen Kaufschilling bar bezahlen können. Die dritte Wirkung des Reformprogramms wäre also das Monopol des Bodenerwerbs für die Reichsten im Dorfe.

Noch mehr will das Reformprogramm den Erwerb der zur Zwangsversteigerung kommenden Liegenschaften erschweren. Bei Zwangsverkäufen soll nämlich das Bauerngut von allen kündbaren, nicht amortisierbaren Hypotheken sofort gereinigt werden. Der Ersteher muss alle aus dem Meistbot zum Zuge gelangenden Hypotheken tilgen und kann sich dazu nur des Kredits der Landeshypothekenanstalt bedienen, die nur mündelsicheren Hypothekarkredit gewährt. Dadurch wird natürlich allen Minderbemittelten der Erwerb solcher Güter unmöglich gemacht.

Die Kreditsperre für die bereits verschuldeten Bauern würde auf diese Weise gewaltige Umwälzungen auf dem Bodenmarkt herbeiführen. Das Angebot an Boden wird steigen, da der Bauer, der sich nicht durch Aufnahme eines Hypothekardarlehens helfen kann, einen Teil seines Grundbesitzes feilbieten muss, um Schulden und Steuern zu bezahlen. Gleichzeitig wird aber die Nachfrage nach Bauernhöfen sinken, da allen Minderbemittelten der Bodenkauf unmöglich gemacht wird. Steigendes Angebot bei sinkender Nachfrage muss die Bodenpreise senken. Durch das Sinken der Bodenpreise wird aber der Verschuldungsfonds der Bauern geschmälert: die Verschuldungsgrenze wird enger, die Kreditsperre rückt näher. Dadurch werden weitere Tausende von Bauernfamilien zugrunde gerichtet.

Es mag sein, dass das Reformprogramm eine lebensfähige, nur mässig verschuldete Bauernschaft erzeugen würde: die bestehenden Anstalthypotheken würden in die am wenigsten drückende Form gebracht, die bestehenden Individualhypotheken sterben allmählich ab, neue Hypothekenschulden könnten nur als Anstaltshypotheken innerhalb der Belehnungsgrenze der Kreditanstalten erstehen, die Ueberlastung des Bodens mit Hypothekenschulden wäre unmöglich. Aber dieser Gesundungsprozess würde mit dem Untergang der bedrücktesten Schicht der Bauernschaft und mit der Verhinderung des Aufstiegs der Landarbeiter zu wirtschaftlicher Selbständigkeit erkauft. Das Reformprogramm will einen gesunden Bauernstand schaffen, indem es die kranken Glieder mordet; es will einen wohlhabenden Bauernstand erzeugen, indem es jeden Armen hindert, Bauer zu werden, und den Armen, der Bauer ist, in das Proletariat hinabstösst; es will eine Schutzwehr gegen das Proletariat schaffen, indem es den ärmeren Teil des Landvolkes proletarisiert. Der „Stand“ wird gerettet auf Kosten der Menschen! Dieser antisozialen Klassenpolitik gegenüber ist es unsere Aufgabe, das arme Landvolk zu vertreten, den verschuldeten Bauern, den das Reformprogramm von Haus und Hof jagen, den Proletarier, dem es den Bodenerwerb unmöglich machen will.

Würde das Reformprogramm Gesetzeskraft erlangen, dann würde sehr bald der im Besitze der verschuldeten Bauernschaft befindliche Boden auf den Markt kommen, teils im Wege des freiwilligen Verkaufes, da die Bauern sich bei Kreditsperre nur durch Verkauf einzelner Parzellen das notwendige Bargeld verschaffen können, teils im Wege der Zwangsversteigerung, der so mancher Bauernhof verfallen würde, wenn das Gesetz seinem Besitzer jeden Hypothekarkredit verweigert. Den feilgebotenen Boden könnten aber nur die Reichen im Dorfe kaufen, da die Unmöglichkeit, Restkaufschillinge auf den Boden einzuverleiben, das arme Landvolk ausschliesst. Den Reichen im Dorfe würde also das Sinken der Bodenpreise zugute kommen. Die Reform führt daher zur Konzentration des Grundbesitzes in den Händen der Reichen.

Es ist sehr fraglich, ob dieser Konzentrationsprozess die Produktivität der Landwirtschaft fördern wird. Er wird ja auch den Aufkauf des Bodens für Jagdzwecke, die Verwandlung von Ackerland in Wald und Jagdgrund erleichtern! Noch bedenklicher aber ist es, dass die Kreditsperre auch die Aufnahme produktiver Meliorationsdarlehen verhindern kann. Der durch die Pupillarsicherheitsgrenze eingefriedete Verschuldungsraum wird von dem Besitzkredit besetzt; für den Meliorationskredit bleibt kein Platz! So wird die Reform zum Hindernis des technischen Fortschritts in der Landwirtschaft. Auch als Vertreter der städtischen Konsumenten, die an der Steigerung der Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit ein lebhaftes Interesse haben, können wir dem Reformprogramm nicht zustimmen.

Die „österreichische Formel“ ist für uns, soweit sie zum Hypothekenmonopol der Kreditanstalten führt und dadurch die Verschuldungsgrenze einschmuggelt, unannehmbar. Was können wir an ihrer Stelle empfehlen?

Es gilt die Ursachen der Ueberschuldung zu beseitigen. Das geschieht zunächst, von dem Ausbau der dem Personalkredit dienenden Genossenschaften abgesehen, durch alle Verwaltungsmassregeln, welche die Produktivität der landwirtschaftlichen Arbeit fördern. Ein wichtiges Mittel dazu ist auch die Verbesserung der Schulbildung auf dem Lande; lernt das Landvolk wirtschaftlich rechnen, dann wird auch die gefährliche Ueberwertung des Bodens erschwert. Auch durch eine grosszügige Industriepolitik, die dem Nachwuchs der Landbevölkerung Arbeitsgelegenheit schafft, und durch die Regelung der Auswanderung und inneren Kolonisation, durch die Aufhebung der Fideikommisse und Teilbarkeitsbeschränkungen kann der allzu grosse Landhunger verringert und dadurch die Ueberwertung des Bodens wirksam bekämpft werden. Durch eine obligatorische Lebens-, Heirats- und Ausstattungsversicherung kann die Belastung des Bodens mit Familienschulden ohne Benachteiligung der Kinder zugunsten eines Begünstigten vermieden, durch eine obligatorische Vieh-, Brand- und Hagelschlagsversicherung die hypothekarische Sicherstellung von Betriebsschulden entbehrlich gemacht werden. Die Ursachen der Verschuldung müssen bekämpft werden, nicht die Befriedigung eines nach Erfüllung schreienden Bedürfnisses!

Freilich täuschen wir uns nicht darüber, dass in der kapitalistischen Gesellschaft der Bauer von der Schuldknechtschaft ebensowenig vollständig befreit werden kann, wie der Arbeiter von der Lohnknechtschaft. Erst die grosse soziale Umwälzung, der wir alle in rastloser Arbeit entgegenstreben, kann auch dieses Problems Lösung bringen. Die Verstaatlichung der Hypotheken, heute eine Utopie, ein Traum der Wucherer, die die Zahlungsunfähigkeit ihrer Schuldner fürchten, wird möglich werden im Zeitalter der „Expropriation der Expropriateure“. Die „Inkorporation des Hypothekarkredits“, die heute an dem Unternehmerstolz des Landwirts, an dem „agrarischen Manchestertum“ scheitert, wird in anderer Form ihre Verwirklichung finden im Zeitalter der planmässigen Organisation der gesellschaftlichen Arbeit. Die Teilung der Rente zwischen Grundbesitz und Kapital wird ihr Ende finden in einer Gesellschaft, die ihre Bevölkerung und ihren Wirtschaftsertrag auf den Ackerbau und die grossen gesellschaftlichen Betriebe in der Industrie, der Verteilung, dem Verkehr planmässig verteilt. Die Ausbeutung des Bauern durch das Kapital wird mit aller kapitalistischen Ausbeutung verschwinden.

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Fussnoten

1. Vgl. Rodbertus, Zur Erklärung und Abhilfe der heutigen Kreditnot des Grundbesitzes; Schäffle, Die Inkorporation des Hypothekarkredits; Lorenz von Stein, Die drei Fragen des Grundbesitzes; derselbe, Bauerngut und Hufenrecht; Vogelsang, Die Notwendigkeit einer neuen Grundentlastung; derselbe, Die sozialpolitische Bedeutung der hypothekarischen Grundbelastung. Eine gute Charakteristik und Kritik dieser Reformversuche enthält Buchenberger, Agrarwesen und Agrarpolitik. II. Der letzte Nachkomme dieser Richtung in Oesterreich ist der christlichsoziale Abgeordnete Schöpfer, dessen musterhaft populär geschriebenes Buch Verschuldungsfreiheit oder Schuldenfreiheit? über alle diese in ihren Mitteln radikalen, in ihren Zielen konservativen Bestrebungen nicht übel unterrichtet.

2. Ueber das österreichische Reformprogramm siehe die Mitteilungen über die Verhandlungen der Sektion für Land- und Forstwirtschaft des Industrie- und Landwirtschaftsrates, Achte Tagung, 1903; in den stenographischen Protokollen des Herrenhauses den Antrag Grabmayr am 10. April 1908, dessen Verhandlung am 26. Juni 1908, den Bericht der Spezialkommission, 109 der Beilagen, XVIII. Session, dessen Verhandlung am 24. März 1909; in den stenographischen Protokollen des Abgeordnetenhauses den Antrag Pantz, 77 der Beilagen, XIX. Session; ferner die Verhandlungen des 27. deutschen Juristentages in Innsbruck, Hattingbergs Referat betreffend die Frage der Hypothekarentschuldung, erstattet der landwirtschafilichen Abteilung des Industrie- und Landwirtschaftsrates, Wien 1903, und die Schriften Grabmayrs, besonders Bodenentschuldung und Verschuldungsgrenze, Innsbruck 1903, und Das landwirtschaftliche Kreditproblem, Meran 1904.

3. Auch ein Hypothekenmonopol der Landeshypothekenbanken wird gefordert. Ein solches Monopol bedeutet keineswegs die Befreiung des Bauern von dem Tribut an das Privatkapital. Nicht die Hypothekenbank‚ sondern der Pfandbriefbesitzer ist ja der wahre Gläubiger.

 


Leztztes Update: 6. April 2024