O. B.

Bücherschau

Arbeiterbildungswesen

(1. August 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 11, 1. August 1909, S. 526–527.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Bildungsausschuss der Deutschen Sozialdemokratie (Berlin SW. 68, Lindenstrasse 3) versendet sein Winter Programm für das Jahr 1909–1910. Die Broschüre verdient die Beachtung aller in der Bildungstätigkeit beschäftigten Genossen. Sie enthält zunächst die Dispositionen der Wanderkurse, die die Genossen Hermann Duncker, Otto Rühle und Julian Borchardt in verschiedenen Städten des Reiches abhalten werden. Leider scheint bei diesen Wanderkursen ein pedantisches Streben nach Systematik der pädagogischen Absicht entgegenzuarbeiten. So hält zum Beispiel Genosse Duncker einen acht Abende umfassenden Vortragszyklus über die Entwicklungsstufen des Wirtschaftslebens. In dem ersten Vortrage des Zyklus bespricht er nun „Verschiedene Versuche, wirtschaftliche Entwicklungsstufen aufzustellen“. Die Arbeiter sollen sich also für die Versuche, die wirtschaftsgeschichtlichen Tatsachen einzuteilen, interessieren, ehe sie diese Tatsachen selbst kennen gelernt haben! Genosse Borchardt findet in einem vier Abende umfassenden Zyklus Zeit, das Sinken der Durchschnittsprofitrate und die Frage, ob die kaufmännische Arbeit produktiv ist, zu erörtern; dafür wird in demselben Vortragszyklus die Besprechung folgender Erscheinungen in einen einzigen Vortrag zusammengedrängt: Aktiengesellschaften. Ringe, Kartelle, Trusts. Die Grundrente. (!) Die Klassen. Es scheint mir, dass da doch das (für praktische Zwecke) minder Wichtige dem Wichtigsten die Zeit wegnimmt. Neben den Wanderkursen werden in dem „Winterprogramm“ auch die Veranstaltungen zur Verbreitung sorgfältig ausgewählter Jugendschriften, die Musterkataloge für Arbeiterbibliotheken, die Theatervorstellungen und die künstlerischen und geselligen Veranstaltungen besprochen. Besonders der letztgenannte Teil des Programms sollte in Oesterreich Beachtung finden; unsere Unterrichtsorganisationen werden sich auch mit dieser Frage einmal beschäftigen müssen. Die Broschüre, die von der fruchtbaren Bildungsarbeit der deutschen Sozialdemokratie ein sehr anschauliches Bild gibt, schliesst mit einem recht interessanten Musterarbeitsplan für die lokalen Bildungsausschüsse. Trotz mancher Mängel des reichsdeutschen Programms und trotz der erfreulichen Fortschritte unserer eigenen Bildungstätigkeit können wir Oesterreicher noch immer nicht ohne ein Gefühl des Neides die Berichte unserer deutschen Bruderpartei lesen.

Auch an der Versorgung der Arbeiterschaft mit Lehr- und Lesebüchern, die zur Einführung in den wissenschaftlichen Sozialismus geeignet sind, wird eifrig gearbeitet. Einen recht anregenden Versuch auf diesem Boden lernen wir in der kleinen Schrift des holländischen Genossen Hermann Gorter, Der historische Materialismus, kennen, die im Stuttgarter Parteiverlag erschienen ist.

Der Gebildete hat es gelernt, eine ihm gegebene Menge von Tatsachen verschieden zu ordnen, zu gruppieren, in Beziehung zueinander zu setzen. Die Masse der Arbeiter hat diese Fähigkeit nicht erworben. Solange sie ihnen aber fehlt, können die Arbeiter nicht verstehen, was Geschichtsauffassung, also auch nicht, was materialistische Geschichtsauffassung ist. Durch bloss begriffliche Darstellung kann man daher den Arbeitern den historischen Materialismus nicht näher bringen. Nach meiner Erfahrung empfiehlt es sich, einen ganz anderen Weg zu gehen. Man zähle zunächst die wichtigsten Ereignisse einer grossen historischen Epoche, zum Beispiel der französischen Revolution auf; dann lasse man diese Tatsachen von Vertretern verschiedener Geschichtsauffassungen erzählen, also zum Beispiel zuerst von einem feudalen Legitimisten, dem die Revolution die Tat von Bösewichtern, dann von einem begeisterten Demokraten, dem sie die Tat von Heroen ist, hierauf von einem idealistischen Philosophen, der in ihr ein Stück der Eigenbewegung des Weltgeistes sieht, und schliesslich von einem Marxisten, der sie aus der sozialen Daseinsweise der Volksmassen erklärt. Der Arbeiter, der all das gehört oder gelesen hat, hat jetzt einmal die Verschiedenheit der Geschichtsauffassungen erlebt. Jetzt erst wird er eine kurze begriffliche Analyse verstehen, jetzt erst werde ich ihm verständlich machen können, wie der historische Materialismus ihn erst seinen eigenen Klassenkampf richtig begreifen lässt. Leider hat Gorter diese induktive, das Anschauliche vor das Begriffliche setzende Methode nicht gewählt. Dass er die begriffliche Deduktion durch zahlreiche Beispiele veranschaulicht, mildert seinen Fehler, ohne ihn ganz aufzuheben. Da er mit einer begrifflichen Deduktion beginnt und doch populär darstellen will, konnte er der Gefahr nicht ganz entgehen, die Marxsche Lehre stellenweise ein wenig zu verflachen.

So weit der Widerspruch zwischen dem unzweckmässigen Aufbau und der pädagogischen Absicht seine Darstellung des historischen Materialismus nicht beeinträchtigt hat, ist sie zutreffend. Nur scheint mir, dass auch Gorter den Begriff der Produktivkräfte zu eng fasst, ihn allzu sehr dem der Produktionsmittel nahe bringt. Von allzu engherziger Interpretation des historischen Materialismus ist Gorter frei; an einzelnen Stellen werden Gedanken angedeutet, die für den Ausbau der Lehre sehr wichtig sind. (So Seite 119 über das Fortleben, Seite 46 über die relativ selbständige Fortentwicklung der einmal entstandenen Ideologien, Seite 122 über das Zusammenwirken neuer ökonomischer Tatsachen mit aus früheren Epochen überlieferten sozialen, politischen und ideologischen Bewusstseinsinhalten.) Erkenntnistheoretische und ontologische Fragen werden von Gorter nur gestreift; ich finde auch die wenigen Anspielungen auf Dietzgens philosophische Lehren entbehrlich. Sie sind für den noch ungeschulten Arbeiter, für den Gorter doch schreiben will, unverständlich und stehen mit Marx’ Geschichtsauffassung in keinem notwendigen Zusammenhang.

Die Beispiele, die Gorter zur Veranschaulichung des historischen Materialismus benützt, haben sehr verschiedenen Wert. So ist zum Beispiel der Nachweis, wie der katholische Himmel die feudale Gesellschaft widerspiegelt, sehr hübsch, dagegen die Darstellung der jüngeren religiösen und philosophischen Systeme weit weniger gelungen. Auch hier leidet die Broschüre an ihrem methodischen Grundfehler: Wie soll der Arbeiter, der Spinozas Lehre nicht kennt, ihre Entstehung aus ihrer Zeit verstehen? Am lebhaftesten werden Gorters Beispiele aus dem Gebiet der Ethik angefochten, meines Erachtens mit wenig Recht. An der Feststellung, dass im Kriege, also auch im Klassenkampfe oft als erlaubt betrachtet wird, was sonst gegen das ererbte Sittengesetz verstösst, kann sich nur philiströse Moralheuchelei stossen. Uebrigens wäre Gorter diesen Vorwürfen wohl entgangen, wenn er einen kurz angedeuteten Gedanken weiter ausgeführt hätte: den nämlich, dass die Arbeiter, so oft ihr Klassenkampf sie zu Handlungen gegen den Gegner zwingt, die sie dem Klassengenossen gegenüber (und auch dem Klassengegner, sofern er nicht als solcher ihnen gegenübersteht) als unsittlich betrachten, doch in dem sittlichen Ziele ihres Klassenkampfes eine Rechtfertigung finden, die die anderen Klassen nicht für sich in Anspruch nehmen können. Weiter ausgeführt, würde dieser Gedanke freilich zu der Frage führen, ob die verschiedenen Anschauungen über das Sittliche nicht nur historisch-kausal abgeleitet, sondern auch überhistorisch-teleologisch gewertet werden können. Ueber diese Frage ist allerdings Gorter, der Kautskys Ethik folgt, anderer Meinung als ich.

Aber trotz dieser Bedenken halten wir Gorters Schrift für eine sehr dankenswerte Arbeit. Sie ist in einer sehr leicht verständlichen Sprache geschrieben und der Arbeiter, der sie liest, wird aus ihr sehr viel lernen. Und das ist schliesslich die Hauptsache! Was unser gemeinsames Wissensgut ist, den Arbeitermassen zu vermitteln, ist viel, viel wichtiger als aller Streit um theoretische Einzelfragen.

Ein Lehrbuch der Volkswirtschaftslehre für Arbeiter will Harpuders Broschüre Entstehung und Entwicklung des Wirtschaftslebens (Süddeutsche Volksbuchhandlung, München) sein. Das ist sie nun freilich nicht; aber wenn sie wäre, was sie ihrem Inhalt nach sein könnte, ein Lehrbuch der Wirtschaftsgeschichte, würde sie eine Lücke in unserer Parteiliteratur ausfüllen. Leider kann sie auch diesem Zweck nicht dienen. Zunächst erscheint uns die ganze Anlage verfehlt. Will man ein anschauliches Bild der Entwicklung des Wirtschaftslebens entwerfen, dann stellt man am besten die Wirtschaftsgeschichte einer Nation, etwa der deutschen, als Beispiel dar. Harpuder wählt einen ganz anderen Weg: er unterscheidet eine Reihe von Wirtschaftsstufen und ordnet diesem System verschiedene Wirtschaftsbilder aus der Geschichte verschiedener Nationen als Typen dieser Wirtschaftsstufen ein. Daher wird auf die Darstellung dieser Wirtschaftsstufen in ihrem Beharrungszustand und auf ihre Unterscheidung von einander viel mehr Gewicht gelegt als auf ihre Entwicklung aus einander; wir können aber nur durch die Darstellung der wirtschaftlichen Umwälzungen, nicht durch die unvermittelte Beschreibung der Zustände, die an ihrem Anfang und an ihrem Ende liegen, die Arbeiter zum modernen Sozialismus erziehen, zum Verständnis des Umwälzungswerkes, das ihre eigene Klasse zu vollbringen hat. Nichts ist für Harpuders Methode so charakteristisch wie die Tatsache, dass in dieser für Arbeiter bestimmten Wirtschaftsgeschichte die Entstehungsgeschichte des modernen Proletariats nicht erzählt wird! Ueberhaupt hat diese falsche Methode, zu der Harpuder durch die Vorliebe für die „Stufentheorie“ verleitet worden ist, die bei den Bücher, Sombart und Genossen die Unzulänglichkeit der theoretischen Analyse verkleiden, ein Surrogat einer Theorie des Wirtschaftslebens sein will, eine falsche Auswahl der darzustellenden Materie zur Folge. Wir wollen den Arbeitern die Wirtschaftsgeschichte doch wohl als ein Hilfsmittel zur Erklärung ihrer eigenen Zeit und ihrer eigenen Geschichte geben. Bei Harpuder findet man aber sehr geistreiche Untersuchungen über das Verhältnis von Spiel und Arbeit beim Urmenschen wieder, man sucht aber vergebens die Darstellung, wie die ökonomischen Erscheinungen unserer Gesellschaft aus früheren Wirtschaftssystemen herausgewachsen sind. Der Arbeiter, der unsere Zeit verstehen lernen soll, müsste von der Entstehung der Gutsherrschaft und von der Auflösung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse manches erfahren ; ob er von der Wirtschaft der Negerstämme ein richtiges Bild hat, ist viel weniger wichtig. Harpuder aber erzählt ihm von der „Selbsterhaltungswirtschaft primitiver Völkerschaften“ viel mehr als von der Bauernbefreiung! Zu diesen Mängeln des Aufbaues, neben denen ein paar Ungenauigkeiten in den Tatsachen recht bedeutungslos erscheinen, kommt noch eine Sprache und Darstellungsweise, die für den Arbeiter, der, wie Harpuder sagt, „nur die allgemeinen Elementarkenntnisse“ besitzt, ganz unverständlich ist. So ist also Harpuders Broschüre als Lehrbuch der Wirtschaftsgeschichte für Arbeiter nicht zu verwenden. Bestenfalls werden Arbeiter, die schon an schwerere Kost gewöhnt sind und schon Vortragszyklen über Wirtschaftsgeschichte gehört haben, sie benützen können, um sich die Bilder der älteren Wirtschaftsstufen einzuprägen.

 


Leztztes Update: 6. April 2024