Otto Bauer

Die Lehren des Zusammenbruchs

(1. August 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 11, 1. August 1909, S. 481–486.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Zum zweitenmal innerhalb eines halben Jahres ist das „Volksparlament“ auseinandergejagt worden. Das Ansehen des Hauses hat schon durch seine schleppende Arbeitsweise, die unfruchtbare Vielrederei, die wüsten Lärmszenen gelitten; da nun dem stürmischen Ende vom 5. Februar der klägliche Zusammenbruch vom 10. Juli so schnell gefolgt ist, ist das Haus geschändet und erniedrigt vor den Augen der Völker, ein Bild des Jammers, von dem sich die Massen enttäuscht abwenden, kein Gegenstand ihrer Hoffnung mehr.

Mit welchen Erwartungen ist dieses Haus begrüsst worden! Die Massen, die ein Jahrzehnt lang, von dem Treiben des Privilegienparlaments angewidert, sich um das politische Leben gar nicht gekümmert hatten und erst in dem grossen Jahre der russischen Revolution, von wahrhaft revolutionärem Geiste im Sturme erfasst, unserem Rufe gefolgt sind, unsere Organisationen mit neuem Leben gefüllt und sich das Wahlrecht auf der Strasse erobert haben, konnten wahrhaftig nicht die Grenzen der Leistungsfähigkeit des Parlamentarismus überhaupt und des vom Nationalitätenstreit zersetzten und zerrissenen österreichischen Parlamentarismus insbesondere erkennen. Unvermeidlich war es, dass sie das zu erkämpfende, das eroberte Gut überschätzten. Den Neubau des Staates, die Verwirklichung der Demokratie, die. Beendigung des nationalen Haders durch die nationale Freiheit, ein Zeitalter fruchtbarer sozialer Arbeit, eine Epoche der Arbeiterschutzgesetze, der Arbeiterversicherung, der Steuerreformen, der wirtschaftlichen Umgestaltung haben breite Massen vom neuen Parlament gefordert, erhofft, erwartet. Das war die Stimmung des Wahlrechtskampfes, des Wahlkampfes, das Geheimnis unseres grossen Wahlsieges!

Was nun, da diese grosse Erwartungen so schmählich enttäuscht wurden? Ist es nicht unvermeidlich, dass die Massen den Parlamentarismus jetzt ebenso unterschätzen, wie sie ihn vor zwei Jahren überschätzt haben? Uns schreckt nicht etwa die kleine, zu lächerlicher Bedeutungslosigkeit verdammte Gruppe anarchistischer Wirrköpfe, obwohl auch ihr Auftreten als ein Symptom beachtenswert ist. Wohl aber fürchten wir, dass die bittere Enttäuschung die breiten, erst vor kurzer Zeit im Sturme gewonnenen und darum noch ungeschulten Massen wieder zurückwerfen könnte in den Sumpf teilnahmsloser Gleichgültigkeit gegenüber den grossen Fragen unseres sozialen und politischen Lebens, in die Stimmung der Hoffnungslosigkeit, der Verzagtheit, die der gefährlichste Gegner unserer Arbeit ist.

Wollen wir dieser Gefahr begegnen, dann müssen wir erstens die Ursachen der Ereignisse kennen, die wir im letzten Jahre erlebt haben, dann müssen wir zweitens aus den Geschehnissen der jüngsten Vergangenheit die Tendenzen der Entwicklung zu erschliessen versuchen, dann müssen sie schliesslich wir Aufgaben erkennen, die die veränderte Lage uns auferlegt.

* * *

Die Ursachen zunächst! Die Neue Freie Presse hat das Zeichen zur Eröffnung der nationalen Feindseligkeiten gegeben und die „antisemitischen“ Provinzblätter und Provinzabgeordneten haben Herrn Benedikts Parole weitergetragen. Herr Gessmann hat dann im Auftrage eines hohen Herrn das durch das chauvinistische Treiben erschütterte Ministerium Beck zu Falle gebracht. Herr v. Bienerth ist unfähig, das Abgeordnetenhaus zu führen. Schwierigkeiten ergeben sich in diesem Hause immer wieder: Herr Choc hofft, der Führer einer grossen Partei zu werden, wenn er nur recht oft und recht laut lärmt, die Herren Schusterschitz und Praschek sehnen sich nach dem Ministerfrack, die schlechte Geschäftsordnung gibt Mittel genug zu frivolen Obstruktionsmanövern und da Herr v. Bienerth sie nicht meistern kann, schliesst er eben die Session. All das ist dem Alltagsjournalisten geläufig und all das ist zweifellos richtig. Aber machtgierige Zeitungsschreiber, höfische Ränke, unfähige Bureaukraten, Demagogen, denen jedes Verantwortlichkeitsgefühl fehlt, und Streber, die die Künste der Geschäftsordnung zu gebrauchen verstehen, hat es in Oesterreich immer gegeben. Warum gerade in diesem Jahre die überraschende Wendung?

Es ist sehr naheliegend, die Ursachen in den Ereignissen der auswärtigen Politik zu suchen. Die Ankündigung des Baues der Sandschakbahn, die britisch-russische Verständigung zu Reval, das mazedonische Reformprogramm, die türkische Revolution, die Annexion Bosniens, die serbische Kriegsgefahr, der Erfolg Oesterreichs dank der Hilfe des Deutschen Reiches – alle diese Ereignisse haben gewiss auch unsere inneren Verhältnisse beeinflusst.

Die tschechische und südslawische, aber auch viele deutschnationale Politiker stellen sich diesen Zusammenhang in folgender Weise vor: Die Balkanpolitik macht die Festigung des deutsch-österreichischen Bündnisses notwendig. Die Herrschenden müssen Deutschlands Gunst erkaufen, indem sie die Stellung der Deutschen in Oesterreich stärken. Daher die „deutsche Regierung“ Bienerth! Der „Berliner Kurs“ ruft den Widerstand der Slawen hervor. Daher die innere Krise!

Nun ist das Ministerium Bienerth freilich sehr billig zu dem Titel einer „deutschen Regierung“ gekommen. Ihre Sprachengesetzentwürfe (deren Bestimmungen über den Rechtszug den Deutschen noch vor sehr kurzer Zeit als ein Zugeständnis an das böhmische Staatsrecht erschienen wären) hat sie ja nicht einmal zur ersten Lesung zu bringen gewagt! Dass sie die Tschechen durch Polizeischikanen und Zeitungskonfiskationen ärgert, bringt den Deutschen keinen Nutzen. So reduziert sich das Verdienst Bienerths an das Deutschtum eben darauf, dass er – alles beim alten lässt.

Hat man die „deutsche“ Regierung aus Rücksicht auf das verbündete Deutsche Reich einsetzen müssen? Es unterliegt gewiss keinem Zweifel, dass die Umwälzungen auf der Balkanhalbinsel die Spannung zwischen Oesterreich und Russland verschärft und dadurch auch den Wert des deutschen Bündnisses für die Donaumonarchie gesteigert haben: jede Lockerung des Bündnisses würde ja die stärkste Militärmonarchie an die Seite Russlands, des Gegners Oesterreichs am Balkan, drängen! Trotz des albernen Geredes der Panslawisten ist es ja immer noch wahr, dass die Interessen des Deutschen Reiches mit denen Russlands nirgends aufeinander stossen, und dass das gemeinsame Interesse gegen die Revolution überhaupt und gegen die polnische Revolution insbesondere die Herrschenden beider Reiche vereinigt. Das Deutsche Reich wäre der Bundesgenosse des Zaren, wenn es nicht der Verbündete Oesterreichs wäre – je schärfer der russisch-österreichische Gegensatz auf der Balkanhalbinsel ist, desto grösser ist also der Wert des deutschen Bündnisses für Oesterreich.

Die Vorstellung aber, dass Oesterreich Deutschlands Hilfe durch eine Wendung in seiner inneren Politik erkaufen musste, ist unrichtig. Man vergesse nicht, in welcher Lage sich das Deutsche Reich seit dem Tage von Reval befand! England, Russland, Frankreich standen ihm geschlossen gegenüber; Italien, dessen lange Meeresküste den Angriffen der englischen und französischen Mittelmeerflotte wehrlos ausgesetzt ist, ist kein verlässlicher Bundesgenosse. Bleibt nur Oesterreich, dessen Verlässlichkeit vielen nicht über allen Zweifel erhaben schien! Als König Eduard in Reval war, riet ein Münchener Blatt, Deutschland möge jetzt eine Situation herbeiführen, in der die Habsburger auf Deutschlands Hilfe angewiesen wären; auf diese Weise müsse sich das Reich die Treue des einzigen Bundesgenossen sichern. Das hat nun Fürst Bülow freilich nicht getan – dass die türkische Revolution und die Annexion Bosniens die Produkte Berliner Ränke sind, kann nur glauben, wer keine Ahnung hat von der schwierigen Stellung, in die Deutschlands Politik in Konstantinopel gerade durch diese Ereignisse geraten ist. Die Geschichte hat, von Deutschlands Willen unabhängig, vollbracht, was das besorgte Münchener Blatt planmässig herbeiführen wollte. Der kluge Rat zeigt aber, dass Deutschland die Festigung des Bündnisses nicht weniger notwendig gebraucht hat als Oesterreich nach der Annexion. Das Bündnis, in der ganzen europäischen Situation verankert, wäre wirklich nicht weniger fest, auch wenn Praschek und Schusterschitz Minister wären.

Und hätte selbst Oesterreich das Bündnis erkaufen müssen, so wäre der Prager Posterlass und die böhmische Sprachenvorlage wohl kaum als Kaufpreis gefordert worden. Da Deutschland das Bündnis braucht, preist Kaiser Wilhelm die „ritterliche magyarische Nation“ – mögen die Magyaren zwei Millionen Deutsche misshandeln, wie sie wollen! Das Reichsinteresse ist mit dem Interesse der Nation nicht identisch. Die Dinge liegen gerade umgekehrt, wie sie sich Herr Kramarsch vorstellt. Wäre die Donaumonarchie dem Reiche verfeindet, dann würde jede Klage der Deutschösterreicher im Reiche tausendfachen Widerhall finden; das nationale Zusammengehörigkeitsgefühl würde dann dazu benützt werden, um Oesterreich Schwierigkeiten zu bereiten. Braucht aber Deutschland das Bündnis, dann würden seine Beherrscher schweigen, wenn selbst die Deutschösterreicher weit mehr Grund zur Klage hätten als heute; das Deutsche Reich macht wahrhaftig keine sentimentale Politik und die Amtssprachenfrage des Egerer Kreisgerichtes ist ihm wirklich nicht so wichtig, dass von ihrer Lösung die Festigkeit des Bündnisses abhängig wäre.

Die Vorstellung, dass unsere innere politische Entwicklung von dem verbündeten Deutschen Reiche diktiert sei, ist also unrichtig. Da sie nicht nur von der nationalen Presse vertreten wird, sondern auch von einem Teile unserer Parteipresse, zumal der tschechischen, unbesehen übernommen wurde, halten wir ihre Widerlegung für notwendig; sie verdeckt den wahren Zusammenhang unserer inneren mit der äusseren Politik, dessen Erkenntnis uns dringend not tut.

* * *

Die Bureaukratie und die Armee sind die Machtmittel der Herrschenden. Sie können Gesetze geben und verwalten: ihre Beamten führen die Gesetze durch, ihre Soldaten zwingen die Untertanen zum Gehorsam. Dass das Parlament an der Gesetzgebung mitwirkt und die Verwaltung kontrolliert, ist keine Stärkung, sondern eine Beschränkung ihrer Macht, durch eine ganze Reihe äussere Niederlagen und innerer Revolutionen ihnen abgerungen. Das Versagen des Parlaments haben nicht sie, die Kontrollierten, sondern die Völker, die das Parlament als Kontrollorgan eingesetzt haben, zu fürchten. Die Arbeitsfähigkeit des Parlaments ist nicht ein Interesse der Krone und der Bureaukratie, sondern ein Interesse der Völker.

Dieses natürliche Verhältnis ist aber in einer zehnjährigen Obstruktionsperiode völlig verdeckt worden. Den Parteien erschien es als eine Gnade für die Regierung, wenn sie dem Parlament erlaubten, zu arbeiten; und die Regierung erbettelte von den Parteien die Arbeitsfähigkeit der Volksvertretung. Dieses System, das im Widerspruch zu den realen Machtverhältnissen steht, hat die folgerichtigste Ausbildung durch die Regierung Beck erfahren. Sie musste in mühevoller Arbeit die „mittlere Linie“, die Resultierende der vielen gegeneinander wirkenden Kräfte suchen, um nur ja keine Partei zu verletzen, keinen Anlass zur Lahmlegung des empfindlichen, parlamentarischen Apparates zu geben. Welch sonderbares Bild! Fünfzehn Armeekorps und ein wohlgegliedertes, gefügiges Heer von Beamten stehen der Regierung zur Verfügung und doch musste sie jeden Tag Herrn Wolf und Herrn Choc bitten, dass sie das Parlament, das doch zur Beschränkung der Regierungsmacht eingesetzt ist, gnädigst ein paar Tage arbeiten lassen!

Dann kam die Annexion und der Konflikt mit Serbien. Die Herrschenden appellierten seit Jahrzehnten wieder zum erstenmal an die reale Macht, an die Bajonette. Die glatt durchgeführte Mobilisierung, das Zurückweichen Europas vor den Waffen Oesterreich-Ungarns und des Deutschen Reiches steigerten ihr Selbstbewusstsein. Man hatte Russland und England gebeugt und hätte Herrn Prasek fürchten sollen? Das Bewusstsein der realen Machtverhältnisse wurde mit einemmal wieder lebendig. Es hat sich recht deutlich gezeigt, als man, um die Verfassung unbekümmert, Hunderte Millionen ohne Bewilligung der Delegationen für militärische Zwecke ausgab und eine Staatsanleihe ohne Bewilligung des Reichsrates aufnahm. In der inneren Politik aber ward es zur Maxime: Niemandem nachlaufen! Nicht handeln und verhandeln, sondern „den Herrn zeigen“! Darum wurde Beck gestürzt und Bienerths Unfähigkeit zu Verhandlungen als höchste staatsmännische Tugend ausgerufen!

Diese neue Politik, deren Wesen der Eigenwille der Bureaukratie, der Diplomatie und des Generalstabs ist, die in dem äusseren Konflikt ihrer Macht sich bewusst geworden sind, wandte sich zunächst freilich gegen die Tschechen. Mit ihnen waren die Herrschenden unzufrieden. Dass Prag während einer äusseren Krise die Ruhe gestört hat, dass gerade am 2. Dezember, am Tage des Kaiserjubiläums, das Standrecht proklamiert werden musste, dass die Tschechen sich, als Russland wieder zum Feinde geworden war und gegen Serbien mobilisiert wurde, an panslawistischen Spielereien und „antimilitaristischen“ Demonstrationen erfreuten, hat die Herrschenden geärgert. Ihr gesteigertes Selbstbewusstsein hat sich darum zunächst in dem Wunsche ausgedrückt, den Tschechen „den Herrn zu zeigen“! Darum: Standrecht, Vereinsauflösungen, Zeitungskonfiskationen, Anklagen wegen harmloser Demonstrationen, keine Petitionen im Parlament, Schliessung der Reichsratssession! Aber man vergesse nicht: die Tschechen (und die Slowenen) sind das augenblickliche und zufällige Objekt des bureaukratischen Eigenwillens, das erstarkte Machtbewusstsein der Herrschenden ist der dauernde und wesentliche Kern des neuen Regimes. Morgen kann es seiner Kraftbetätigung ein anderes Objekt aussuchen!

Nun darf man die Kraft des österreichischen Imperialismus freilich nicht überschätzen. Er wird bald wieder Bescheidenheit lernen! Mit einer Mehrheit von fünf Stimmen wird man ja die neuen Steuern, die der Militarismus braucht, nicht beschliessen können. Aber die Stimmung, aus der das Regime Bienerth geboren ward, wird wiederkehren: Wir leben in einem Zeitalter imperialistischer Machtentfaltung und wir müssen damit rechnen, dass das erstarkte Selbstbewusstsein der Herrschenden, das Bewusstsein der realen Macht, über die sie verfügen, unsere innere Entwicklung im nächsten Jahrzehnt stark beeinflussen wird.

Die Periode des „Fortwurstelns“, in der der Staat stets glücklich war, wenn ihm nur bis übermorgen der ruhige Ablauf der Staatsgeschäfte gesichert werde, mag noch einmal für kurze Zeit wiederkehren. Aber auf die Dauer wird sich eine starke und selbstbewusste Staatsgewalt nicht gefallen lassen, dass sie jeden Tag irgend ein Provinzadvokat Europa zum Gespötte macht. Sie wird die Lösung unseres Parlamentsproblems – die Aenderung der Geschäftsordnung würde in ihrer Rückwirkung auf die nationalen und sozialen Probleme so viel wie eine Verfassungsänderung bedeuten! – und damit auch die Lösung der nationalen Probleme den Völkern diktieren, wenn ihre Vertreter nicht aus eigener Kraft und eigenem Willen das Gesetz ihres Zusammenlebens schaffen! Nationale Verständigung und Geschäftsordnungsreform durch das Parlament selbst oder bureaukratisches Oktroi – das ist die Alternative! Sollen die nach einer Lösung drängenden Probleme demokratisch durch das Parlament oder bureaukratisch durch die Regierung geregelt werden? – Das ist die Frage, zu deren Aufrollung unsere ganze innere Entwicklung treibt.

Damit stehen wir vor dem klassischen Problem alles Parlamentarismus. Es handelt sich nicht um den Kampf zwischen Deutschen und Slawen, nicht um die Festigung oder Schwächung des Einflusses Deutschlands auf Oesterreich, sondern um eine neue Phase der alten, von jedem Parlament Europas einmal durchgekämpften Auseinandersetzung zwischen dem Parlament und der Regierung, zwischen der Demokratie und der Bureaukratie, zwischen der Volksherrschaft und dem Absolutismus. Damit ist uns unsere Aufgabe gestellt: Wir müssen erstens die Bevölkerung verstehen lehren, dass die Völker Oesterreichs sich selbst die demokratische Nationalitätenverfassung schaffen müssen, wenn sie nicht einem bureaukratischen Staatsstreich den Weg bahnen wollen. Wir müssen zweitens unsere internationale Einheit und Geschlossenheit gegen alle Anfechtungen behüten und die internationale Solidarität des Proletariats in einem konkreten gemeinsamen Nationalitätenprogramm anschaulich machen, damit wir als Vorbild, als Führer und Schiedsrichter der nationalen Verständigung dienen, die kommen muss, wenn ein bureaukratisch-militärischer Gewaltstreich verhütet werden soll. Wir müssen schliesslich das Parlament, so sehr es sich selbst geschändet und so wenig es uns gebracht hat, gegen jeden Obstruktionsversuch verteidigen, wenn wir nicht mitschuldig werden wollen an einem Staatsstreich der Bureaukratie.

* * *

Der Erfüllung dieser politischen Aufgaben stehen aber grosse Schwierigkeiten entgegen. Mit dem Grimm der enttäuschten Hoffnung wenden sich die Massen angewidert von dem Treiben des Parlaments ab. Gewiss, nicht wir sind für dieses Treiben verantwortlich: Schuldig sind jene, die sich nicht miteinander vertragen konnten, als sie sich gegen uns vereinigt hatten, und nun nicht arbeiten können, da sie einander zu bekämpfen begonnen haben. Aber das Misstrauen der Massen wird doch auch uns zur Gefahr: Wir haben sie ja in dem Kampfe um das Wahlrecht geführt; wir haben häufiger vielleicht, als notwendig war, vom „Volksparlament“, weniger häufig, als nützlich gewesen wäre, von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit geredet und uns zuweilen gar zu sehr mit dem so bald erniedrigten und entwürdigten Hause identifiziert; wir müssen auch jetzt noch – ja, jetzt, wie wir gezeigt zu haben glauben, erst recht! – an die Verteidigung der Arbeitsfähigkeit des Parlaments einen grossen Teil unserer Kraft verwenden und sind dadurch zu einer parlamentarischen Taktik gezwungen, die den Massen nicht immer leicht verständlich ist.

Diese Schwierigkeiten liegen nun freilich in den Dingen selbst; wir können sie nicht beseitigen. Sie sind um so gefährlicher, weil sie in eine Zeit fallen, in der die Gegner, durch unseren Wahlsieg und durch das Erstarken unserer wirtschaftlichen Organisationen geschreckt, die Kraft ihres Angriffes gegen uns verdoppelt und verdreifacht haben. Wir müssen alle Kraft anspannen, diese Schwierigkeiten zu überwinden. Der Ausbau unserer Organisation und unserer Presse, rege Bildungstätigkeit, vor allem aber die möglichste Ausnützung aller Agitationsmittel, die sich an die breitesten Massen wenden – wir arbeiten nicht überall genug mit grossen Volksversammlungen, überall zu wenig mit Flugblättern, überhaupt ist die ausserparlamentarische politische Aktion gegen die parlamentarische zu sehr in den Hintergrund getreten! – das sind die Mittel, die Schwierigkeiten unserer Situation zu überwinden. Den Zorn der Enttäuschung können wir den Massen nicht ausreden; es gilt, ihn gegen jene zu wenden, die ihnen die furchtbare Enttäuschung bereitet haben!

Gefährlicher aber als aller Zorn ist die Stimmung der Hoffnungslosigkeit, der Verzagtheit, die der Zusammenbruch des demokratischen Parlaments in breiten Schichten der Arbeiterschaft hervorgerufen hat. Sie zu bekämpfen, ist unsere wichtigste Aufgabe!

Wir haben Zeiten, die dieser Stimmung voll waren, schon oft erlebt! Nicht in gerader, allmählich aufsteigender Linie ringt sich die Arbeiterklasse empor. Immer wieder kommen Jahre träger Entwicklung, oft solche des Misserfolges. Aber dann kommt immer wieder der Augenblick, der mit einem Schlage die Massen aufrüttelt und mit einem gewaltigen Ruck uns vorwärts bringt. So war es vor zwei Jahrzehnten, als die erste Maifeier plötzlich Zehntausende zu neuem Leben erweckt hat. So war es im Jahre 1905, als nach langen, traurigen Jahren die Siegesnachricht aus Russland uns plötzlich die Kraft gegeben hat, in einem Anlauf die alten Privilegien niederzurennen. So wird es wieder sein! Wir haben vor kurzem, an Kautskys Weg zur Macht anknüpfend, die Feuerzeichen gezeigt, die allmählich sichtbar werden. Die Verschärfung der Klassenkämpfe in ganz West- und Mitteleuropa, die kriegerischen Rüstungen der imperialistischen Grossmächte, das Erwachen der Nationen im Osten, revolutionäre Bewegungen in fernen Erdteilen – alle diese Ereignisse werden auch uns zum bestimmenden Schicksal werden. Auch hier naht die Zeit der Entscheidung: ob nun die Staatsgewalt als Zwingherr zum Frieden und zur Ordnung den Streit zu lösen versuchen wird oder ob, wenn dieses Ereignis sie bedroht, die Völker selbst zum Umbau des Staates endlich die Kraft und den Mut finden werden, in jedem Falle gehen wir grossen Entscheidungskämpfen, grossen Umwälzungen entgegen. Dann wird der Augenblick gekommen sein, in dem auch die Arbeiterklasse mit einem gewaltigen Schlage sich wieder wird ein grosses Stück davon erobern können, was sie heute entbehrt!

Wenn wir an den kleinen Aufgaben des Tages verzweifeln, so gibt uns der Gedanke an die Periode der grossen Umwälzungen, der wir entgegengehen, wieder Kraft und Mut. Mögen die, die im Besitze sind, vor der nahenden Periode der Revolutionen zittern: wir haben nichts zu verlieren als unsere Ketten. Der Gedanke der Revolution reisst uns heraus aus der unwürdigen Stimmung, in die der Zusammenbruch parlamentarischer Illusionen uns gebracht hat. Und Massen, die eben noch hoffnungslos und verzagt am Kampfe verzweifelt haben, erheben sich wieder, leuchtenden Auges, stolz und hoffnungsfroh, wenn das alte Wort wieder erschallt: Noch sind nicht alle Märzen vorbei!

 


Leztztes Update: 6. April 2024