O. B.

Bücherschau

Tschechische Parteiliteratur

(1. November 1909)


Der Kampf, Jg. 3 Heft 2, 1. November 1909, S. 94–95.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Prager tschechische Parteiverlag veröffentlicht das Protokoll des Prager Parteitages der tschechischen Sozialdemokratie (Preis 80 h). Der Bericht ist ein lehrreiches Dokument des Wachstums und der inneren Entwicklung der tschechischen Bruderpartei.

Ueber den Verlauf des Parteitages hat bereits Genosse Soukup im Kampf berichtet. Wir können uns daher damit begnügen, die Debatte über den wichtigsten Beratungsgegenstand des Parteitages, über die nationale Frage, an der Hand des Protokolls etwas ausführlicher zu schildern.

Der Referent Genosse Šmeral entwarf die Grundzüge eines sozialdemokratischen Nationalitätenprogramms, das, von dem besonderen Klassenstandpunkt der Arbeiterschaft ausgehend, die Politik der tschechischen Sozialdemokratie von der aller bürgerlichen Parteien streng scheiden und die Sozialdemokraten aller Nationen in Oesterreich zu einer einheitlichen Politik auch in den nationalen Angelegenheiten verpflichten soll. Šmeral fordert die Umgestaltung nicht nur der österreichischen Staatsverfassung, sondern der österreichisch-ungarischen Reichsverfassung im Sinne der nationalen Autonomie, die aufgebaut werden soll einerseits auf der demokratischen Selbstverwaltung der national abzugrenzenden Gebietskörperschaften, andererseits auf der Zusammenfassung aller Nationsgenossen ohne Rücksicht auf ihren Wohnsitz in nationalen Personenverbänden. Die nationalen Personenverbände sollen die nationalen und kulturellen Angelegenheiten verwalten, den national abzugrenzenden Gebietskörperschaften sollen alle anderen Zweige der inneren Verwaltung überlassen werden. Von den Vorschlägen Renners unterscheiden sich die Šmerals dadurch, dass Renner die nationalen Personenverbände innerhalb der Gebietskörperschaften konstituieren, Šmeral sie vollständig abseits von der territorialen Verwaltungsorganisation aufbauen will.

Die Opposition gegen diese Vorschläge wurde von den Genossen Hudec, Johanis, Meissner und Modráček geführt. Im Namen dieser vier Genossen erklärte Dr. Meissner Šmerals Vorschläge für unannehmbar. Ein Zukunftsprogramm genüge nicht, wenn es nicht die aktuellen Fragen der Nationalitätenpolitik deutlich und erschöpfend beantworte. Die wichtigste Frage sei der Schutz der nationalen Minderheiten, denen das Recht auf Schulen und die Doppelsprachigkeit der Aemter gesichert werden müssen. Beachtenswert ist, dass Meissner die Notwendigkeit einer Vermittlungssprache anerkannte und dass er forderte, dass an den Minderheitsschulen, in die nur der Unterrichtssprache kundige Kinder aufnommen werden dürften, auch die Sprache der Mehrheit als obligater Gegenstand gelehrt werden müsse. Vanĕk und Krňanský halten schone Zukunftsprogramme für wertlos, es komme auf die konkrete Lösung der Gegenwartsfragen an. Tuzar meinte gar, die nationale Autonomie bedeute in der Praxis überhaupt nichts, was das mährische Beispiel beweise.

Andere Genossen traten der Forderung Šmerals entgegen, dass auch für nationale Angelegenheiten eine einheitliche Taktik der ganzen österreichischen Sozialdemokratie erreicht werden könne und müsse; insbesondere Genosse Nĕmec verteidigte die Autonomie der nationalen Gruppen innerhalb der österreichischen Internationale bei der Entscheidung nationaler Fragen. Einzelne Genossen, besonders Brožík, Tuzar und Prokeš, griffen die deutschen Genossen an, die sich angeblich der Vergewaltigung der tschechischen proletarischen Minderheiten nicht widersetzen, ihnen traten andere Genossen entgegen, die die tschechische Partei vor der Ueberschätzung der nationalen Probleme und vor dem Zusammengehen mit den tschechischen bürgerlichen Parteien warnten, so Rautenkranz, Gruncl, Kovanda. Die Stellung Šmerals verteidigte der Brünner Genosse Burian.

 


Leztztes Update: 6. April 2024