O. B.

Bücherschau

Tschechische Parteiliteratur

(1. Dezember 1909)


Der Kampf, Jg. 3 Heft 3, 1. Dezember 1909, S. 143–144.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In der Akademie setzt Genosse Bohumir Šmeral seine Studien über Die nationale Frage in der Sozialdemokratie bis zum Hainfelder Parteitag fort. Ueber den ersten Teil dieser Studien, der die Stellung der deutschen Arbeiterschaft zu den nationalen Problemen in den Jahren 1867 bis 1874 behandelte, haben wir bereits berichtet. (Kampf II, Seite 238 f.) Šmeral schildert nun die Entwicklung der nationalen Anschauungen innerhalb der tschechischen Arbeiterschaft. Länger als die deutsche blieb die tschechische Arbeiterschaft in der Gefolgschaft des bürgerlichen Nationalismus. Erst das Jahr 1872 bringt den Wendepunkt. Lohnkämpfe zwischen tschechischen Unternehmern und tschechischen Arbeitern, die Einreihung tschechischer Arbeiter in sozialdemokratische Organisationen in Brünn und Wien, die Nachrichten von der Pariser Kommune haben in der Gründungsära einen Teil der tschechischen Arbeiterschaft in das Lager des internationalen Sozialismus geführt. Im Jahre 1872 wurde aus der Redaktion des ersten tschechischen Arbeiterblattes, der Prager Dĕlnické Listy, Barak, der sie noch im nationalistischen Sinne redigiert hatte, hinausgedrängt und das Blatt gewinnt nun den Charakter einer sozialdemokratischen Zeitung. Doch nistet sich auch in der neuen Redaktion der nationale Opportunismus ein, da der tschechischen wie der deutschen Arbeiterschaft ein positives Nationalitätenprogramm fehlte. Den Kampf um das böhmische Staatsrecht lehnten die Dĕlnické Listy nicht ab: „Wir haben freilich kein Wahlrecht und können uns daher an dem Kampfe um die staatsrechtliche Stellung der Länder der böhmischen Krone nicht beteiligen, aber auch das ist eine hinreichende Unterstützung, wenn das arbeitende Volk sich mit denen einverstanden erklärt, die diesen Kampf führen.“ Freilich werde auch das Staatsrecht der Arbeiterschaft nicht helfen; sie werde dann innerhalb des Königreiches Böhmen den Kampf führen, den sie jetzt innerhalb der zentralistischen Verfassung führen müsse. Diese Ansichten hinderten die tschechischen Genossen nicht, mit den Delegierten des von Scheu geführten Flügels der deutschen Genossen im Jahre 1874 auf der Konferenz zu Neudörfel zusammenzukommen. Es wurde die Gründung einer internationalen „Sozialdemokratischen Partei in Oesterreich“ beschlossen, deren Organe die Gleichheit und die Prager Dĕlnické Listy sein sollten. Die Dĕlnické Listy schrieben über diesen Beschluss: „Die österreichische Arbeiterschaft stellt sich auf die Grundlage des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und sie erblickt in der Pflege der Nationalität kein Hindernis des gemeinsamen Strebens nach materieller und geistiger Freiheit und nach den Rechten des Volkes. So ist die Grundlage geschaffen nicht nur zur Lösung der sozialen Frage, sondern auch für den Frieden der Nationen.“ Aber schon nach fünf Monaten, im Oktober 1874, hat die Redaktion der Dĕlnické Listy ihre Ansicht geändert. Sie beginnt nun den Kampf für eine selbständige tschechische sozialdemokratische Partei. Die Partei Oberwinders sei eine Regierungspartei, die Fraktion Scheu stehe den tschechischen Arbeitern näher, aber sie sei zentralistisch, während die tschechischen Arbeiter Föderalisten seien; daher müsse eine selbständige tschechische sozialdemokratische Partei bestehen. Von diesem Augenblick an sprechen die Dĕlnické Listy nur mit auffallender Gereiztheit über die Wiener Bewegung; auch nähern sie sich den Jungtschechen und erklären zeitweiliges Zusammengehen mit ihnen für notwendig. Doch fehlt es nicht an Widerspruch gegen diese Tendenzen: als Konkurrenzorgan gegen die Dĕlnické Listy wird die Budoucnost (Zukunft) gegründet und einer der Gründer erklärte selbst, er sei den Dĕlnické Listy entgegengetreten, weil er ein solidarisches Vorgehen mit den deutschen Genossen wünsche. Ein halbes Jahr später stellen die Dĕlnické Listy ihr Erscheinen ein. Vom Jahre 1875 an wird die tschechische Arbeiterbewegung von schweren Verfolgungen bedrängt. Die Genossen mussten sich auf die Arbeit in kleinen geheimen Organisationen beschränken, die zwar keine Tendenz gegen die deutschen Genossen, aber nur sehr spärliche Verbindungen mit ihnen hatten.

Um das Jahr 1880 zeigen sich bemerkenswerte Anzeichen der Besserung. Die Wiener Wahrheit nimmt sehr entschieden gegen den deutschen Nationalismus Stellung; ja, das Reichenberger deutsche Parteiorgan geht im Kampfe gegen den deutschen Nationalismus so weit, dass es sich sogar mit den tschechischen staatsrechtlichen Forderungen einverstanden erklärt! Die tschechischen Genossen gründen neuerdings die Dĕlnické Listy, die sich als das Zentralorgan der tschechoslawischen Arbeiterpartei in Oesterreich bezeichnen. Sie verkünden das „freie Selbstbestimmungsrecht der Nationen“, verteidigen den Kosmopolitismus und lehnen jedes Zusammengehen mit den bürgerlichen Nationalisten ab. Die Entwicklung wird aber wiederum durch gesteigerte Verfolgungen abgebrochen. Der Streit zwischen den Gemässigten und Radikalen wirft die österreichische Arbeiterschaft wiederum um 15 Jahre zurück.

Noch unmittelbar vor Hainfeld herrscht völlige Unklarheit über das nationale Problem. Im Februar 1887 sagt der tschechische Genosse Körber in Prag, dass die tschechischen Arbeiter es ablehnen, die deutsche Sprache zu lernen. Darauf erwidert Viktor Adler in der Gleichheit, für Oesterreich sei die Sprache der Sozialdemokratie die deutsche, da nur ihre Kenntnis dem Arbeiter die Freizügigkeit gebe und ihm den Zugang zur sozialistischen Literatur erschliesse. Als Deutsche könne es uns gleichgültig sein, ob die Tschechen deutsch lernen, als Sozialdemokraten müssen wir es wünschen. Die deutschen Arbeiter kennen ihre Pflicht als Angehörige einer internationalen Partei, sie müssen aber verlangen, dass diese Pflicht auch von den slawischen Genossen erfüllt werde. Šmeral führt diesen Artikel als Beweis dafür an, welche Unklarheit über die nationale Frage noch unmittelbar vor Hainfeld „selbst in dem genialsten Kopfe“ herrschte. Nur in schwerem Kampfe gegen den nationalen Opportunismus, der zur Zerreissung der Partei führe, könne solche Unklarheit überwunden werden; dieser Entwicklungsprozess sei auch heute, zwanzig Jahre nach Hainfeld, noch nicht vollständig abgeschlossen.

 


Leztztes Update: 6. April 2024