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Der Kampf, Jg. 3 5. Heft, 1. Februar 1910, S. 194–201.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Am 22. Februar feiert die internationale Sozialdemokratie den siebzigsten Geburtstag August Bebels. Lieber die Persönlichkeit Bebels zu sprechen, ziemt uns nicht. Als wir heranwuchsen, haben uns seine Reden, seine Schriften die erste Kunde von dem weltbewegenden Kampfe der Arbeiterklasse gebracht. Seine proletarische Schlichtheit, sein sittliches Pathos, seine sieghafte Leidenschaft, seine zukunftsfrohe Phantasie haben in unsere Seelen Schätze versenkt, die Gewinn sind für immer. Darum standen wir und stehen wir zu sehr in seinem Banne, als dass wir fähig sein könnten, sein Bild zu zeichnen. Aber in dem Monat seines Festes, in dem alle Genossen noch inniger als sonst seiner gedenken, dürfen wir wohl sagen, wie uns, den Jungen, sein Lebenswerk im Zusammenhang der Geschichte unseres Volkes erscheint.
Was ihm Lebenserinnerung, ist uns ja Geschichte geworden, die wir uns gern aus den Erzählungen älterer Genossen, aus längst vergilbten Zeitungsblättern, aus Broschüren und Büchern aufzubauen versuchen. Darum sind uns zur rechten Stunde zwei Bücher erschienen, die anschaulich die Zeiten malen, in denen sich der junge Drechsler, dessen Namen heute die Proletarier aller Länder nennen, vom Liberalismus zum Sozialismus durchgerungen hat. In seinem trefflichem Buche Johann Baptist von Schweitzer und die Sozialdemokratie (Jena, Fischer 1909) hat Gustav Mayer die Keimzeit des deutschen Sozialismus geschildert. Im ersten Bande seiner Aufzeichnungen Aus meinem Leben (Stuttgart, Dietz, 1910) gibt uns Bebel selbst einen unschätzbaren Beitrag zur Geschichte der grossen deutschen Arbeiterpartei. Bunte Bilder einer längst vergangenen Zeit erhellen uns unsere Gegenwart.
Vom Februar 1858 bis zum März 1860 hat Bebel „auf der Walz“ Süddeutschland, Oesterreich, die Schweiz kennen gelernt. Dann kam er nach Leipzig und trat in den Bildungsverein ein. Es war eine grosse Zeit. Im Jahre 1859 war die österreichische Armee bei Magenta und Solferino geschlagen worden. Im März 1863 begann mit dem Offenen Antwortschreiben der grosse Agitationsfeldzug Ferdinand Lassalles. Im September desselben Jahres wurde bei einer Kundgebung gegen den Zarismus, der eben erst den polnischen Aufstand in einem Meer von Blut erstickt hatte, die Gründung der Internationale beschlossen. Zwei Jahre später wurde auf den böhmischen Schlachtfeldern Oesterreich besiegt, die Vorherrschaft Preussens in Deutschland entschieden. Im Jahre 1867 erschien der erste Band des Kapital; eine Fülle neuer sozialer Erkenntnis befruchtete die Arbeiterbewegung. Die Jahre 1870 und 1871 brachten den Deutsch-Französischen Krieg, den Sturz Bonapartes, die Proklamierung der dritten Republik in Frankreich, die Gründung des neuen Deutschen Reiches, die Pariser Kommune. In diese Zeit fielen die politischen Lehrjahre Bebels. Alle grossen Probleme der Demokratie und des Sozialismus haben diese grossen Jahre mit einemmale aufgerollt. Im Ringen um ihre Lösung ist August Bebel geworden, was er ist.
Als Bebel, ein zweiundzwanzigjähriger Jüngling, in den Leipziger Arbeiterbildungsverein eintrat, waren erst 14 Jahre seit den Stürmen von 1848 vergangen. Damals hatten Bürger und Arbeiter zusammen auf der Barrikade gekämpft. Aber der Bund ward zerrissen durch die Selbstsucht der Bourgeoisie. Das besitzende Bürgertum, das im Februar und März die Arbeiter auf die Barrikade geschickt hatte, hat ihren Aufstand im Juni in Paris blutig niedergeschlagen, ihren Heldenkampf im Oktober in Wien schmählich verraten. Nun folgten die Jahre der Gegenrevolution. Anfangs der Sechzigerjahre war die Zeit der Friedhofsruhe vorbei. Ueberall vollzogen nun die Mächte der bürgerlichen Gesellschaft ihren Aufmarsch zu neuen Kämpfen. Da standen auf der einen Seite die Mächte der Gegenrevolution: Napoleon III. in Frankreich, die Junkerregierung Bismarcks in Preussen, der bureaukratische Zentralismus in Oesterreich. Auf der anderen Seite begann sich, durch die schnelle industrielle Entwicklung der Fünfzigerjahre erstarkt, die Arbeiterklasse wieder zu regen. Zwischen der Reaktion auf der einen, dem Proletariat auf der anderen Seite stand die liberale Bourgeoisie: sie wollte die Reaktion bezwingen, in einem parlamentarischen Regime ihre Klassenherrschaft begründen; aber die Freiheit, die sie meinte, schloss die Knechtschaft der Arbeiterklasse ein. In Frankreich bedrohte die republikanische Opposition den Bonapartismus; in Preussen verweigerte die Fortschrittspartei dem Ministerium Bismarck seine Militärforderungen; in Oesterreich sammelten die Kämpfe um die Verfassung, um das Konkordat, um das Militärbudget alle Mächte der höfischen, klerikalen und feudalen Reaktion gegen die junge liberale Parlamentsmehrheit. Ueberall versuchten die Herrschenden, in den Klassen, die der soziale Gegensatz von der liberalen Bourgeoisie schied, Bundesgenossen gegen die liberale Opposition zu werben. Napoleon, der eben erst als der Retter vor dem proletarischen Aufruhr die Stimmen aller Besitzenden auf sich vereinigt hatte, kokettierte mit den Arbeitern, um die bürgerliche Opposition zu schrecken. Bismarck und die preussischen Konservativen spielten die Arbeiterbewegung gegen die Fortschrittspartei aus. In Oesterreich mobilisierten die Feudalen die unterdrückten Nationen und Klassen gegen den deutschen Liberalismus. Sollte die Arbeiterklasse mit der Regierung gegen die Bourgeoisie gehen, um von den Herrschenden soziale Zugeständnisse zu erlangen? Oder sollte sie den Klassenkampf gegen die liberale Bourgeoisie vertagen, im Bunde mit ihr vorerst die reaktionären Gewalten bezwingen, um später im Rahmen eines parlamentarisch regierten bürgerlichen Staates unter günstigeren Bedingungen ihren Klassenkampf beginnen zu können?
Kein Geringerer als Ferdinand Lassalle hat zuerst den Versuch unternommen, den Konflikt zwischen Bismarck und der Fortschrittspartei für die Sache des Proletariats auszunützen. Als die bürgerlich-liberale Mehrheit des Dreiklassenparlaments Bismarcks Militärforderungen ablehnte, versuchte er es, dem grossen Diktator das allgemeine und gleiche Wahlrecht abzulisten. Es war eine Politik, ähnlich der unseren im Jahre 1905, als die Arbeiter Oesterreichs auf der einen, der Kaiser auf der anderen Seite den Widerstand des Privilegienparlaments gegen die Wahlreform brachen.
Dieser Politik, die Lassalle begonnen, Schweitzer fortgesetzt hat, stellte sich Wilhelm Liebknecht entgegen. Er glaubte nicht, dass das gleiche Wahlrecht zur Waffe der Arbeiterklasse werden könnte, wo es den Arbeitern als Gabe der Herrschenden würde. Er hoffte auf die baldige Wiederkehr einer grossen revolutionären Erhebung, wie er sie im Jahre 1848 miterlebt hatte. Er wollte den Kleinbürgern verbündet bleiben, die Bauern nicht abstossen, damit der nahenden Revolution ein starkes Volksheer zu Gebote stehe. Erst wenn in einer neuen revolutionären Erhebung die Macht der gegenrevolutionären Gewalten gebrochen würde, sei der Boden frei zum Entscheidungskampf gegen den Kapitalismus.
Unermüdlich mahnte Liebknecht die Arbeiterklasse: Erwartet nichts von Waffen, die die Herrschenden euch nur schenken, damit ihr ihren Zwecken dient! Die neue Gesellschaft ist unverträglich mit dem alten Staat! Wer die neue Gesellschaft will, muss den alten Staat zertrümmern! Soll die Arbeiterbewegung nicht ein Werkzeug des Zäsarismus sein, so muss sich der Sozialismus an die Spitze aller stellen, die den Kampf gegen die feudale, bureaukratische und militärische Reaktion führen! Und so viel auch von Liebknechts Worten verblasst sein mag im Laufe der Jahrzehnte, so lebt doch ihr Wesenskern auch in uns fort. Wenn die Arbeiter Oesterreichs im Kampfe gegen die feudale und kleinbürgerliche, die klerikale und zünftlerische Reaktion so oft an der Seite der Bourgeoisie standen, die doch unser Feind ist und bleibt, wenn wir einst uns durch kein Arbeiterschutzgesetz und kein Wahlreformprojekt in die Gefolgschaft Taaffes locken liessen und wenn wir heute das bürgerliche Parlament stützen als eine Bastei der Demokratie gegen den Absolutismus, mag die Demokratie auch nur eine bürgerliche Demokratie sein, so lebt darin so manche jener Maximen fort, die einst Liebknecht im Kampfe gegen die Partei Lassalles formuliert hat.
Was sich aber heute, je nach der Umstände Gebot, in der lebendigen Praxis einer Partei vereinigen mag, schied einst in Deutschland die Geister. In diesem Kampfe stand der junge Bebel an der Seite Liebknechts, nicht im Lager Lassalles. Er war Demokrat, ehe er Sozialist geworden; und ein Sachwalter der grossen Ueberlieferung der revolutionären Demokratie ist er im Lager des Sozialismus geblieben. Und wenn er auf dem Dresdener Parteitag in einer Rede, die, was immer bürgerliche Enttäuschung und verbildeter Literaten Unverstand an ihr gemäkelt haben mögen, des Mannes ganzen Wuchs lebendig zeigt, den klügelnden Plan zerrissen hat, mit artigen Gebärden der Herrschenden Gunst für die Arbeiterklasse zu erkaufen, so hat er es getan als der alte revolutionäre Demokrat, der nicht zu handeln, nicht zu paktieren versteht mit den Mächten der Gegenrevolution.
Als Lassalle und Schweitzer über die Köpfe der Fortschrittspartei hinweg mit dem grossen Bismarck verhandelten, ward die bürgerliche Demokratie Deutschlands schier tobsüchtig vor Wut. Ein halbes Jahrhundert später erschien es der bürgerlichen Demokratie ganz unbegreiflich, dass August Bebel vor dem kleinen Bülow sich nicht beugen wollte.
Das politische Problem, das Bebels Lehrjahre erfüllt hat, stand im engsten Zusammenhang mit einer noch grösseren Frage, mit dem grossen Problem unseres nationalen Daseins.
Die Revolution von 1848 war nicht nur eine soziale und politische, sie war auch eine nationale Revolution gewesen. Es war ihr nicht gelungen, Deutschlands Einheit und Freiheit zu verwirklichen. Die Mächte der Gegenrevolution haderten nun um ihr Erbe. Habsburg und Hohenzollern kämpften um die Vorherrschaft in Deutschland. Ein grosses deutsches Reich vom Belt bis zur Adria unter Habsburgs Szepter war das Programm der Grossdeutschen. Ein kleineres, aber im Innern gefestigteres Reich unter Preussens Führung war das kleindeutsche Ziel. Beiden stand die revolutionäre Demokratie gegenüber. Sie wollte nicht das klerikale, zur Hälfte slawische Oesterreich, aber auch nicht den preussischen Junkerstaat als Deutschlands Vormacht sehen. In einer grossen revolutionären Erhebung wollte sie Deutschland von Habsburg und Hohenzollern zugleich befreien, das ganze deutsche Volk von den Gestaden der Ostsee bis zur Etsch und Drau in einer demokratischen Republik vereinigen. Auf die nationale Einheitssehnsucht setzte die Demokratie ihr Hoffnung: nur in einer revolutionären Erhebung konnte ja das deutsche Volk seine volle Einheit und Freiheit verwirklichen. Und dieser nationale Gedanke stand im Einklang mit der grossen Hoffnung der anderen Völker: Italien, Ungarn, Polen rüttelten an ihren Ketten; die Demokratie Englands und Frankreichs war den nationalen Freiheitskämpfern Mitteleuropas eng verbunden. In einer grossen internationalen Erhebung hoffte die europäische Demokratie den Deutschen und ihren Nachbarn im Süden und Osten zugleich die nationale Einheit und Freiheit erobern zu können. Vierzehn Jahre nach 1848 konnte solche Hoffnung nicht als Utopie erscheinen.
In der Gedankenwelt der revolutionären Demokratie ist Bebel gereift. Als Bismarck im Jahre 1866 den entscheidenden Streich gegen Oesterreich führte, stand Bebel bereits an der Spitze der Männer, die, der Ueberlieferung von 1848 treu, der „undeutschen Politik“, die die Deutschen Oesterreichs aus dem Deutschen Reiche ausschliessen wollte, ihre Unterstützung versagten. Und wenn Liebknecht nach Königgrätz schrieb: „Die Tat des Jahres 1866 ist für Deutschland, was für Frankreich der Staatsstreich des 2. Dezember 1851 war; der Staatsstreich Bismarcks gleich dem Napoleons richtete sich gegen die Demokratie“, so erkannte auch Bebel, dass die Hoffnung auf eine demokratische Gestaltung Deutschlands begraben war, wenn die nationale Einheit nicht durch die Revolution, sondern durch die Regierungen der Gegenrevolution, nicht durch das Volk, sondern durch die Fürsten verwirklicht, nicht mit den Fäusten deutscher Proletarier, sondern mit den Bajonetten der preussischen Regierung erobert würde. Noch in den Aufzeichnungen aus seinem Leben, die August Bebel jetzt der deutschen Arbeiterklasse als sein Jubiläumsgeschenk zu eigen gibt, schreibt er:
„Einmal angenommen, Preussen wäre 1866 unterlegen, so wäre das Ministerium Bismarck und die Junkerherrschaft, die noch bis heute wie ein Alp auf Deutschland lastet, fortgefegi worden. Das wusste niemand besser als Bismarck. Die österreichische Regierung wäre nach einem Siege nie so stark geworden, wie das bei der preussischen der Fall war. Oesterreich war und ist nach seiner ganzen Struktur ein innerlich schwacher Staat, ganz anders Preussen. Aber die Regierung eines starken Staates ist für dessen demokratische Entwicklung gefährlicher ... Höchstwahrscheinlich hätte die österreichische Regierung nach einem Siege versucht, in Deutschland reaktionär zu regieren. Aber sie hätte alsdann nicht nur das gesamte preussische Volk, sondern auch den grössten Teil der übrigen Nation, einschliesslich eines guten Teiles der österreichischen Bevölkerung, gegen sich gehabt. Wenn eine Revolution sicher war und Aussicht auf Erfolg hatte, so gegen Oesterreich. Die demokratische Einigung des Reiches wäre die Folge gewesen. Der Sieg Preussens schloss das aus. Und noch ein anderes. Der Ausschluss Deutsch-Oesterreichs aus der Reichsgemeinschaft – von der Preisgabe Luxemburgs nicht zu reden – hat zehn Millionen Deutsche in eine fast trostlose Lage versetzt. Unsere ‚Patrioten‘ geraten in nationale Raserei, wird irgendwo im Ausland ein Deutscher misshandelt, aber an dem Stück kulturellen Mordes, der an den zehn Millionen Deutschen in Oesterreich begangen wurde, nehmen sie keinen Anstoss.“
So zeugt heute noch das Wort des alten deutschen Revolutionärs gegen das Werk Bismarcks, der das Reich nur einigen konnte, indem er die Nation zerriss, der die deutsche Einheit verwirklichte, aber die Hoffnung auf die deutsche Freiheit begrub.
Der Gott der Schlachten hat gegen die deutsche Demokratie entschieden. Das deutsche Bürgertum, das eben noch im erbitterten Kampfe gegen Bismarck gestanden war, floh in das Lager des Siegers. Bebel blieb seiner Sache treu. Es war der alte deutsche Demokrat, der, ein Alter schon mit weissem Haar, im Reichstag ausrief, er wolle selbst noch die Flinte auf den Buckel nehmen, wenn ein Heer des russischen Despoten den Krieg in deutsche Lande tragen wolle. Treu aber blieb er auch der revolutionären Ueberlieferung, dass dem deutschen Volke sein Recht nur werden könne im gemeinsamen Kampfe aller Nationen gegen ihre Bedrücker. Als nach Sedan in Frankreich die Republik ausgerufen wurde, forderte er das Ende des Krieges, der, gegen den Kaiser der Franzosen begonnen, gegen die Republik nicht fortgesetzt werden dürfe. Mit mutigen Worten, die heute wie eine erfüllte Prophezeiung klingen, warnte er vor der Annexion Elsass-Lothringens, die die französische Nation mit unversöhnlichem Deutschenhass erfüllen, die beiden grossen Kulturnationen des Festlandes für Jahrzehnte verfeinden, die Republikaner Frankreichs dem Zaren zu Füssen werfen werde. Heute noch muss die Erinnerung, wie das deutsche Bürgertum in jenen Tagen den mutigen Mann behandelt hat, jedem redlichen Deutschen die Schamröte ins Gesicht treiben. Aber auch in jener Zeit, da das Kriegsfieber die Nation schüttelte, hat sich proletarische Treue, proletarischer Trotz bewährt. Wenige Tage nachdem Frankreich die Abtretung Elsass-Lothringens und die Zahlung einer Kriegsentschädigung von fünf Milliarden bewilligt, schickten die Weber von Glauchau August Bebel, der seit vier Monaten im Gefängnis sass, in den ersten deutschen Reichstag.
Die deutsche Bourgeoisie hat längst das revolutionäre Nationalitätsprinzip vergessen, als dessen Kämpe Bebel von Bismarck besiegt worden ist. Aber in der Geschichte der Völker gibt es kein Vergessen. Wenn das Chaos des Ostens in Bewegung gerät, wenn die Nationen Osteuropas den Kampf um die Neugestaltung ihres nationalen Lebens beginnen, wenn für Europa wiederum ein Zeitalter der Kriege, der Revolutionen, der staatlichen Neubildungen anhebt, dann leben die Gedanken wieder auf, die einst die Jugend des Mannes erfüllt haben, den heute als den letzten Erben der deutschen Demokratie die Arbeiter Deutschlands ehren.
Mit der demokratischen Ueberlieferung der revolutionären Vergangenheit hat Bebel die sozialistische Ueberzeugung der proletarischen Zukunft unlösbar verknüpft. Wie er allmählich, Schritt für Schritt, vom Liberalismus zum Sozialismus sich entwickelte, so spiegelt sich in dieser Entwicklung des einzelnen die ganze Geistesgeschichte des deutschen Proletariats.
Im Kampfe gegen die Lassalleaner hat Bebel die Schriften Lassalles kennen gelernt. Ueber Lassalle ist er, so sagt er selbst, zu Marx gekommen. In der unfreiwilligen Musse des Gefängnislebens fand er Zeit und Ruhe, das Kapital zu lesen. Seit jener Zeit ist er, ein Apostel des Sozialismus, durch alle deutschen Lande gezogen. Ich habe Redner gehört, die lehrhafter als er die theoretischen Gedanken des wissenschaftlichen Sozialismus der proletarischen Masse zu erläutern wissen, Redner, die witziger als er die Scheinargumente der Gegner zerpflücken, den Gegner dem Gespött preiszugeben, Redner, die wirksamer als er süddeutsche Heiterkeit im Kreise der Hörer zu verbreiten vermögen; aber ich habe keinen gehört, der, so wie er, den Glauben an die grosse Zukunft zu erwecken verstanden hätte, in der es nicht Herren noch Knechte, nicht Reiche noch Arme geben wird, die unerschütterliche Siegesgewissheit, das trotzige „Es ist kein Bitten, es ist kein Flehen, es ist der Geschichte ehernes Muss“. Das Vertrauen in die umwälzende Kraft einer weltgeschichtlichen Entwicklung, die über alle Listen und Ränke, über alle Lügen und Tücken, über alle Verbrechen und Gewalttaten derer, die sich ihr entgegenwerfen, triumphieren, alle Hindernisse niederreissen wird und muss, ist das Wertvollste, was uns das Lebenswerk von Karl Marx gegeben hat; dieser Glaube ist die Wunderkraft, die Tausende schlichter Arbeiter aufrecht erhalten hat in den schlimmsten Tagen; diesen Glauben hat keiner zu erwecken, zu verbreiten, zu vertiefen gewusst wie August Bebel.
Man hat zuweilen an Bebels Sozialismus gemäkelt, hat von ihm gesagt, dass ein gutes Stück der Utopie sich in ihm mit dem wissenschaftlichen Sozialismus verknüpft habe. Mag sein. Aber wer so redet, müsste begreifen, dass nur der bildhafte Sozialismus die Seelen der Menschen zu erobern vermag. Nicht der abstrakte Begriff, nur die anschauliche Vorstellung ergreift, erobert die Massen. Die Furcht vor dem Zukunftsbild war eine wohlbegründete Reaktion gegen die Phantasiegebilde der Utopisten. Heute hat der wissenschaftliche Sozialismus den Rückfall in die Utopie wahrhaftig nicht mehr zu fürchten. Viel grösser scheint uns die Gefahr, dass uns in der Beschäftigung mit den kleinen Gegenständen des Alltags das grosse Ziel zu sehr verblasst, dass der Sozialismus zum leeren Begriff wird, das die Phantasie der Arbeiter nicht mehr anzuregen, ihrem Fühlen und Hoffen nichts mehr zu sagen vermag. Die kleine Sekte ist allmählich zur gewaltigen Millionenpartei geworden; kein Wunder, dass das religiöse Element im Sozialismus in dem nüchternen Alltagsleben der politischen Partei nicht immer und überall zu bestehen vermochte. Und doch gibt auch uns nur der Glaube – der Glaube freilich, der aus der Wissenschaft erfliesst – die Kraft, die Berge versetzt. Eine nüchterne Reformpartei hätte das Sozialistengesetz nicht überwunden.
Was in Bebels Jugendzeit erst schüchtern hervortretende Entwicklungstendenz war, die nur das Genie eines Marx zu erkennen vermochte, ist heute lebendige, augenfällige Wirklichkeit geworden. In der Welt der Kartelle und der Trusts, der grossen Aktiengesellschaften und Banken, in der Gesellschaft, in der der Klassengegensatz von Tag zu Tag deutlicher alles soziale Leben beeinflusst, in unserem Zeitalter des ungeahnt schnellen Erwachens und Reifens des Proletariats, seiner beispiellosen Selbsterziehung in gewaltigen Organisationen, wie sie die Geschichte nie gesehen – in einer solchen Zeit treten uns die Elemente der nahenden Zukunftsgesellschaft greifbar vor Augen. Nichts lächerlicher heute als die Furcht vor der Utopie, da Tag für Tag die Utopie zur Wirklichkeit wird.
Die revolutionäre Demokratie ist mit dem wissenschaftlichen Sozialismus eins geworden. Aber noch hatte ihr Bund die grösste Gefahr zu bestehen: die Gefahr, dass der innige Glaube einer machtlosen Sekte bleiben könnte, was die reife Ueberzeugung des ganzen Proletariats zu werden bestimmt war. Dass diese Gefahr gebannt wurde, daran hat keiner grösseren Teil als August Bebel.
Es war vielleicht einer der wichtigsten Augenblicke in der Geschichte des deutschen Sozialismus, als der norddeutsche Reichstag im Jahre 1869 die Beratung der Gewerbeordnung begann. Die Gefahr lag nahe genug, dass die revolutionäre Demokratie, die dem Norddeutschen Bund feindlich gegenüberstand, es ablehnen werde, an der Beratung dieses die unmittelbarsten Interessen der Arbeiterklasse berührenden Gesetzes mitzuarbeiten. In der Tat lehnte Liebknecht jede Mitwirkung ab. „Den im Reichstag fast ausschliesslich vertretenen herrschenden Klassen gegenüber ist der Sozialismus keine Frage der Theorie mehr, sondern einfach eine Machtfrage, die in keinem Parlament, die nur auf der Strasse, auf dem Schlachtfelde zu lösen ist, gleich jeder anderen Machtfrage." Erfüllt von der Hoffnung auf die nahende deutsche Revolution, lehnte Liebknecht die Beteiligung an der parlamentarischen Arbeit ab: „Wer mit Feinden parlamentelt, parlamentiert; wer parlamentiert, paktiert. Verhandeln kann man nur, wo eine gemeinsame Grundlage besteht. Mit prinzipiellen Gegnern verhandeln, heisst sein Prinzip opfern.“ In dieser Frage hat sich damals Bebel von dem älteren Genossen getrennt.
Arbeiterinteressen standen auf dem Spiele – da musste der Arbeiter, der Erwählte der Arbeiter, tun, was immer er konnte, die Interessen des Proletariats zu vertreten. Die Verbesserungsanträge zur Gewerbeordnung, die Bebel damals gestellt hat, sind nicht nur wegen ihres Inhalts denkwürdig, nicht etwa nur darum, weil es ihm damals schon gelungen ist, die norddeutschen Arbeiter von der Fessel des Arbeitsbuches zu befreien, die die Arbeiter Oesterreichs heute noch am Fusse schleppen, sie sind denkwürdig vor allem darum, weil mit ihnen die Jahrzehnte dauernde parlamentarische Arbeit der Sozialdemokratie für die Interessen des Proletariats begonnen ward. In dieser Arbeit hat sich die Sozialdemokratie das Vertrauen der Arbeiterklasse verdient und erworben.
Die Einheit der Arbeiterbewegung und des Sozialismus ist von Marx theoretisch begründet worden – dass der Sozialismus das Ziel jeder Arbeiterbewegung sein muss, dass nur die siegende Arbeiterklasse den Sozialismus verwirklichen kann, ist der Grundgedanke des Marx’schen Sozialismus. Aber die Einheit der Arbeiterbewegung und des Sozialismus, theoretisch als notwendig erwiesen, musste erst in mühevoller Arbeit zur Wirklichkeit werden. Diese Arbeit ist erst möglich geworden, als die Sozialisten die Pflicht übernahmen, die Sache des Proletariats als die eigene zu führen, auf welchem Boden, mit welchen Mitteln, unter welchen Umständen immer. Dass dies in Deutschland geschehen, rechtzeitig geschehen ist, ist Bebels Werk.
Bebels ganzes Leben von diesem Tage an war der sozialen Reform geweiht. Sein Beispiel hat in Deutschland selbst zahlreiche Schüler, in allen Ländern, in denen Sozialdemokraten leben, eifrige Nachahmer gefunden. Die Frucht dieser Arbeit ist das grosse Gebäude der Arbeiterschutzgesetzgebung, der Arbeiterversicherung, der sozialen Verwaltung im Reiche – ohne die Sozialdemokratie keine Sozialreform, so hat es Bismarck selbst bezeugt. In dieser fruchtbaren Reformarbeit hat sich Bebels Fleiss und Scharfsinn am schönsten bewährt. Er ist der Verfasser des bekannten Arbeiterschutzgesetzentwurfes der Reichstagsfraktion. Er hat 1877 die Anregung zur Gründung des deutschen Reichsgesundheitsamtes gegeben. Seiner Schrift über die Missstände in den Bäckereien dankt die amtliche Arbeitsstatistik ihr Dasein – sie ist geschaffen worden, um Bebels Anklagen zu prüfen. Dieselbe Schrift hat zur Schaffung der gesetzlichen Bestimmungen über den sanitären Normalarbeitstag geführt. „Der einzige Abgeordnete, den wir im Bundesrate fürchten, ist Bebel“, gestand einmal der Direktor im Reichsamte des Innern, Woedtke. Bebels Kampf gegen Stumm, den König der Scharfmacher, hat Tausende deutscher Arbeiter aufgerüttelt. Seine Anklagereden gegen den Militarismus haben mehr als alle Gesetze, Erlässe, Gerichtsverhandlungen zur Ausrottung der Soldatenmisshandlungen beigetragen. Wie im Reichstag so ausserhalb des Parlaments: Den deutschen Gewerkschaften hat Bebel tausende von Mitgliedern geworben. Noch in den letzten Jahren ist er gerufen worden, wenn es galt, in einer von inneren Kämpfen erschütterten Organisation die gewerkschaftliche Disziplin wiederherzustellen. Und doch sind die Befürchtngen längst widerlegt, die Liebknecht im Jahre 1869 an den Beginn dieser Reformarbeit geknüpft hat. Bebel, der Pfadfinder proletarischer Reformarbeit auf dem Boden des Parlamentarismus, ist doch der grosse Werber der sozialen Revolution geblieben. Als nach Jahrzehnten träger Entwicklung des staatlichen Lebens der Kleinmut in unsere Reihen einzudringen begann, hat sich der ewig Junge den Kleinmütigen mit seiner ganzen Leidenschaft, seiner unbeugsamen Zuversicht entgegengestellt. Als die allzu Bescheidenen den grossen Gedanken der Vergesellschaftung der Arbeitsmittel um den Bettelpfennig von ein paar Reförmchen preiszugeben schienen, donnerte er ihnen in Hannover sein „Es bleibt bei der Expropriation!“ entgegen. Als die Furchtsamen die Sache der Arbeiterklasse nur durch Kompromisse mit der bürgerlichen Welt fördern zu können meinten, war er es, der ihnen zurief: „Ich will der Todfeind dieser bürgerlichen Gesellschaft und dieser Staatsordnung bleiben, um sie in ihrer Existenzbedingung zu untergraben, und sie, wenn ich kann, beseitigen.“
In Dresden hat Bebel von dem „alten idealen revolutionären Standpunkt“ gesprochen. Das Wort sagt tiefere Wahrheit, als er selbst vielleicht in jenem Augenblick geahnt hat. Denn die ganze Grundrichtung seines Wesens, dem alles, was geschieht, wertlos ist, soferne es nicht seinen Wert an dem Prinzip, an dem letzten von der Vernunft erkannten Zwecke zu rechtfertigen vermag, das auch das Kleine in Treue und mit Fleiss tut, aber auch von dem Kleinen heischt, dass es sich einordne einem grossen System der Zwecke, das im obersten Zweck, in der letzten Aufgabe allein seine Rechtfertigung finden kann, diese ganze Weise des Wertens ist nichts anderes als das unvergängliche Erbe des alten deutschen Idealismus, der, verraten und verlacht vom deutschen Bürgertum, seine^ Heimstätte gefunden hat in der deutschen Sozialdemokratie.
Aber wenn wir Bebel als den alten Demokraten, als den Erben der deutschen Revolution, als Sozialisten, als Parlamentarier kennen, so fehlt uns noch die Erkenntnis der tiefsten Wurzel seines Denkens und Fühlens, seines Wirkens, seines beispiellosen Erfolges. Auf sie stossen wir erst, wenn wir uns seines Verhältnisses zur proletarischen Masse erinnern.
Bebel fehlt viel von dem, was Marx, Engels, Lassalle, Liebknecht, was Jaures, Guesde, Kautsky, Adler, Vandervelde adelt. Aber eines hat er vor ihnen allen voraus: Selbst ein Arbeiter, ist er der Seele des Proletariats stets näher gewesen als sie. Des Arbeiters Schicksal hat er selbst erfahren; Elend, Hunger, Arbeitslosigkeit, den hoff nungslosen Daseinskampf des kleinen Meisters, die Leiden des verfolgten, vom Bürgertum boykottierten, von den Schergen des Klassenstaates verfolgten Agitators selbst erlebt. So fühlt er auch heute noch wie die Arbeiter selbst. Er kann nicht nur mit ihnen kämpfen, mit ihnen lieben und hoffen, er kann auch, was so wichtig ist und gerade der Politiker so leicht verlernt, mit ihnen hassen. Man muss ihn hören, wenn sein Temperament einmal die Zügel zerreisst: „Auch heute noch, nachdem alle diese Verfolgungen vorüber sind, ohne dass sie mir geschadet haben, wenn da meine Gedanken auf den kleinen Belagerungszustand zurückkommen und ich mir vergegenwärtige, wie wir aufs Polizeibureau kommandiert, dort wie Verbrecher unters Metermass gesteht und abgemessen wurden, wie wir photographiert wurden und unser Signalement aufgenommen wurde und wie es dann hiess, binnen drei Tagen macht ihr, dass ihr zum Tempel hinauskommt, das vergesse ich in meinem Leben nicht. Und wenn ich es je erleben sollte, dass der Tag käme, dass ich denen, die dann noch leben, sagen könnte: Jetzt will ich euch einmal zeigen, was ihr damals getan – ich tät’s!“ Das ist so gar nicht nüchtern, nicht abgeklärt. Aber es ist die Seele des deutschen Arbeiters, aus der diese Leidenschaft quillt.
So durch sein Innerstes der Klasse verbunden, aus der er hervorgegangen ist, liebt er die Masse. Da hat einmal ein kleiner Literat, der seither in das bürgerliche Lager heimgefunden hat, in einer bürgerlichen Zeitschrift erzählt, der Parteiführer könne der Masse nicht immer die volle Wahrheit sagen; er müsse manches verschweigen, manche Illusion unzerstört lassen. In dem Artikelchen barg sich vielleicht ein Körnchen Wahrheit, zwar unziemlich gesagt, aber vermutlich nicht sehr böse gemeint und jedenfalls schon wegen des höchst unbeträchtlichen Persönchens des Verfassers nicht sonderlich beachtenswert. Aber wie brauste da der Alte auf! Er war im Innersten verletzt, dass einer die Masse als eine klug gegängelte Herde hinzustellen gewagt!
Und wie er die Arbeiter liebt, so lieben sie ihn. Wenn der deutsche Arbeiter sich dieses Lebens erinnert, der Armenschule in Wetzlar, die die Waise eines Unteroffiziers besucht hat, der Drechslerwerkstätte, in der der Lehrhub seine Jugend verbracht, der Wanderjahre des jungen Handwerksburschen, der sich durch halb Deutschland durchgehungert und durchgebettelt hat, und wenn er nun den Greis sieht als einen der Grossen, die dem Deutschland unserer Tage das Gepräge ihres Geistes aufgedrückt haben, dann muss ihm dieses reiche Leben als ein Symbol des Aufstieges der ganzen Klasse erscheinen.
So verknüpft das Band persönlicher Liebe Bebel mit der Masse. Sie ist das Geheimnis seines beispiellosen Erfolges. So ist er der „Erwecker schlafender Seelen“ geworden, wie der Pfarrer Naumann ihn einmal genannt hat, der grosse Agitator und Organisator, der heute an der Spitze der grössten Partei Europas steht.
Bebel gehört der Internationale. Seine Macht reicht weit über Deutschlands Grenzen. In allen Industriegebieten der Welt ahmt proletarische Agitations- und Organisationsarbeit sein Beispiel nach, in allen Kultursprachen sprechen seine Schriften und Reden zu zahllosen Arbeitern, bei allen Walden, in allen Parlamenten folgen die Arbeiterparteien der Taktik, zu der er die Grundlage geschaffen. Und wenn die Delegierten der Proletarier aller Länder zu ernsten Beratungen zusammenkommen, gilt ihr erster, ihr innigster Gruss dem alten Heerführer des deutschen Proletariats.
Aber vor allem gehört dieser „vaterlandslose Geselle“ doch uns Deutschen. Wer seines Wesens Wurzeln sucht, wird sie finden in der deutschen Arbeiterklasse, in den grossen Ueberlieferungen der deutschen Demokratie, in der ergreifenden Tragödie der deutschen Revolution, im deutschen Idealismus und in der deutschen sozialistischen Wissenschaft. Und wie er nur aus Deutschlands Geschichte zu verstehen ist, so wird er einst späteren Geschlechtern als einer der grossen Gestalter von Deutschlands Geschichte erscheinen. Er ist einer der Männer, deren sich die bestimmenden Kräfte der Geschichte bedienen, ein neues, ein anderes Deutschland vorzubereiten.
Darum ist sein Jubeltag ein Festtag der deutschen Demokratie, die längst eins ist mit der deutschen Arbeiterklasse, mit dem deutschen Zweige der proletarischen Internationale. Deutlicher noch als unsere Brüder im Reiche fühlen wir es, die seines grossen Gegners Staatskunst aus dem Gemeinwesen der deutschen Nation ausgeschlossen hat. Sonst gezwungen, unsere eigenen Wege zu gehen, fühlen wir es an Tagen, die wahrhaft nationale Festtage sind, dass, wie Kürnberger sagte, „kolorierte Landkarten deutsch von deutsch nicht trennen können“. Bei der grossen Heerschau des deutschen Proletariats ziehen auch wir an dem greisen Heerführer vorbei; grüssend senken auch wir vor ihm unsere Fahnen.
Leztztes Update: 6. April 2024