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Der Kampf, Jg. 4 2. Heft, 1 November 1910, S. 94–95.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Der russische Zarismus hat die Juden in Russland der Freizügigkeit beraubt und ihnen ein eng umgrenztes Gebiet als „Ansiedlungsrayon“ zugewiesen. Durch die Konzentration der Juden in einem engen Gebiete wurden die Konkurrenzkämpfe zwischen Juden und Slawen verschärft, die wirtschaftliche und kulturelle Angleichung der Juden an die slawische Umgebung wurde erschwert. Daher erstarkt einerseits der Antisemitismus, anderseits der jüdische Nationalismus im ganzen russischen Reiche. Innerhalb der polnischen Demokratie in Russisch-Polen vertritt Herr Niemojewski, der Herausgeber des Warschauer Freidenkerblattes Mysl niepodlegla, die antisemitische Richtung: er kämpft für die Befreiung des polnischen Liberalismus und des polnischen Sozialismus vom „Einfluss des Judentums“. Seine Angriffe richtet er vor allem gegen die polnische Sozialdemokratie: sie habe – die Argumente der Nationalisten sind überall dieselben! – für die nationalen Ideale des polnischen Volkes kein Verständnis, weil sie „verjudet“ sei. Um diese nicht sehr originelle Behauptung zu stützen, beruft sich Herr Niemojewski auf – die österreichische Sozialdemokratie im allgemeinen und auf meine Nationalitätenfrage im besonderen. Den bösen polnischen werden die braven österreichischen Sozialdemokraten als leuchtendes Beispiel vorgehalten.
Es ist nicht sehr verlockend, mit Herrn Niemojewski zu polemisieren. Herr Niemojewski spricht von der österreichischen Sozialdemokratie, obwohl er uns so wenig kennt, dass er offensichtlich Max Adler mit Viktor Adler verwechselt! Er spricht von meinem Buche; aber er gibt seinen Inhalt ganz unrichtig wieder. Trotzdem kann ich aus zwei Gründen nicht dazu schweigen, dass Herr Niemojewski meinen Namen missbraucht: einmal deshalb, weil zwischen mir und der Genossin Rosa Luxemburg, mit deren Schriften der polnische Freidenker mein Buch vergleicht, in der Tat Meinungsverschiedenheiten über einzelne Probleme des Sozialismus bestehen und ich daher fürchten muss, dass der Versuch eines bürgerlichen Politikers, mich gegen polnische Parteigenossen auszuspielen, mit einem Schein von Recht unternommen werden könnte; zweitens darum, weil dieselben Argumente, die Herr Niemojewski gebraucht, leider auch in der Polemik der „Polnischen Sozialistischen Partei“ gegen die „Sozialdemokratie des Königreichs Polen“ gebraucht werden und aus dieser Fraktionspolemik innerhalb des polnischen Sozialismus in Russland auch in die galizische Parteipresse eingedrungen sind.
In West- und Mitteleuropa sind die Juden in der Kapitalistenklasse sehr stark vertreten. Sehr oft steht hier dem arischen Arbeiter der jüdische Fabrikant, dem arischen Handwerker der jüdische Zwischenhändler, dem arischen Bauern der jüdische Wucherer gegenüber. Der Antisemitismus war hier nichts anderes als der erste naive Ausdruck des Antikapitalismus. Die Sozialdemokratie hatte hier nicht die Aufgabe, das jüdische Kapital gegen seine Gegner zu beschützen, sondern nur die, die Massen zu lehren, dass das jüdische Kapital bekämpft werden muss, nicht weil es jüdisch, sondern weil es Kapital ist. Schon Marx’ Judenfrage hat uns von dem liberalen Philosemitismus schroff geschieden. Eine „Judenschutztruppe“ ist die Sozialdemokratie nie gewesen. In West- und Mitteleuropa gibt es für sie keine andere „Judenfrage“ als die, wie wir möglichst schnell und möglichst wirksam an die Stelle des kleinbürgerlichen Kampfes gegen das jüdische Kapital den proletarischen Kampf gegen den Kapitalismus überhaupt stellen können.
Anders in Osteuropa. Dort lebt ein zahlreiches jüdisches Proletariat und ein jüdisches Kleinbürgertum, das sehr schnell proletarisiert wird. Die jüdische Volksmasse hat dort noch ihre eigene Sprache (den „Jargon“, eine mit slawischen und hebräischen Wörtern vermengte deutsche Mundart) und eigene Sitten. Dadurch wird die Vereinigung der jüdischen Proletarier mit ihren slawischen Klassengenossen zum gemeinsamen Klassenkampf sehr erschwert. Der Antisemitismus wirkt dort nicht als Antikapitalismus, sondern als Nationalismus, der die Arbeiter spaltet. Soll das Proletariat der osteuropäischen Nationen zum gemeinsamen Klassenkampf vereinigt werden, dann muss der Antisemitismus, der die jüdischen Proletarier abstosst, ebenso bekämpft werden wie der jüdische Nationalismus, der sie von ihren slawischen Brüdern trennen will. Darum halte ich es für gefährlich, wenn die inneren Kämpfe innerhalb des Sozialismus in Russisch-Polen auch noch durch eine antisemitelnde Phraseologie vergiftet werden, die einerseits das polnische Proletariat mit Misstrauen gegen die jüdischen Arbeiter erfüllen, anderseits die jüdischen Arbeiter selbst dem jüdischen Nationalismus in die Arme treiben muss. In Galizien ist diese Gefahr eben jetzt doppelt zu fürchten, da die nationalistischen Tendenzen in der jüdischen wie in der ruthenischen Intelligenz an dem tschechischen Separatismus ein verlockendes Beispiel finden. Unsere polnischen Genossen in Galizien wissen sehr wohl, wie sehr die Spaltung der Arbeiter in dem industriearmen Lande der Arbeiterbewegung schaden würde.
Es ist nicht mein Wunsch und nicht meine Aufgabe, mich in den polnischen Parteistreit einzumengen. Aber ich verwahre mich dagegen, dass mein Name für Tendenzen missbraucht wird, die ich für schädlich halte. Die Ehre, Herrn Niemojewskis Eideshelfer zu sein, beanspruche ich nicht.
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Leztztes Update: 6. April 2024