O. B.

Rundschau

Die Ausgeschlossenen

(1. November 1910)


Der Kampf, Jg. 4 2. Heft, 1 November 1910, S. 93.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die grosse Debatte auf dem österreichischen Gewerkschaftskongress hat vor der ganzen Oeffentlichkeit die furchtbare Erbitterung aufgedeckt, die einen grossen Teil der tschechischen Arbeiterschaft erfüllt. Die tschechische Sozialdemokratie hat Hass gesät und Hass geerntet. Hat schon der Kampf um die Gliederung der gewerkschaftlichen Organisation die tschechische Arbeiterschaft in zwei feindliche Lager geschieden, so haben die willkürlichen Ausschliessungen aus der tschechischen Partei den sachlichen Gegensatz zu persönlicher Feindschaft gesteigert. Die deutschen Genossen werden die erbitterte Stimmung der tschechischen Zentralsten begreifen, wenn sie erfahren, wer die Männer sind, die aus der tschechischen Partei ausgeschlossen wurden.

Von den Genossen, die die Kreis exekutive der tschechischen Sozialdemokratie in Brünn ausgeschlossen hat, ist der Genosse Jura in den weitesten Kreisen bekannt. Jura ist seit dem Jahre 1885 in der Brünner Organisation tätig. Aus der Organisation der Schneider hervorgegangen, ist er an der Wiege vieler gewerkschaftlicher und politischer Organisationen gestanden. Im Jahre 1890, als die erste Maifeier die österreichische Arbeiterschaft aufrüttelte, lernte er zum erstenmal die Justiz des Klassenstaates kennen. Seit dem Jahre 1892 ist er auch journalistisch tätig, zuerst als Mitarbeiter des tschechischen Fachblattes der Schneider, später auch als Mitarbeiter der Rovnost und anderer Partei- und Gewerkschaftsblätter. Im Jahre 1893 wurde er Vertrauensmann der Gewerkschaftskommission. In demselben Jahre nahm er an dem Budweiser Parteitag teil, auf dem die tschechische Sozialdemokratie sich konstituierte. ^ Seit dieser Zeit war er bis zu seiner Ausschliessung Mitglied der tschechischen Reichsparteivertretung; auch der mährischen Landesparteivertretung der tschechischen Partei hat er angehört. Im Jahre 1897 wurde er Sekretär der mährischen Landesgewerkschaftskommission. Im Jahre 1899 war er an der Leitung des grossen Brünner Textilarbeiterstreiks beteiligt. Während des grossen Bergarbeiterstreiks im Jahre 1900 leitete er den Streik im Karwiner Revier. Während des Wahlrechtskampfes war er Referent bei vielen Versammlungen und Demonstrationen. So hat Jura die ganze Geschichte des tschechischen Proletariats miterlebt, an dem Aufbau seiner Organisation seit fünfundzwanzig Jahren an führender Stelle mitgearbeitet. Und dieser Mann wurde nun ohne schiedsgerichtliches Verfahren durch einfachen Beschluss einer Kreisexekutive aus der Partei ausgeschlossen!

Ebenso ist es dem Genossen Merta ergangen. Tischler von Beruf, ist Merta der Gründer der Brünner Organisation der Holzarbeiter. Er war Mitglied der mährischen Landesgewerkschaftskommission seit ihrer Gründung und ist heute ihr Obmann. Auch er hat an einigen tschechischen Fachblättern mitgearbeitet, insbesondere an den Fachblättern der Ziegelarbeiter und der Handels- und Transportarbeiter. Aber auch in der politischen Organisation ist er stets an führender Stelle gestanden. Er hat viele politische Organisationen gegründet und war bis zum April Sekretär der politischen Landesorganisation unserer tschechischen Genossen in Mähren und Mitglied der tschechischen Reichsparteivertretung. Auch er ist nun aus der Partei ausgeschlossen worden!

Aber auch die anderen Genossen, die die tschechische Partei aus ihren Reihen gewiesen hat, waren ausnahmslos Vertrauensmänner der gewerkschaftlichen, viele von ihnen auch Vertrauensmänner der politischen Organisation. Und zu den führenden Genossen kommt noch die Masse, die in den Brünner und Olmützer politischen Organisationen vereinigt war; diese Organisationen hat die tschechische Partei ohne schiedsgerichtliches Verfahren einfach für aufgelöst erklärt, wie etwa ein österreichischer Bezirkshauptmann eine Gemeindevertretung auflöst!

Jura, Merta, Veskä und alle die anderen sind aus der tschechischen Partei ausgeschlossen. Vanek, der Herausgeber des Inseratenblattes Reklama, das mit der Losung „Svüj k svemu“ die Annoncen tschechischer Unternehmer sammelt, ist heute der Führer der tschechischen Sozialdemokratie in Mähren! Dürfen wir uns wundern, wenn die tschechischen Zentralisten von einer Erbitterung erfüllt sind, die den Friedensschluss furchtbar erschwert?

 


Leztztes Update: 6. April 2024