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Der Kampf, Jg. 4 2. Heft, 1. November 1910, S. 92–93.
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Franz Mehring hat vor wenigen Monaten geschrieben, die österreichische Arbeiterklasse besitze „den beneidenswerten Vorzug, über den qualitativ und quantitativ beträchtlichsten Nachwuchs an Marxisten zu gebieten“. Leider kann diesen Ruhm nur die deutsche Arbeiterklasse in Oesterreich in Anspruch nehmen. Die tschechische Sozialdemokratie ist in der Marxschen Schule noch nicht vertreten. Desto grösser war unsere Freude, als die neueren Arbeiten des Genossen Edmund Burian die Hoffnung erweckten, in ihm werde das tschechische Proletariat den Mann finden, der den wissenschaftlichen Sozialismus der tschechischen Arbeiterklasse vermählen werde. Seine Sozialistischen Episteln (vergleiche Der Kampf, I., Seite 42) und sein Büchlein über die Nationalitätenfrage (vergleiche Der Kampf, III., Seite 480) ragen über das leider nicht sehr hohe Durchschnittsniveau der tschechischen Parteiliteratur beträchtlich empor; seine Abhandlungen über theoretische Probleme, die er in der Akademie und in der Rovnost veröffentlicht hat, haben uns bewiesen, dass endlich auch die tschechische Partei einen Mann gefunden hat, dem die Beschäftigung mit den kleinen Problemen des Alltags den Sinn für den Ausbau des wissenschaftlichen Sozialismus nicht ertötet hat. Wir haben in Burians Arbeiten nicht mehr als tüchtige Leistungen eines Anfängers erblickt; aber zu froher Hoffnung für die Zukunft haben sie uns ermutigt.
Aber Burian hat eine schwere Sünde gegen die Prager Parteileitung begangen: In seiner Broschüre über die Nationalitätenfrage hat er sich zu der Ueberzeugung bekannt, dass die Interessen der Arbeiterklasse Oesterreichs nur durch internationale zentralisierte Gewerkschaften verfochten werden können. Er gab dieser Ueberzeugung Ausdruck, ohne die separatistische Parteimehrheit anzugreifen; er forderte, dass durch Umgestaltung des inneren Aufbaues der Reichsgewerkschaften den tschechichen Arbeitern die Rückkehr in die internationalen Organisationen erleichtert werde. Aber milde in der Form, blieb er doch entschieden in der Sache. Das haben ihm die Machthaber in der tschechischen Sozialdemokratie nicht verziehen.
Burian war seit elf Jahren Redakteur der Rovnost in Brünn. Da er der Forderung, er möge wider seine Ueberzeugung seine Feder in den Dienst der separatistischen Aktion stellen,
mutig Widerstand leistete, wurde er zunächst des Einflusses auf die Politik und die Schreibweise des Blattes beraubt. Wo Tusar regiert, muss ein Marxist natürlich schweigen. Aber noch blieb Burian ein unerwünschter Gast im Redaktionskörper des Brünner Blattes. Und da er dem freundschaftlichen Rat, um seine Entlassung zu bitten, nicht nachkam, ging die tschechische Landesparteivertretung endlich daran, sich des Mannes, der sich dem Stab des separatistischen Blattes so schlecht einfügte, zu entledigen. Burian wurde entlassen. Er verlässt die Redaktion des Parteiblattes, für das er elf Jahre lang gearbeitet hat. Für Marxisten ist in der tschechischen Parteipresse kein Raum.
Leztztes Update: 6. April 2024