O. B.

Rundschau

Antiklerikale Kartelle

(1. Jänner 1911)


Der Kampf, Jg. 4 4. Heft, 1. Jänner 1911. S. 45–46.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Im Jahre 1899 berief der französische Ministerpräsident Waldeck-Rousseau den Herrn Millerand, der sich damals noch als Sozialist gebärdete, in sein Ministerium und bildete eine Regierung, die sich auf den sogenannten Block, den Bund der französischen sozialistischen Partei mit der antiklerikalen Bourgeoisie stützte. Wenige Jahre später wurde das Experiment unter dem Ministerium Combes wiederholt. Aber der Klassengegensatz hat den antiklerikalen „Block“ gesprengt. Derselbe Briand, der in Frankreich die Trennung der Kirche vom Staate durchgeführt hat, mobilisiert heute die Staatsgewalt gegen die Arbeiter. Von dem grossen antiklerikalen Kartell ist nichts übrig geblieben als das Misstrauen der Arbeiter gegen eine Politik, die die Kräfte des Proletariats in den Dienst bürgerlicher Staatsmänner gestellt hat, welche sich gar bald als die brutalsten Gegner des Proletariats erwiesen. Aus diesem Misstrauen zieht heute noch der antiparlamentarische Syndikalismus seine Nahrung.

Das Experiment, das der französischen Arbeiterbewegung schweren Schaden zugefügt hat, wird heute in einigen österreichischen Kleinstädten in viel kleinerem Umfang wiederholt. In einigen Städten der Alpenländer haben sich unsere Genossen an der Gründung „antiklerikaler Kartelle“ beteiligt, die die organisierte Arbeiterschaft mit dem nationalliberalen Bürgertum zum Kampfe gegen den Klerikalismus vereinigen sollen. Was unsere Genossen zu diesem Entschlüsse bewogen hat, ist leicht zu erkennen. Die Verpfaffung der Volksschule unter dem Regime Stürgkh hat die Arbeiter so erbittert, dass sie sich gegen den Klerikalismus mit Tod und Teufel verbünden möchten. Aber kann den Waldeck-Rousseau und Combes unserer Kleinstädte das Schicksal erspart bleiben, das ihre Vorbilder in der grossen Republik ereilt hat?

Die deutsche Arbeiterschaft in Oesterreich steht zwei politischen Gegnern gegenüber: dem Klerikalismus und dem liberalen Nationalismus. Die Christlichsozialen sind von dem „kleinen Mann“, den vom Kapitalismus bedrängten Kleinbürgern und Kleinbauern, emporgetragen worden. Die Liberalen und Nationalen waren und sind die Vertreter der städtischen Bourgeoisie: der Fabrikanten, der Grosskaufleute, der freien Berufe, der Staats- und der Fabriksbureaukratie. In Kulturfragen standen uns früher die Liberalen, in vielen sozialen Fragen die Christlichsozialen näher. Der Gedanke hätte vor einigen Jahren wohl noch auftauchen können, mit den Liberalen antiklerikale und mit den Christlichsozialen antikapitalistische Kartelle zu gründen.

In den letzten Jahren aber hat sich das Verhalten der beiden bürgerlichen Parteien zueinander und zu uns gründlich geändert. Die Verschärfung der Klassengegensätze hat die beiden bürgerlichen Parteien einander nähergerückt. Die Christlichsozialen sind heute nicht mehr die Partei des „kleinen Mannes“; sie werben um die Gunst der Grossbanken (Herr Lohnstein von der Länderbank!), der Fabrikanten (Weiskirchner auf dem Industriellentag!). Selbst die jüdische Bourgeoisie weiss ihre „Aversion“ zu überwinden (Mendl-Hatzl!). Anderseits sind die Nationalen und Liberalen nicht mehr antiklerikal: das Wahlbündnis Gessmann-Wolf, die Wahrmund-Affäre, der Schulantrag des Herrn Steinwender, das Verhalten der Liberalen im böhmischen Landesschulrat zeigen, dass die liberale Bourgeoisie den Kampf gegen den Klerikalismus aufgegeben hat, um seine Hilfe gegen die Arbeiter zu erkaufen. Heute ist es unsere Aufgabe, die Volksmassen zu lehren, dass die Christlichsozialen nicht mehr antikapitalistisch und die Nationalen nicht mehr antiklerikal sind. So töricht es wäre, mit Gessmann und Weiskirchner ein antikapitalistisches Kartell gründen zu wollen, so töricht ist es, heute noch auf die Hilfe des „freiheitlichen Bürgertums“ im Kampfe gegen den Klerikalismus zu bauen. Im Parlament sind die Deutschfreiheitlichen die Verbündeten der Morsey und Liechtenstein; sollen wir es ihnen erleichtern, sich vor der Wählerschaft trotzdem als Bekämpfer des Klerikalismus zu gebärden?

Als auf dem Parteitag der deutschen Sozialdemokratie in Halle an unsere reichsdeutschen Genossen die Zumutung herantrat, den Kulturkampf gegen den Klerikalismus vor den Klassenkampf gegen den Kapitalismus zu stellen, sagte der alte Liebknecht: „Die Kirche, die katholische wie die protestantische, ist heutzutage nichts anderes als eine Stütze, ein Instrument des Klassenstaates und die Basis des Klassenstaates ist die kapitalistische Produktionsweise mit ihrer Sklaverei und Ausbeutung in jeder Gestalt. Jeder General, der den Feind schlagen will, vergeudet seine Kräfte nicht an einer untergeordneten Position, die für das Ganze keine ausschlaggebende Bedeutung hat, sondern er packt den Schlüssel der feindlichen Position, nach dessen Fall alles andere fallen muss. Statt mit Nebensachen die Kräfte zu zersplittern, packen wir die ökonomische Basis an, auf welcher der heutige Klassenstaat mit samt den Kirchen und Konfessionen und dem Pfaffentum steht; fällt die Basis, dann fällt alles andere mit“.

 


Leztztes Update: 6. April 2024