O. B.

Rundschau

Keine Blockpolitik

(1. Juli 1911)


Der Kampf, Jg. 4 10. Heft, 1. Juli 1911, S. 475–476.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Am 20. Juni haben in Wien die Sozialdemokraten den Liberalen, die Liberalen den Sozialdemokraten Wahlhilfe geleistet. Bürgerlicher Freisinn und proletarischer Sozialismus haben zusammengewirkt, die Christlichsozialen zu stürzen. Dieser Tatsache haben einige reichsdeutsche Parteibiätter eine Erklärung gegeben, die aus Missverständnissen hervorgeht und Missverständnisse herbeizuführen geeignet ist. Bekanntlich ist ein „Block der Linken“, ein Bündnis des deutschen Liberalismus mit der deutschen Sozialdemokratie, der Gegenstand der Sehnsucht des linken Flügels des deutschen Liberalismus und des rechten Flügels der deutschen Sozialdemokratie. Manche unserer reichsdeutschen Genossen scheinen nun zu glauben, Oesterreich zeige einer solchen Politik ein nachahmungswürdiges Vorbild. Der Block „von Bebel bis Bassermann“ habe in einem Block von Adler bis Friedmann sein Vorbild erhalten.

Diese Ausdeutung der Wiener Wahlen ist grundfalsch. In dem grössten Teile Oesterreichs standen wir bei den Wahlen einer Koalition des Liberalismus und des Klerikalismus gegenüber. In den deutschen Wahlbezirken Böhmens, Mährens, Schlesiens, Salzburgs, Kärntens, der Steiermark stand die Sozialdemokratie der „einen reaktionären Masse“ allein gegenüber. Die Christlichsozialen Jerzabek und Neunteufel wurden mit nationalliberaler, zwei Dutzend Nationalverbändler mit christlichsozialer Wahlhilfe gegen uns gewählt. Ausserhalb Niederösterreichs ist kein deutscher Sozialdemokrat mit liberaler Unterstützung gewählt worden. Auch unsere tschechischen Genossen in Böhmen sind einem Kartell der bürgerlichen Parteien gegenübergestanden. Da war also von einem liberal-sozialdemokratischen Wahlkartell nichts zu sehen.

Nur in Wien und in den tschechischen Wahlbezirken Mährens haben Liberale und Sozialdemokraten einander Stichwahlhilfe geleistet. Hier hatten beide Parteien das gemeinsame Interesse, die Uebermacht des Klerikalismus zu brechen. Aber diese gegenseitige Unterstützung beschränkte sich natürlich auf den Tag der Stichwahl: im Parlament werden wir den Liberalen und Nationalen sofort als Gegner gegenüberstehen. An einen parlamentarischen Block „von Adler bis Friedmann“ denkt in unserer ganzen Partei — von unserer äussersten Linken bis zu unserer äussersten Rechten, von Strasser bis Leuthner — kein Mensch.

Warum haben wir am 20. Juni sieben Liberale und Nationale in Wien gegen die Klerikalen gewählt? Wahrhaftig nicht in der Meinung, dass die Arbeiterklasse von Herrn Waber mehr zu erwarten habe als von dem Prinzen Liechtenstein! Wahrhaftig nicht in dem Glauben, es komme nun für Oesterreich eine Periode der „Kooperation der Klassen“, eine Periode, in der Bourgeoisie und Proletariat gemeinsam die klerikal-agrarische Reaktion niederringen werden! Wir kennen die österreichische Bourgeoisie gut genug, um zu wissen, dass sie es immer vorziehen wird, mit Klerikalen und Agrariern gegen das Proletariat zu marschieren, als sich mit den Arbeitern gegen Klerikale und Agrarier zu verbünden! Die liberale Bourgeoisie mag uns am Tage der Stichwahl ein paar Mandate gönnen; aber im Parlament verschwindet ihr Hass gegen die Reaktion sofort, wenn das Proletariat fordert, was ihre Profite schmälern könnte. Nein, aus ganz anderem Grunde haben wir bei der Stichwahl die Liberalen den Christlichsozialen vorgezogen. Der „christliche Sozialismus“ hat die Klassengegensätze verdecken, er hat „alle arbeitenden Stände“ mit den Mitteln der sozialen Demagogie in einer Partei vereinigen wollen. Darum musste er fallen und darum mussten wir ihn stossen, damit er falle. Sein Sturz macht die Bahn erst frei für den Aufmarsch der Klassen. Ist der „christliche Sozialismus“ aus dem Wege geschafft, dann wird die Bourgeoisie sich im Liberalismus und Nationalismus ihre Vertretung suchen, die Arbeiter, die noch den Christlichsozialen Gefolgschaft geleistet haben, werden heimfinden in das Lager der Sozialdemokratie, das Kleinbürgertum wird in einer ver-

kleinerten Neuauflage der christlichsozialen Partei von neuem den hoffnungslosen Versuch unternehmen, mit den Mitteln des Zünftlertums das Kleingewerbe vor dem kapitalistischen Ansturm zu „retten“. So bereitet der Zusammenbruch der sozialen Demagogie des „christlichen Sozialismus“ die reinliche Scheidung der Klassen, den unverfälschten und unverhüllten Klassenkampf vor. Er führt nicht zur „Kooperation der Klassen“ in einem liberal-sozialdemokratischen Block, sondern zum Klassenkampf zwischen der nationalliberalen Bourgeoisie und dem sozialdemokratischen Proletariat. Unsere Verbündeten vom 20. Juni werden morgen unsere Feinde sein.

 


Leztztes Update: 6. April 2024