Rudolf Hilferding

 

Der Wahlrechtskampf in Preussen

(1. April 1910)


Der Kampf, Jg. 3 7. Heft, 1. April 1910, S. >307–314.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Sucht man nach einer Analogie des augenblicklichen Standes der preussischen Wahlrechtsfrage, so muss man an jene Phase der österreichischen Politik denken, die dem Sturze Taaffes folgte. Wie Taaffe, so hatte auch Fürst Bülow in einer Zeit die Notwendigkeit einer Wahlreform eingesehen, in der die Agitation der Sozialdemokratie für das gleiche Wahlrecht, die allein als vorwärtstreibende Kraft zunächst in Betracht kam – in Preussen noch weit mehr als in Oesterreich –, erst verhältnismässig kurze Zeit gedauert und noch lange nicht ihre volle Kraft entfaltet hatte. Freilich war Taaffe in doppelter Hinsicht weit über Bülow hinausgegangen. Denn einmal brachte der österreichische Minister ein fertiges Gesetz ein, während der preussische sich mit der Ankündigung in der Thronrede begnügte; dann aber enthielt der österreichische Entwurf das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht fast in voller Verwirklichung, da die Beibehaltung der Handelskammer- und Grossgrundbesitzerkurie mehr als ein bald zu beseitigender Schönheitsfehler, denn als Negierung des gleichen Rechtes erscheinen konnte. Dagegen sprach die preussische Thronrede von der „organischen Fortentwicklung“ des geltenden Dreiklassenwahlrechtes, eine Phrase, die – so auslegungsfähig sie sein mag – jedenfalls nicht das gleiche Recht meinen konnte. Und Bülow selbst hatte sogar erklärt, dass nicht einmal die geheime Wahl in Aussicht gestellt werden könne.

Aber so unbestimmt und ungenügend das Versprechen war, es hatte doch die grosse politische Bedeutung, dass es der jungen Wahlrechtsbewegung immerhin die Aussicht auf Erfolg versprach und daher die Zuversicht der Wahlrechtskämpfer, damit aber die Energie und den Elan der Agitation steigern musste. Zugleich war es offenbar, dass die Regierung selbst von der Notwendigkeit einer Wahlreform – mochte diese noch so sehr von den Forderungen der Sozialdemokratie entfernt sein – überzeugt war. Die Regierung war damit in Gegensatz geraten zu dem mit grösstem Nachdruck verfochtenen Grundsatz der herrschenden konservativen Partei, die in dem bestehenden Dreiklassenwahlrecht die Grundlage ihrer Macht erblickt, an der unter keinen Umständen gerüttelt werden dürfe.

An diesem Gegensatz ist Fürst Bülow gescheitert, dem die deutsche Sozialdemokratie nicht minder feindlich gegenüberstand als dem Grafen Taaffe die österreichische. Die bedrohten Konservativen schlossen mit dem durch die Blockpolitik im Reiche ausgeschalteten Zentrum eine Koalition zur Verhinderung der Wahlreform, wie sie seinerzeit Graf Hohenwart und Ernst v. Plener abgeschlossen haben. Sie benützten die Finanzreform, um den Reichsxanzler zu stürzen, da sie nur so den preussischen Ministerpräsidenten los werden konnten.

Fragt man aber, warum Fürst Bülow sich auf den gefahrvollen Weg der Wahlreform begeben hatte, so folgt die Antwort aus der Betrachtung der allgemeinen Politik des Kanzlers. Bülows Politik war eine Politik des deutschen Imperialismus. Sie suchte alle Parteien in den Dienst der Weltpolitik des modernen Kapitalismus zu steilen und jeden Widerstand gegen diese Tendenzen rücksichtslos zu zerbrechen. Es war eine Politik der Unruhe in der auswärtigen Politik, der energischen Vorbereitung zu künftigen kriegerischen Entscheidungen. In ihrem Mittelpunkt stand die Kolonialpolitik und die rasche Ausgestaltung der Flottenrüstung. Vervollständigt wurde dieses System durch die Verstärkung der schutzzöllnerischen Richtung in der Handelspolitik, die das agrarische Interesse an hohen Getreide- und Viehzöllen vereinte mit dem Interesse der kartellierten Grossindustrien an hohen Industriezöllen, die ihnen die Monopolisierung des inneren Marktes und die Gewährung hoher Ausfuhrprämien zur Erleichterung der Konkurrenz auf dem Weltmarkt gewährleistete. Während aber Bülow in der Handelspolitik neben der Unterstützung der Konservativen und Nationalliberalen die des Zentrums fand, in dem die Interessen der rheinischen und schlesischen Kohlen- und Eisenmagnaten mit den agrarischen stets verbunden waren, entsprach diese Partei den Forderungen Bülows bei der Durchführung der anderen Punkte des imperialistischen Programms nur in sehr ungenügender Weise. Die ausserordentlichen finanziellen Lasten der Kolonial- und Flottenpolitik mussten beim Zentrum, das auf die starken kleinbürgerlichen und kleinbäuerlichen Interessen in seinen Reihen Rücksicht zu nehmen gezwungen ist, immer stärkeren Widerstand gegen die Politik des Kanzlers wecken. Dazu kam, dass das Zentrum die Steuerforderungen des Reiches nur zögernd und unvollständig erfüllte. War es doch von jeher die Politik des Zentrums, dafür zu sorgen, dass die finanziellen Bedürfnisse des Reiches nur für eine verhältnismässig kurze Zeit befriedigt werden. Denn das Steuerbewilligungsrecht ist das einzig wertvolle Recht des sonst so machtlosen Deutschen Reichstags, und das Zentrum sorgte von jeher dafür, möglichst oft die Regierung in die Lage zu bringen, auf erneute Steuerbewilligung angewiesen zu sein. War doch jede Steuerverlegenheit der Regierung die Gelegenheit für das Zentrum, dessen Zustimmung fast stets unumgänglich war, von der Regierung auf anderem Gebiet Zugeständnisse zu erhalten und so seine politische Macht zu befestigen. Um diese „Nebenregierung“ des Zentrums zu beseitigen, die Macht der Regierung zu stärken, den einzig wirksamen Widerstand gegen die imperialistische Politik zu brechen, entschloss sich Fürst Bülow, als seine Bedrängnisse seiner Stellung gefährlich zu werden drohten, zu dem Experiment der Blockpolitik. Die Reichstagswahlen von 1907 brachten insofern Erfolg, als sich Fürst Bülow im Reichstag auf eine Majorität von Konservativen, Nationalliberalen und Freisinnigen stützen konnte, der das Zentrum nicht angehörte. Dagegen war es nicht gelungen, das Zentrum zu schwächen, während die Verringerung der sozialdemokratischen Mandate auch eine zweite, dem Kanzler feindliche Majoritätsbildung aus Konservativen und Zentrum möglich machte. Schloss dies bereits eine latente Gefahr in sich, so war es für den Fürsten Bülow als preussischen Ministerpräsidenten noch prekärer, dass er im preussischen Abgeordnetenhaus einer Majorität von Zentrum und Konservativen gegenüberstand, die trotz aller Vorgänge in der Reichspolitik fest zusammenhielt und zusammenarbeitete. Der Erfolg im Reich war so durch einen immer drohenden Misserfolg in Preussen ständig gefährdet und dass das Zentrum über kurz oder lang die Stärke seiner Position im Dreiklassenparlament zur Geltung bringen werde, daran war keinen Moment lang zu zweifeln.

Aus dieser Situation entsprang das Interesse Bülows an einer Wahlreform in Preussen. Sie war das zwingende Ergebnis seiner Blockpolitik im Reiche und ihr Zweck musste sein, auch in Preussen eine ähnliche politische Konstellation zu schaffen wie im Reiche. Bülow hatte keine Wahl; wollte er vermeiden, in Preussen gestürzt zu werden, so musste er auch hier das Zentrum aus der herrschenden Stellung verdrängen.

Hatten aber die Konservativen schon im Reiche eine Politik nur ungern mitgemacht, die sie an die Seite der Liberalen brachte, so mussten sie erst recht in der preussischen Politik Bülows eine Gefahr für ihre beherrschende Stellung erblicken. Die Blockpolitik war für sie nur akzeptabel, weil die Stärkeverhältnisse der Parteien im Reichstag ihnen stets die Rückkehr zum Zentrum offenhielt und das Spiei mit den beiden Majoritäten – der konservativ-liberalen und der konservativ-klerikalen – ihnen die ausschlaggebende Stellung gewährleistete. Eine preussische Wahlreform aber, die das Zentrum schwächte, die Nationalliberalen vor allem und vielleicht auch noch in bescheidenerem Umfang die Freisinnigen stärkte, war nicht möglich ohne Verluste der Konservativen. Auf ihrer herrschenden Stellung im Landtag – ihnen fehlt kaum ein Dutzend Stimmen zur absoluten Majorität – ruht aber die Macht der Konservativen. Denn durch sie sichern sie sich alle wichtigen Stellen der Verwaltung und beherrschen sowohl durch den parlamentarischen als durch den Verwaltungseinfluss die preussische Regierung so vollständig, wie keine zweite Partei der Welt eine Regierung und ein Land beherrscht. Denn auch die Macht der Majoritätspartei in den Vereinigten Staaten, die nicht nur die Minister, sondern auch die politische Beamtenschaft stellt, lässt sich nicht mit der Stellung der preussischen Konservativen vergleichen. Einen Wechsel des Wahlglücks haben sie nicht zu befürchten, denn das Wahlsystem sorgt dafür, dass sie in fast stets gleicher Stärke wiederkehren müssen. Ihr Einfluss ist daher ein dauernder, unzerstörbarer. Die Verwaltung, die Minister sind stets konservativ; dass sie nicht als Parteimänner, sondern als Beamte, als Diener des Königs, nicht als Organe des Parlaments auftreten, stärkt ihre Autorität und damit nur die Macht der konservativen Partei, die unmittelbar als Staatsmacht imponiert und als solche auftritt und wirkt. Die preussische Staatsmacht aber bestimmt die Politik des Reiches fast ohne Einschränkung. Die Stärke der preussischen Konservativen ist die Schwäche des Reiches, bedeutet vor allem die Ohnmacht seiner Vertretung, des Reichstags des gleichen Wahlrechts. Ist so die Ueberwindung der Herrschaft der Konservativen im preusischen Landtag eine unumgängliche Bedingung jedes politischen Fortschritts im Reiche, so ist für die Konservativen jede Antastung des Wahlsystems, auf dem ihre Macht beruht, die Kriegserklärung, die nur mit der eigenen oder der Vernichtung des Gegners enden kann. Und die Konservativen haben keinen Moment gezögert, dem Fürsten Bülow bei der ersten Gelegenheit zu zeigen, dass sie die Stärkeren sind.

Wie nach Taaffes Sturz die Koalitionsregierung Windischgrätz-PIener nur die eine Aufgabe hatte, die schlimme Erbschaft – cum beneficio inventarii natürlich – zu liquidieren, so hat Herr v. Bethmann-Hollweg für Preussen-Deutschland dieselbe Aufgabe zu leisten. Verkörperte Bülow alle volksfeindlichen Tendenzen, die der Hochkapitalismus in sich birgt, war er der Vertreter der modernen, nationalliberalen Reaktion, so geht Herr v. Bethmann als Vertreter der konservativ-klerikalen-agrarischen Reaktion einige Schritte zurück. Den preussischen Junkern war das imperialistische Interesse gegenüber ihrem Herrschaftsinteresse in Deutschland selbst natürlich stets ein sekundäres. Sind sie als diejenigen, die alle wichtigen Stellen in der Diplomatie, im Heere und der Marine, in der Kolonialverwaltung stellen, auch zu Freunden der Weltpolitik geworden, so sind sie sich doch stets dessen bewusst, dass sie ihren Anteil nur so lange sicher innehaben, als sie eben die Herren Deutschlands sind. Bülows Politik lehrte sie die Gefahren erkennen, die eine moderne kapitalistische Politik für die Junkerkaste in sich schliessen kann. Es ist selbstverständlich, dass ihre dringendste Sorge einer Abkehr von dieser Politik gilt, soweit eine solche in einem Lande mit der fortgeschrittenen kapitalistischen Entwicklung Deutschlands überhaupt möglich ist.

Es ist daher bezeichnend, dass der Wandel der deutschen Politik nicht nur im Innern, sondern auch nach aussen zutage tritt. Die ständige Unruhe, die die Aera Bülow auszeichnete, ist geschwunden. Die deutsche Politik dünkt den auswärtigen Mächten heute weniger beunruhigend, weniger abenteuerlich, weniger unzuverlässig als jemals während der Regierung Bülows. Der Bureaukrat, der jetzt als Kanzler fungiert, gilt eben weit weniger als Vertreter einer imperialistischen Politik als sein Vorgänger.

Und in der Tat hat der Reichskanzler der konservativ-klerikalen Koalition auch andere Aufgaben. Er soll vor allem in die innere Politik wieder Ruhe und die Bewegung zum Stillstand bringen, die sein Vorgänger mit angefacht hat, indem er so rasch vor ihr kapituliert hat.

Es liegt aber im Wesen jeder solchen Liquidationspolitik, dass sie das Gegenteil ihrer Bestrebungen erzielt. Herr v. Bethmann ist berufen, die bürgerlichen Parteien zu versöhnen, der Sozialdemokratie und ihrer Wahlrechtsbewegung Stillstand zu gebieten, das Dreiklassenhaus zu konservieren. Mit grosser Gewissenhaftigkeit hat er sich in den Dienst seiner konservativ-klerikalen Auftraggeber gestellt. Das Resultat ist eine Verstärkung der Gegensätze zwischen den bürgerlichen Parteien, eine ausserordentliche Förderung der Sozialdemokratie und die Verwandlung der Wahlrechtsbewegung aus einer isolierten sozialdemokratischen Parteiangelegenheit in eine Volksbewegung, deren Kern natürlich die Arbeiterklasse bildet, deren Führung unbestritten die Sozialdemokratie innehat, die aber doch über die Kreise der Partei hinaus immer neue Schichten in ihren Vormarsch einbezieht.

Solche Verkehrung der beabsichtigten Wirkung ist aber kein Zufall. Die frühere Regierung hat die Berechtigung des Ziels der Bewegung ausdrücklich anerkannt; die Siegeszuversicht, das Vertrauen in die eigene Sache ist dadurch mächtig gestärkt worden; da kommt eine neue Regierung, schon von vorherein mit dem Misstrauen empfangen, zum Widerstand gegen eine berechtigte und anerkannte Forderung berufen zu sein; völlig kann sie die Verpflichtung ihrer Vorgänger nicht abwälzen, da dies bereits als zu gefährlich erscheint; nun kommt es zu dem Versuch, das Versprechen formell einzulösen, ohne es materiell zu erfüllen. Die Hinterhältigkeit und Hinterlist, das Betrügerische solchen Vorgehens weckt die grösste Entrüstung und Erbitterung. Die neue Regierung, die selbst hinter das bescheidene Zugeständnis der früheren zurückgeht, erscheint als offene Feindin der Bewegung, als gefährliches Hemmnis des Fortschritts. Sie wollte die Bewegung abschwächen, indem sie ihre Aussichtslosigkeit demonstrierte; statt dessen hat ihre Absage an jede Reform nur die Entschlossenheit geweckt, das absolut Notwendige auch gegen die Regierung durchzusetzen, und dieses plötzliche Anschwellen der Volksbewegung steigert selbst wieder die Siegeszuversicht und lässt das Vorgehen der Regierung nicht nur als schädlich, sondern auch als töricht, weil verspätet, erscheinen. Der Widerspruch in der Regierungspolitik beraubt sie des Ansehens und stärkt ausserordentlich die moralische Wucht des Angriffs.

Als Liquidationsregierung stand Herr v. Bethmann vor demselben Problem wie die Herren Windischgrätz und Plener: eine Wahlreform zu machen, die scheinbar die schon versprochenen Zugeständnisse enthält, in Wirklichkeit aber gerade das vermeidet, was der Sinn jeder Wahlreform ist, die Aenderung in den politischen Machtverhältnissen. Das Dreiklassenwahlrecht ist zu dieser Aufgabe der „Wahrung des Besitzstandes“ noch geeigneter, als es das österreichische Kurienwa'nlrecht gewesen ist.

Man kennt das Wesen des preussischen Dreiklassenwahlrechts. Die Wähler wählen in Bezirken, die wieder in kleinere Abteilungen, die sogenannten Urwahlbezirke, zerfallen. Die Wähler dieser Urwahlbezirke sind in drei Abteilungen geteilt. Die erste wird von jenen Wählern gebildet, deren Steuern ein Drittel der auf den Urwahlbezirk entfallenden Steuersumme ergeben; die das zweite Drittel aufbringen, bilden die zweite Klasse, der Rest die dritte. Gesetzt den Fall, in einem Bezirk, zu dem 500 Wähler gehören, würden 30.000 Mk. an Steuern gezahlt; ein Wähler zahle jährlich 10.000 Mk. Steuern; er bildet allein die erste Klasse; fünf etwas weniger reiche Wähler zahlen je 4000, 3000, 2000, 700 und 300 Mk. Steuer; sie sind die zweite Klasse; der Rest von 494 Wählern bildet die dritte Klasse; jede Klasse wählt indirekt und öffentlich die gleiche Anzahl Wahlmänner, sage zum Beispiel 20, so dass also in unserem Beispiel der eine Wähler der ersten genau so viel Recht besitzt wie die fünf der zweiten und die 494 der dritten Klasse. Diese Wahlmänner wählen zusammen den Abgeordneten. Die Sozialdemokratie könnte zum Beispiel sämtliche 494 Stimmen der dritten Klasse auf sich vereinigen; sie hätte damit 20 Wahlmänner gewonnen; wählt aber der erstklassige Wähler und drei der zweitklassigen bürgerlich, so verfügt die bürgerliche Partei über 40 Wahlmänner; ihr Kandidat ist mit Zweidrittelmajorität gewählt. Das grundlegende Prinzip ist nun durch eine Reihe Einzelbestimmungen über Anrechnung der Steuern etwas modifiziert, der plutokratische Charakter in Kleinigkeiten etwas abgeschwächt. Näher auf diese Einzelheiten einzugehen, ist unnötig. Dass unser Beispiel von der Wirklichkeit durchaus nicht allzusehr abweicht, beweist die Tatsache, dass nach der amtlichen Statistik bei den letzten Landtagswahlen 1908 im Durchschnitt von je 100 Wählern 3,82 der ersten, 13,87 der zweiten und 82,32 der dritten Abteilung angehörten. Es können also etwa 10 Prozent der Wähler, die höchstbesteuerten, den Willen der 90 Prozent aufheben.

Verschönt wird diese Ungleichheit des Wahlsystems durch die Ungleichheit der Wahlkreiseinteilung, die – nur modifiziert durch eine Vermehrung von zehn Mandaten – unverändert seit dem Jahre 1858 besteht. Der kleinste ländliche Wahlkreis Flohen-zollernsche Lande zählt 6721; der grösste städtische, der Berliner Vorort Rixdorf-Schöneberg dagegen 78.307, die 20 kleinsten Wahlbezirke, sämtlich rückständige agrarische Gebiete, zählen zusammen 173.998 Urwähler; die 20 grössten städtischen zusammen 1.065.290 Wähler!

Die politischen Wirkungen dieses Wahlsystems beleuchtet folgende Tabelle:

 

Urwählerzahl
1908

Prozent

Abgeordneten-
zahl

Sozialdemokraten

598.522

23,87

    7

Konservative

354.786

14,15

152

Freikonservative

  63.612

  2,54

  60

Nationalliberale

318.589

12,71

  65

Freisinnige Vereinigung

  21.993

  0,88

    8

Freisinnige Volkspartei

  98.600

  3,93

  28

Zentrum

  499.343

19,91

104

Polen, Dänen u. s. w.

226.248

   9,02

  19

Bund der Landwirte

  15.013

  0,60

Antisemiten u. s. w.

    8.959

  0,36

Unbekannte Parteistellung

301.894

 12,04

Die Sozialdemokratie, die mit rund 600.000 Urwählern die weitaus stärkste aller Parteien ist und fast ein Viertel aller Urwähler hinter sich hat, musste sich mit 7 (jetzt gar nur 6) Abgeordneten von 443 begnügen, während die Konservativen und Freikonservativen mit zusammen kaum mehr als zwei Dritteln der sozialdemokratischen Urwählerzahl über 212 Abgeordnete verfügen. Die Entrechtung der Arbeiterklasse ist also bei diesem System auf den Gipfel getrieben. Aber auch Nationalliberale und Freisinnige leiden durch die veraltete Wahlkreiseinteilung. Die öffentliche Wahl gestattet zudem besonders den Konservativen einen ausserhalb Preussens vielleicht nur noch in Spanien gekannten Wahlterrorismus, der um so unentrinnbarer ist, als die gesamte Verwaltung in den Dienst der Wahlbeeinflussung gestellt ist.

Die Wahlreform, die Herr v. Bethmann vorschlug, verfolgte nun das Ziel, den Besitzstand der Konservativen und des Zentrums völlig unangetastet zu lassen, dagegen einige plutokratische Auswüchse zu beschneiden, die in den Augen des Ministerpräsidenten den Nachteil hatten, allzu guten Agitationsstoff zu bieten. Das Prinzip des Dreiklassenwahlrechts blieb also völlig unangetastet; ebenso das Prinzip des Wahi-terrorismus, da die öffentliche Wahl bestehen bleiben sollte. Dagegen sollte die sogenannte „Maximierung“ dafür sorgen, dass auch in der ersten Klasse stets eine grössere Anzahl von Wählern vorhanden seien; die sogenannten Einmännerklassen sollen keinen Anlass zur Aufreizung mehr geben können. Deshalb wurde bestimmt, dass der Betrag von 5.000 Mk. die Grenze für die Anrechnung der Steuer bilden solle. In unserem Beispiel würde so die erste Klasse nicht mehr aus einem Wähler bestehen, da dieser nur als 5.000 Mk.-Steuerzahler betrachtet würde, sondern es würden zur Komplettierung noch Wähler aus der zweiten Klasse in die erste aufrücken und dementsprechend Wähler aus der dritten in die zweite, bis die nötigen Steuermengen in jeder Klasse vertreten sind.

Ausserdem enthielt die Regierungsvorlage noch die Privilegierung gewisser Wählerschichten, der Militäranwärter, der Leute, die eine bestimmte Zeitlang das Einjährigenrecht besitzen oder als Unteroffiziere und Offiziere dem Heere angehört haben, bestimmte akademische Prüfungen abgelegt haben etc. Sie sollten in eine höhere Wählerklasse aufrücken als es ihrer Steuerleistung allein entsprechen würde.

Diese Bestimmung hätte bei öffentlicher Wahl eine Wählerschichte geschaffen, die ausschliesslich nach dem Kommando der Regierung ihr Stimmrecht hätte ausüben dürfen.

Als einzigen „Fortschritt“ bot die Regierungsvorlage die Beseitigung der indirekten Wahl, eine rein wahltechnische Bestimmung, die höchstens in ländlichen Kreisen die Wahlbeteiligung etwas gehoben hätte, wenn nicht die öffentliche Wahl in den Junkerdomänen für oppositionelle Elemente ein unübersteigbares Hindernis für die Beteiligung wäre.

Die Stellung der bürgerlichen Parteien zu einer Wahlrechtsänderung ist nun durch zweierlei Rücksicht bestimmt: durch ihr Mandatsinteresse und durch ihre Feindschaft gegen die Sozialdemokratie. Die Nationalliberalen als Vertreter des Grosskapitals sind von jeher Gegner des gleichen Wahlrechts und propagieren seit einiger Zeit ein Pluralwahlrechtssystem. Sie haben sich erst in letzter Zeit zu dem geheimen Wahlrecht bekehrt. Aber sie leiden unter der veralteten Wahlkreiseinteilung und verlangen eine Reform zugunsten der städtischen Bezirke, ohne jedoch für die völlige Gleichheit der Wahlbezirke einzutreten. Jede Aenderung der Wahlkreiseinteilung wird aber nicht nur von den Konservativen, sondern auch vom Zentrum bekämpft, dagegen natürlich von der Sozialdemokratie und dem Freisinn gefordert. Der Freisinn und die Polen bekennen sich programmatisch zum Reichstagswahlrecht und stimmen auch dafür.

Die Parteikonstellation ist nun die, dass eine Aenderung der Wahlkreiseinteilung stets von der konservativ-klerikalen, die Einführung des Reichstagswahlrechtes von der konservativ-nationalliberalen Majorität abgelehnt wurde. Da das Zentrum dank der Feindschaft der Nationalliberalen gegen das gleiche Wahlrecht dieser Ablehnung sicher ist, so kann es sich den Luxus gestatten, seinen „prinzipiellen“ – das heisst beim Zentrum den für seine Praxis unmassgeblichen – Standpunkt zu wahren und für das Reichstagswahlrecht zusammen mit Freisinnigen und Sozialdemokraten zu stimmen. Ist die Abstimmung erledigt, so erklärt das Zentrum das als Beweis für die Aussichtslosigkeit, das gleiche Wahlrecht durchzusetzen und macht sich im Bunde mit Konservativen an jene „Verbesserungen“, die das Dreiklassensystem befestigen sollen.

Wie immer, so war es auch diesmal.

In der ersten Lesung legte das Zentrum das feierliche Glaubensbekenntnis ab, dass es die Einführung des Reichstagswahlrechtes auch für Preussen fordere; kaum aber war die Regierungsvorlage in der Kommission, so wurde es offenbar, dass Zentrum und Konservative – der blau-schwarze Block – bereits untereinander die Grundzüge einer Wahlreform vereinbart hatten, die, so sehr sie sich technisch von der Regierungsvorlage unterschied, politisch dieser wesensgleich war und die Machtstellung der Konservativen ebenso sicherte wie die Reform des Herrn v. Bethmann.

War aber auch die konservativ-klerikale Koalition mit der Regierung in ihren Endabsichten – der Vereitlung jeder politischen Machtverschiebung – völlig einig, so erschien, besonders dem Zentrum, das Machwerk des Herrn v. Bethmann zur Erreichung des Zieles allzu ungeeignet. Das Zentrum, das für das Reichstagswahlrecht verpflichtet ist, konnte kein Wahlrecht akzeptieren, das nicht wenigstens den Schein einer Annäherung an dieses enthält. Vor allem war die Aufrechterhaltung der öffentlichen Stimmabgabe eine Zumutung, die für die Zentrumwähler des Rheinlandes, die dem Terror der nationalliberalen Fabrikanten unterliegen, allzu stark gewesen wäre. Anderseits wollten die Konservativen auf die öffentliche Wahl nicht verzichten. Als Resultat der widerstreitenden Interessen ergab sich so ein Kompromiss, das dahingeht, die indirekte Wahl beizubehalten, die Wahlmänner öffentlich abstimmen zu lassen, die Wahlmännerwahl aber geheim vorzunehmen. Die Wirkung ist in der Praxis: geheime Wahl in den Städten und öffentliche auf dem Lande; denn auf dem Lande, und zum Teil schon in den Kleinstädten, ist es den oppositionellen Parteien kaum möglich, genügend unabhängige Wahlmänner aufzutreiben, die es wagen könnten, sich der Kontrolle ihrer Abstimmung auszusetzen. Dies ist um so unmöglicher, als der blauschwarze Block in das Gesetz die Bestimmung aufgenommen hat, dass der Wahlmann aus derselben Gemeinde entnommen werden müsse, der die Wähler angehören; der liberale Antrag, den Wahlmann aus dem ganzen Wahlkreis nehmen zu dürfen, wurde niedergestimmt; die Auswahl der Wahlmänner ist also eine äusserst beschränkte.

Auch die übrigen Vorschläge der Regierungsvorlage erfuhren einschneidende Aenderungen. Die Privilegierung fiel bis auf die Bestimmung, dass jene Besitzer eines Maturitätszeugnisses, die nach ihrer Steuerleistung der dritten Klasse angehören, in die zweite eingereiht werden müssten. Und die Bestimmung über die Maximierung erfuhr sogar noch eine Verschlechterung, indem die Höchstgrenze von 5.000 Mk. nur für das Land beibehalten, in den Städten aber auf 10.000 Mk. erhöht wurde. Dies verschärft gegenüber der Regierungsvorlage wieder den plutokratischen Charakter des Wahlrechts und verschlechtert dadurch die Mandatsaussichten der Sozialdemokratie.

Das parlamentarische Interesse konzentrierte sich während der Beratungen auf die Stellungnahme der Nationalliberalen. Ihr Parteitag hatte jede Wahlreform für unannehmbar erklärt, die nicht wenigstens die geheime und direkte Wahl enthielte. Trotzdem versuchten die Konservativen die Nationalliberalen als Mitschuldige zu gewinnen. Es fanden auch beständig Unterhandlungen statt. Die Nationalliberalen hätten sich vielleicht durch weitere Verschlechterungen des Wahlrechts gewinnen lassen. Sie forderten die Verschärfung der plutokratischen Wirkungen durch Aufhebung der Drittelung in den Urwahlbezirken, da dies ihre Stellung in Westpreussen namentlich gegenüber dem Zentrum gestärkt hätte. Dies war aber für das Zentrum eine unannehmbare Bedingung und die Verhandlungen scheiterten.

Die Wahlreform ist so ausschliesslich das Werk der konservativ-klerikalen Koalition und diese trägt allein die Verantwortung.

Es ist auch sehr wahrscheinlich, dass das Gesetz in der von ihr beschlossenen Form zustande kommt. Zwar ist von der ursprünglichen Vorlage der Regierung fast nichts übrig geblieben. Aber die Regierung hat sich bereits – entgegen der preussisch-deutschen Tradition – löblich unterworfen und so die Reste der Illusion, als stände die Regierung über den Parteien, in dankenswerter Weise zerstört. Dass aber das Herrenhaus, das die Vorlage noch zu passieren hat, Aenderungen treffen werde, ist wenig wahrscheinlich. Denn die „Situation ist ernst“, wie die Redner der Regierung und des Abgeordnetenhauses immer wieder versichert haben. Man fürchtet die Volksbewegung und möchte ihr das Objekt der Agitation möglichst rasch entziehen und die Wahlrechtsbewegung zum Abschluss bringen.

Aber gerade das wird ein vergebliches Bemühen sein. Eine weitergehende Reform, der auch ein Teil der Liberalen hätte zustimmen können, hätte vielleicht die Gefahr in sich geschlossen, die Bewegung auf die Sozialdemokratie zu beschränken und dadurch ihre Stosskraft abzuschwächen. Die Reform des schwarzblauen Blocks wirkt umgekehrt. Das freche Versagen jeden Fortschritts hat die Wahlrechtsbewegung ungeheuer gefördert und macht die parlamentarischen Beschlüsse zu einer blossen Episode, die Wahlrechtsbewegung aber bleibt.

Denn das deutsche Proletariat hat eingesehen, dass das Wahlrecht nicht im Privilegienparlament, sondern nur ausserhalb des Parlaments und durch ausserparlamentarische Machtmittel erobert werden kann. Als erstes dieser Mittel ergaben sich von selbst die Strassendemonstrationen. Und die Anwendung der Argumente von der Strasse ist gerade für Deutschland ein gewaltiger Fortschritt, von höherem Wert als eine gewonnene Wahlschlacht. Noch vor wenigen Jahren galten politische Strassendemonstrationen für Deutschland als Unmöglichkeit. Seit dem Jahre 1848 hatten deutsche Städte kaum je mehr grosse politische Strassenumzüge gesehen. Die staatlichen Gewalten waren überzeugt, dass solche „revolutionäre“ Demonstrationen nicht geduldet werden dürften. In der Partei selbst galt der Gedanke als unfruchtbar und gefährlich. Der Wahlrechtskampf hat mit einem Schlag die Situation geändert. Die Massen selbst begriffen, dass mit den bisherigen rein parlamentarischen Mitteln nicht weiterzukommen war. Der Entschluss, weiterzukommen, war aber unerschütterlich. So mussten neue wirksamere Agitationsformen angewandt werden. Und da zeigte sich, dass auch die deutsche und selbst die preussische Regierung nicht tun konnte, was manche Freunde gefürchtet, manche Feinde gehofft hatten: eine Masse friedlicher Demonstranten, die, von der Gerechtigkeit ihrer Sache überzeugt, deren Zahl gewaltig, deren Disziplin musterhaft, lässt sich auch von einer zu noch so gewalttätiger, zu blutiger Unterdrückung vielleicht bereiten Regierung nicht niederschlagen; einfach deswegen nicht, weil die Folgen solchen Vorgehens auch für die Regierung unberechenbar sind und gerade die blutige Unterdrückung friedlicher Kundgebungen den Boden bereitet für das, was die Regierung und besonders eine Regierung der Liquidation vermeiden muss, den Boden für eine revolutionäre Situation.

Für die deutsche Sozialdemokratie aber bedeutet der Wahlrechtskampf, der den Uebergang zur unmitttelbaren Aktion der Massen selbst bedang, schon allein deshalb einen ungeheuren Gewinn. Als Vorkämpferin für die politische Gleichberechtigung der Arbeiter und als deren einzige, ehrliche, unerschrockene, energische und ausdauernde Vertreterin hat die Partei eine vorzügliche Position inne, von der aus sie vor allem das Zentrum, das noch immer über grosse Massen von Arbeitern verfügt, erfolgreicher als sonst angreifen kann. Die Demonstrationen haben weite Kreise indifferenter Arbeiter aufgerüttelt und auch auf die demokratischen Schichten im Bürgertum grossen Eindruck gemacht.

Vor allem haben sie das Selbstvertrauen und die Siegeszuversicht der Massen, die sich ihrer Zahl und ihrer Macht bewusst wurden, ausserordentlich gehoben, während der Respekt vor der Staatsautorität, die Ueberschätzung der staatlichen Machtmittel eine heilsame Berichtigung erfahren hat. Die politische Stimmung ist ausgezeichnet, das politische Interesse lebendig wie nie und jede Nachwahl beweist aufs neue, dass die Sozialdemokratie in raschem Vormarsch begriffen ist.

Wie in Oesterreich die Aera Windischgrätz eine Periode raschen Wachstums der Partei war, so in Deutschland und aus analogen Gründen die Aera Bethmann. Herr v. Bethmann ist berufen worden, um die Erbschaft Bülows zu liquidieren. Schon heute kann gesagt werden, dass diese Liquidation misslungen ist, dass Herr v. Bethmann nur den Beweis erbracht hat, dass der Wahlrechtskampf zu mächtig geworden ist, um von bureaukratischen Stümpern zum Stillstand gebracht werden zu können. Die Herren Preussens mögen sich heute noch so sicher fühlen wie die Herren Altösterreichs nach dem Sturze Taaffes: ihre Sicherheit beweist nur, dass sie die Natur proletarischer Wahlrechtskämpfe nicht kennen.

Freilich, man darf über die Analogie, die die preussische und die österreichische Wahlrechtsbewegung bieten, nicht die grossen Unterschiede vergessen. Der Hauptunterschied liegt in der ungleich grösseren Stärke der preussischen Sozialdemokratie. Ein gleiches und geheimes Wahlrecht in Preussen würde der Partei mehr als ein Drittel der Mandate bringen, sie damit zu einem ausschlaggebenden Faktor in dem führenden Staate Deutschlands machen. Es klingt parodox, entspringt aber aus der Natur des Klassenkampfes: politische Erfolge und insbesondere Wahlrechtserfolge sind für die schwächere proletarische Partei leichter zu erringen als für die grössere.

Aber mag der weitere Verlauf des Kampfes in Preussen noch so sehr abweichen von den Kampfesformen in Oesterreich, die Hauptsache ist im jetzigen Stadium der Kampf selbst und in diesem Kampfe wird die deutsche Sozialdemokratie an Stärke, Macht und Entschlossenheit in schnellerem Tempo und gewaltigerem Ausmass zunehmen als in allen früheren Kämpfen. Auf die Aera Bethmann werden noch manche Perioden der Liquidation folgen und diese Liquidation wird schliesslich ein ganz anderes Resultat ergeben, als sich die Führer des schwarzblauen Blocks träumen liessen, als sie den Fürsten Bülow wegen der preussischen Wahlreform zu Falle brachten.


Zuletzt aktualisiert am 8. Oktober 2023