Paul Lafargue

 

Thomas Campanella

V.

Die Sonnenstaat-Einwohner leben gemeinsam, schlafen in großen Schlafsälen und essen in großen Speisesälen, die Männer auf der einen, die Frauen auf der anderen Seite. Das Bedienen bei den Tafeln erfolgt durch junge Leute unter 20 Jahren. Die Mahlzeiten werden schweigend eingenommen, manchmal liest ein junger Mann mit lauter Stimme vor, manchmal singen andere und spielen Musikinstrumente. Ärzte regeln die Kost, je nach Alter und Jahreszeit – sie ist mannigfaltig. Sie hatten erwogen, vegetarisch zu leben. Sie haben aber die Notwendigkeit eingesehen, dem Gemüse Fleisch hinzuzufügen. Die Zahl der Mahlzeiten wechselt mit dem Lebensalter. Die Erwachsenen nehmen zwei, die Greise drei und die Kinder vier Mahlzeiten. Mit zehn Jahren fangen die Kinder an, mit Wasser verdünnten Wein zu trinken, die Greise trinken ihn pur. [187]

Sie sind sorgfältig auf Reinlichkeit bedacht. Tatsächlich haben sie genügend Zeit, ihren Körper zu pflegen, sie baden sich oft und wechseln häufig die Wäsche, die mit Wasser gewaschen wird, „welches in mit Sand gefüllten Kanälen filtriert“ [188] wird. Von wohlriechenden Essenzen machen sie eifrigen Gebrauch. Sie salben sich mit Öl und aromatischen Pflanzen und kauen jeden Morgen Fenchel, Thymian und Petersilie, um ihren Atem angenehm duftend zu machen.

Männer und Frauen tragen die gleiche, „für den Krieg geeignete“ Tracht, mit dem einzigen Unterschied, daß die Tunika der Männer über dem Knie und die der Frauen ein wenig unter dem Knie abschließt. Die Sonnenstaat-Einwohner führten die Gleichheit der Geschlechter ein, indem sie die Ungleichheit beseitigten, zu deren Aufrichtung durch die Differenzierung der Beschäftigung, der gesellschaftlichen und häuslichen Obliegenheiten, der Kleider, der Gewohnheiten und der Sitten man Jahrhunderte gebraucht hatte. Sie „verabscheuen die schwarze Farbe über alle Maßen und hassen deshalb die Japaner, die eine Vorliebe für das Schwarze haben“; alle Kleider, die sie im Inneren des Staates tragen sind weiß, und die, die sie im Ausland tragen, rot. [189] Die Kleidung ist aus Seide und Wolle. Marco Polo [190] erzählt, daß die Tartaren Chinas am ersten Tag ihres Jahres weiße Kleider als Zeichen des Glücks anlegten. Das weiße Roß war das allegorische Enblem des Dominkanerordens, dem Campanella angehörte, der verschiedene Einzelheiten den Berichten des venezianischen Abenteurers entnommen hat. Der Bau seiner Staates ähnelt demjenigen des kaiserlichen Palastes zu Khanbalik [191] (der tartarische Name für Peking).

Das gemächliche, hygienische, von körperlichen und geistigen Arbeiten erfüllte Leben, ohne Sorge für den nächsten Tag und ohne Unruhe irgendwelcher Art, das die Sonnenstaat-Einwohner führen, macht sie kräftig und gesund. Das einzige Übel, von dem sie häufig betroffen werden, ist die Epilepsie, und in der Tat ist „diese Krankheit immer ein Zeichen von besonderer geistiger Begabung, denn Herkules [192], Scotus, Sokrates [193], Kallimachos [194] und Mohammed litten an demselben Übel“. [195] Sie heilen sie durch Gebete und geeignete gymnastische Übungen. Ihre Heilkunst ist ebenso originell wie einfach. Sie schreibt hauptsächlich Bäder in Milch und Wein, Aufenthalt auf dem Land, mäßige und allmählich sich steigernde Bewegung, Musik und Tanz vor. Vor den Sonnenstaat-Einwohnern wuschen schon die Frauen Spartas ihre Neugeborenen in Wein, um sie kräftiger zu machen, und Demokrit heilte, wie man erzählt, die Nierenkolik und die Gicht mit Flötentönen.

 

 

VI.

Dadurch, daß sie die Erziehung und den Unterhalt der Kinder der Gesellschaft aufbürden, verhindern die Sonnenstaat-Einwohner die Bildung von Einzelfamilien. Sie tun das zu dem Zweck die Gütergemeinschaft aufrechtzuerhalten, denn „sie behaupten, das Eigentum habe bei uns nur entstehen und sich behaupten können, weil wir eigene Wohnstätten, eigene Frauen und eigene Kinder haben“. [196] Auch „ist alles Gemeingut, die Verteilung aber ist Sache der Obrigkeit. Die Wissenschaften, die Ehrenstellen und Lebensgenüsse sind in der Art gemeinschaftlich, daß sich keiner von den anderen etwas aneignen kann“. [197] Obwohl sie den Gott der Katholiken nicht anbeten, lesen sie doch die Schriften der Kirchenväter und gefallen sich darin, deren Meinungen zur Unterstützung ihrer kommunistischen Sitten zu zitieren: Sie erinnern daran, daß Tertulian [198] berichtet, wie die ersten Christen alles gemeinsam hatten, und daß der heilige Clemens [199] „sagt, daß nach apostolischer Sitte [200] auch die Frauen allen gemeinsam sein müßten und Plato und Sokrates lobt, weil sie dasselbe lehrten“. [201]

Die Sonnenstaat-Einwohner kennen auch die Einwände gegen den Kommunismus, die seit dem griechisch-lateinischen Altertum die Verteidiger des Privateigentums einander getreulich vererben; sie entlocken ihnen nur ein mitleidiges Lächeln. Dem Aristoteles, der Plato vorhält, daß in einer kommunistischen Gesellschaft niemand arbeiten und alle Welt von der Arbeit anderer werde leben wollen [202], wie dies in unseren Tagen die Kapitalisten und ihre Speichellecker tun, antworten sie damit, daß sie auf ihren Staat verweisen, dem alle Einwohner mehr ergeben sind, als jemals die Römer ihrem Vaterland gegenüber ergeben waren.

Der heilige Augustinus behauptet, daß in einer kommunistischen Gesellschaft Freundschaft nicht existieren könne, weil die Freunde sich gegenseitig keine Vorteile bieten könnten. [203] Dieser Heilige, der die Sklaverei als eine göttliche Einrichtung betrachtete, weil Aristoteles sie sich als eine natürliche Ordnung vorstellte [204], hatte eine armselige Idee von der Freundschaft, die er nur auf dem gegenseitigen Nutzen beruhen ließ. Das ist die Meinung eines wahren Christen! Polo Ondegrado, einer der von seiner überaus katholischen Majestät nach Peru gesandten Rechtsgelehrten, der die Interessen der Krone gegenüber den wilden Zivilisatoren wahrnehmen sollte, die das Königreich der Inkas verheerten, schreibt, nachdem er festgestellt hatte, daß „es dort keine armen und notleidenden Indianer gab“, dem Teufel die Erfindung dieser vorsorglichen kommunistischen Organisation zu:

Die Sonnenstaat-Einwohner haben eine viel höhere Wertschätzung der Freundschaft als der heilige Augustinus, auch beruht sie für sie nicht auf wechselseitigem Nutzen, sondern auf den im Krieg geteilten Gefahren und den gemeinsam genossenen Freuden an den Künsten, den wissenschaftlichen Forschungen und den Spielen, sowie auf dem Mitleid, welches Gebrechen und Leiden einflößen. [206]

Weit davon entfernt zu glauben, daß gegenseitiger Nutzen [207] das Band sein soll, das die Menschen zusammenhält, trachten sie danach zu verhindern, daß einer von einem anderen abhängig wird und daraus irgendeinen Nutzen ziehen kann. Alle Sonnenstaat-Einwohner empfangen vom Gemeinwesen alles, was sie benötigen, und die verteilenden Behörden kümmern sich darum, daß keiner von ihnen mehr empfängt, als seine Bedürfnisse sind. Nichts von dem, was notwendig ist, wird irgend jemand verweigert. „In einer wahren Gemeinschaft sind alle arm und reich zugleich: reich, weil alle das haben, was sie brauchen, arm, weil keiner etwas besitzt; zugleich dienen sie nicht den Sachen, sondern die Sachen ihnen“. [208]

Da sie kein Privateigentum haben, benötigen sie weder Geld noch den Handel, doch kaufen sie die Gegenstände, die sie nicht selbst erzeugen, von anderen Nationen. „Sie wollen nicht, daß ihr Staat durch die schlechten Sitten von Sklaven und Fremden verdorben wird. Daher schließen sie ihre Handelsgeschäfte draußen in den Häfen ab“. [209]

Die Gastfreundschaft halten sie hingegen in hohen Ehren. „Drei Tage lang speist man die Fremden auf öffentliche Kosten. Zuerst wäscht man ihnen die Füße. Dann zeigt man ihnen die Stadt und ihre Einrichtungen, läßt sie einer Ratsversammlung beiwohnen und lädt sie an die öffentliche Tafel, wo sie von eigens dafür bestimmten Personen bedient werden. Wünschen die Fremden, Bürger des Sonnenstaates zu werden, so müsse sie sich einen Monat auf dem Lande und einen zweiten in der Stadt gewissen Prüfungen unterziehen“. [210]

Der Sonnenstaat steht jedermann offen, und Campanella lädt alle Völker der Erde ein, in Gemeinschaft all das zu betreiben, was zur materiellen, geistigen und sittlichen Entwicklung der Menschen dient, um „das goldene Zeitalter neu zu beginnen“. [211]

 

 

Fußnoten

187. * Vgl. Morus (siehe Anm. 863), 60ff.

188. * Sonnenstaat (siehe Anm. 850), 51

189. Die Farbe der Kleidung war für Campanella von Bedeutung, sie war ein Symbol. Er sagt in einem Versstück:

„Ein Trauerkleid ziemt sich für unser Jahrhundert. [...] Dieses Jahrhundert schämt sich der lachenden Farben, denn es weint über sein Ende, über die Tyrannei, die es erfüllt, über die Fesseln, Schlingen, Bleikugeln, Fallen der blutrünstigen Helden und über die bekümmerten Seelen der Gerechten.[...] Diese Farbe ist auch das Sinnbild einer auf die Spitze getriebenen Theorie, die uns blind, trübsinnig und boshaft macht.

Ich sehe eine Zeit voraus, wo man auf die weiße Tunika zurückkommen wird, wenn der höchste Wille uns aus diesem Schlamm gezogen haben wird“.

* Vgl. dazu auch die Farbenlehre des Aristoteles (Lehrschriften [siehe Anm. 943], 4/5, 91 (791a1).

190. * Der venezianische Kaufmann Marco Polo verbrachte die Jahre 1273-1295 am Hof des Kublai-Khan in Peking; er beschrieb seine Erlebnisse im Buch Am Hof des Großkhans.

191. * Bei Marco Polo „Kambaluk“.

192. * Herkules, lateinische Form für Herakles, Sohn des Zeus mit der sterblichen Alkmene, Nationalheros der Griechen; als „Herkules invictus“ Wohltäter der Menschheit.

193. * Die Lehren des Sokrates (469-399/hingerichtet) markieren einen Wendepunkt in der Philosophiegeschichte (Abkehr von der Naturphilosophie).

194. * Kallimachos (~305-240), ein alexandrinischer Gelehrter und Dichter, der ein Bestandsverzeichnis der berühmte Bibilothek erstellte.

195. * Sonnenstaat (siehe Anm. 850), 81. Die Epilepsie galt im Altertum als Anzeichen höchster geistiger Begabung und hieß deshalb „Heilige Krankheit [morbus sacer oder auch morbus Herculeus]“

196. * Ebenda, 39

197. * Ebenda, 39

198. * Tertulianus (*Septimus Florens [122-160]), christlicher Theologe, dessen Werke wichtige Informationen über das Leben der frühchristlichen Gemeinden enthalten.

199. * Clemens I. Romanus war einer der ersten Bischöfe der Kirche (~88-99). In seinen Constituones apostolicæ ist im ersten Buch das Kapitel VIII De uxoris virum diligentis et castæ subjectione erga maritum zu finden, auf das hier Bezug genommen wird.

200. * Campanella denkt dabei wohl an die in der Apostel-Geschichte (4, 32+43) und Offenbarung Johannis (2,+5+14+18) beschriebenen frühchristlichen Gemeinden.

201. * Sonnenstaat (siehe Anm. 850), 61. Vgl. auch Morus (siehe Anm. 863), 97.

202. * Aristoteles: Lehrschriften (siehe Anm. 941), 7/3, 227 (VIII, 12)

203. * Lafargue übernimmt hier eine Behauptung Campanellas aus dem Sonnenstaat (siehe Anm. 850), 40. Die Belegstelle dafür wurde nicht gefunden.

204. * Aristoteles: Lehrschriften (siehe Anm. 943), 7/4, 297 (VII, 8) und 301 (VII, 10)

205. * Die von Polo Ondegrado (~1500-1575) verfaßten Relaciones [Berichte] (1561 und 1571) über Recht und Gebräuche der Inkas existieren nur in Manuskriptform.

206. * Sonnenstaat (siehe Anm. 850), 41

207. * Im Französischen „intérêt“.

208. * Sonnenstaat (siehe Anm. 850), 60

209. * Ebenda, 73

210. * Ebenda, 73. Friedrich Engels bemerkt in seiner Dialektik der Natur, daß Denker wie Campanella „begannen den Staat menschlich zu betrachten“ (MEW 20, 313).

211. * Belegstelle wurde nicht gefunden; im Sonnenstaat (siehe Anm. 850), 76, „erwarten“ seine Bewohner „für sich und uns ein apostolisches Leben“. In der Vierten Quæstio der Politik kommentiert Campanella seinen Text jedoch mit den Worten: „Ein solches Gemeinwesen ist, wie das Goldene Zeitalter, allgemeiner Wunsch. Wenn es nicht zur Ausführung kommt, so trägt der böse Wille der Herrscher die Schuld, der die Völker nicht nach der höchsten Vernunft leben läßt. Ein solches Leben ist möglich, das beweist die Lebensweise der Mönche und jetzt wieder die der Wiedertäufer, wenn sie nur keine Ketzer wären“ ( zit. nach: Fuchs [siehe Anm. 968], 79).

 


Zuletzt aktualisiert am 26.8.2004.