Wladimir Iljitsch Lenin

 

Sozialismus und Krieg

 

II. Kapitel:
Klassen und Parteien in Rußland

 

Die Bourgeoisie und der Krieg

In einer Beziehung ist die russische Regierung hinter ihren europäischen Ebenbildern nicht zurückgeblieben: genau wie diese wußte sie die Düpierung „ihres” Volkes in grandiosem Ausmaß durchzuführen. Ein gewaltiger, ein ungeheuerlicher Apparat von Lügen und Fabeln wurde auch in Rußland in Bewegung gesetzt, um die Massen mit Chauvinismus zu verseuchen und die Vorstellung zu erwecken, daß die Zarenregierung einen gerechten” Krieg führe, die slawischen Brüder uneigennützig verteidige usw.

Die Gutsbesitzerklasse und die Oberschichten der Handels- und Industriebourgeoisie unterstützten eifrig die kriegslüsterne Politik der Zarenregierung. Ganz zu Recht erwarten sie für sich gewaltige materielle Vorteile und Privilegien aus der Teilung des türkischen und des österreichischen Erbes. Eine ganze Reihe von Kongressen dieser Herrschaften schweigt schon im Vorgeschmack der Profite, die bei einem Sieg der Zarenarmee in ihre Taschen fließen würden. Überdies könnte, wie die Reaktionäre sehr gut begreifen, wenn überhaupt etwas, so nur eins den Sturz der Romanowschen Monarchie noch aufschieben und die neue Revolution in Rußland noch verzögern ein für den Zaren siegreicher äußerer Krieg.

Breite Schichten der städtischen mittleren Bourgeoisie, der bürgerlichen Intelligenz, der freien Berufe usw. waren – wenigstens zu Anfang des Krieges – gleichfalls vom Chauvinismus angesteckt. Die Partei der liberalen Bourgeoisie Rußlands – die Kadetten – ging mit der Zarenregierung durch dick und dünn. Im Bereich der Außenpolitik sind die Kadetten schon längst eine Regierungspartei. Der Panslawismus, den die zaristische Diplomatie schon manches Mal als Mittel zu ihren grandiosen politischen Schwindeleien benutzt hat, ist zur offiziellen Ideologie der Kadetten geworden. Der russische Liberalismus ist zum Nationalliberalismus entartet. Er wetteifert in „Patriotismus” mit den Schwarzhundertern und stimmt stets mit Freuden für den Militarismus, Marinismus u. dgl. m. Im Lager des russischen Liberalismus ist so ziemlich dieselbe Erscheinung zu beobachten wie in den siebziger Jahren in Deutschland, als der „freisinnige” Liberalismus in Zersetzung geriet und die Nationalliberale Partei aus sich ausschied. Die russische liberale Bourgeoisie hat endgültig den Weg der Konterrevolution betteten. Die Auffassung der SDAPR in dieser Frage hat sich voll und ganz bestätigt. Die Ansicht unserer Opportunisten, daß der russische Liberalismus noch eine treibende Kraft der Revolution in Rußland sei, wurde durch das Leben selbst widerlegt.

In der Bauernschaft vermochte die herrschende Clique mit Hilfe der bürgerlichen Presse, der Geistlichkeit usw. gleichfalls eine chauvinistische Stimmung hervorzurufen. Aber in dein Maße, wie die Soldaten vom Schlachtfeld zurückkehren werden, wird auch die Stimmung auf dem Lande zweifellos zuungunsten der Zarenmonarchie umschlagen. Die mit der Bauernschaft in Berührung stehenden bürgerlich-demokratischen Parteien konnten der chauvinistischen Weile nicht standhalten. Die Partei der Trudowiki in der Reichsduma weigerte sich, für die Kriegskredite zu stimmen. Aber durch den Mund ihres Führers Kerenski gab sie eine „patriotische” Erklärung ab, die der Monarchie äußerst gelegen kam. Die gesamte legale Presse der „Volkstümler” richtete sich in großen und ganzen nach den Liberalen. Sogar der linke Flügel der bürgerlichen Demokratie – die sog. Partei der Sozialrevolutionäre, die dem Internationalen Sozialistischen Büro angeschlossen ist – steuerte im gleichen Fahrwasser. Der Vertreter dieser Partei im ISB, Herr Rubanowitsch, tritt als offener Sozialchauvinist auf. Die Hälfte der Delegierten dieser Partei auf der Londoner Konferenz der „Entente”Sozialisten stimmte für die chauvinistische Resolution (bei Stimmenthaltung der anderen Hälfte). In der illegalen Presse der Sozialrevolutionäre (Zeitung Nowosti [5] u. a.) haben die Chauvinisten das Übergewicht. Die Revolutionäre „aus bürgerlichem Milieu”, d.h. die bürgerlichen Revolutionäre, die keine Verbindung mit der Arbeiterklasse haben, erlitten in diesem Krieg katastrophal Schiffbruch. Das klägliche Los der Kropotkin, Burzew und Rubanowitsch ist außerordentlich charakteristisch.

 

 

Die Arbeiterklasse und der Krieg

Die einzige Klasse in Rußland, der man die chauvinistische Seuche nicht einzuimpfen vermochte, ist das Proletariat. Vereinzelte Exzesse zu Anfang des Krieges betrafen nur die allerunaufgeklärtesten Arbeiterschichten. Die Beteiligung von Arbeitern an den deutschfeindlichen Krawallen in Moskau wurde stark übertrieben. Im großen und ganzen erwies sich die Arbeiterklasse Rußlands als immun gegen den Chauvinismus.

Das erklärt sich aus der revolutionären Lage im Lande und aus den allgemeinen Lebensbedingungen des russischen Proletariats.

Die Jahre 1912-1914 standen im Zeichen des Beginns eines neuen grandiosen revolutionären Aufschwungs in Rußland. Wir wurden aufs neue Zeugen einer gewaltigen Streikbewegung, wie sie die Weit noch nicht gesehen hatte. An, revolutionären Massenstreik nahmen im Jahre 1913 nach den minimalsten Berechnungen anderthalb Millionen teil, im Jahre 1914 überstieg die Zahl schon 2 Millionen und näherte sich dem Stand von 1905. Am Vorabend des Krieges kam es in Petersburg bereits zu den ersten Barrikadenkämpfen.

Die illegale Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands erfüllte ihre Pflicht vor der Internationale. Die Fahne des Internationalismus wankte nicht in ihrer Hand. Unsere Partei hat längst den organisatorischen Bruch mit den opportunistischen Gruppen. und Elementen vollzogen. Der Opportunismus und der Legalismus um jeden Preis hing unserer Partei nicht wie ein Bleigewicht an den Füßen. Und dieser Umstand half ihr, die revolutionäre Pflicht zu erfüllen – ebenso wie der Bruch mit der opportunistischen Partei Bissolatis den italienischen Genossen half.

Die allgemeine Lage in unserem Lande begünstigt keineswegs das Gedeihen des „sozialistischen” Opportunismus in den Arbeitermassen. Wir sehen in Rußland eine ganze Reihe von Schattierungen des Opportunismus und Reformismus unter den Intellektuellen, im Kleinbürgertum usw. In den politisch aktiven Arbeiterschichten bildet er jedoch eine verschwindende Minderheit. Die Schicht der privilegierten Arbeiter und Angestellten ist bei uns sehr schwach. Ein Legalitätsfetischismus konnte bei uns nicht aufkommen. Die Liquidatoren (die von Axelrod, Potressow, Tscherewanin, Maslow u.a. geführte Partei der Opportunisten) hatten vor dem Kriege keinerlei ernsthafte Stütze in den Arbeitermassen. Die Wahlen zur IV. Reichsduma ergaben, daß alle 6 Arbeiterabgeordnete Gegner des Liquidatorentums waren. Die Auflageziffern und die Geldsammlungen der legalen Arbeiterpresse in Petrograd und Moskau zeigten unwiderleglich, daß vier Fünftel der klassenbewußten Arbeiter gegen den Opportunismus und das Liquidatorentum sind.

Mit Kriegsausbruch verhaftete und verbannte die Zarenregierung Tausende und aber Tausende von führenden Arbeitern, Mitgliedern unserer illegalen SDAPR. Dieser Umstand samt der Verhängung des Belagerungszustands im Lande, der Unterdrückung unserer Zeitungen usw. hemmten die Bewegung. Aber die illegale revolutionäre Tätigkeit unserer Partei wird trotzdem fortgesetzt. In Petrograd gibt das Komitee unserer Partei ein illegales Blatt, Proletarski Golos [6], heraus.

In Petrograd werden Artikel aus dem im Ausland erscheinenden Zentralorgan Sozial-Demokrat abgedruckt und in die Provinz versandt. Es erscheinen illegale Flugblätter, die auch in den Kasernen verbreitet werden. Außerhalb der Stadt werden in verschiedenen abgelegenen Winkeln illegale Arbeiterversammlungen abgehalten. In letzter Zeit haben in Petrograd wuchtige Metallarbeiterstreiks eingesetzt. Im Zusammenhang mit diesen Streiks erließ unser Petrograder Komitee mehrere Auf rufe an die Arbeiterschaft.

 

 

Die Sozialdemokratische Arbeiterfraktion Rußlands in der Reichsduma und der Krieg

Im Jahre 1913 vollzog sich unter den sozialdemokratischen Abgeordneten der Reichsduma eine Spaltung. Auf der einen Seite standen 7 Anhänger des Opportunismus, unter Führung von Tschcheidse. Sie vettraten 7 nichtproletarische Gouvernements, in denen 214.000 Arbeiter gezählt wurden. Auf der anderen Seite standen 6 Abgeordnete, alle von der Arbeiterkurie, gewählt in den wichtigsten Industriezentren Rußlands, in denen 1.008.000 Arbeiter gezählt wurden.

Die Hauptdifferenz bestand darin: Taktik des revolutionären Marxismus oder Taktik des opportunistischen Reformismus. Praktisch offenbarten sich die Differenzen am meisten im Bereich der außerparlamentarischen Massenarbeit. Diese Arbeit mußte in Rußland illegal geleistet werden, wollten ihre Träger auf revolutionären, Boden bleiben. Die Fraktion Tschcheidse blieb die treuen Bundesgenossin der Liquidatoren, die die illegale Arbeit verwarfen, und verteidigte die Liquidatoren in allen Aussprachen mit Arbeitern, in allen Versammlungen. Darüber kam es zur Spaltung. Die 6 Abgeordneten bildeten die Sozialdemokratische Arbeiterfraktion Rußlands. Ein Jahr Tätigkeit zeigte unwiderleglich, daß die erdrückende Mehrheit der russischen Arbeiter fest hinter ihr steht.

Zu Kriegsbeginn traten die Differenzen außerordentlich anschaulich hervor. Die Fraktion Tschcheidse beschränkte sich auf den parlamentarischen Boden. Sie stimmte nicht für die Kredite, weil sie sonst unter den Arbeitern einen Sturm der Empörung gegen sich heraufbeschworen hätte. (Wir haben gesehen, daß in Rußland sogar die kleinbürgerlichen Trudowiki nicht für die Kredite stimmten.) Aber sie trat auch nicht mit einem Protest gegen den Sozialchauvinismus hervor.

Ganz anders verhielt sich die SDA-Fraktion Rußlands, die die politische Linie unserer Partei zum Ausdruck brachte. Sie ging mit dem Protest gegen den Krieg mitten hinein in die Arbeiterklasse, sie trug die antiimperialistische Propaganda in die breiten Massen der russischen Proletarier.

Und sie fand sehr starken Anklang bei den Arbeitern, was der Regierung einen solchen Schrecken einjagte daß sie sich veranlaßt sah, unter offenem Bruch ihrer eigenen Gesetze unsere Genossen Abgeordneten zu verhaften und zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien zu verurteilen. Gleich in der ersten amtlichen Bekanntgabe der Verhaftung unserer Genossen erklärte die Zarenregierung:

Eine ganz besondere Stellung nahmen in dieser Beziehung einige Mitglieder der sozialdemokratischen Vereinigungen ein, die es sich zum Ziel ihrer Tätigkeit gesetzt hatten, durch Agitation gegen den Krieg mittels geheimer Aufruf e und mündlicher Propaganda die militärische Macht Rußlands zu unterwühlen.

Auf den bekannten Appell Vanderveldes, den Kampf gegen den Zarismus „zeitweilig” einzustellen – es ist jetzt aus Äußerungen des zaristischen Gesandten in Belgien, des Fürsten Kudaschew, bekannt geworden, daß Vandervelde diesen Appell nicht allein, sondern unter Mitwirkung des genannten zaristischen Gesandten verfaßte – erteilte einzig und allein unsere Partei durch den Mund ihres ZK eine ablehnende Antwort. Das führende Zentrum der Liquidatoren stimmte Vandervelde zu und erklärte offiziell in der Presse, daß es sich „in seiner Tätigkeit dem Krieg nicht widersetzt”.

Die Zarenregierung legte unseren Genossen Abgeordneten vor allem zur Last, daß sie diese ablehnende Antwort an Vandervelde unter den Arbeitern propagiert hatten.

Der zaristische Staatsanwalt Herr Nenarokomow, stellte unseren Genossen vor Gericht die deutschen und die französischen Sozialisten als Vorbild hin. „Die deutschen Sozialdemokraten”, sagte er, „stimmten für die Kriegskredite und zeigten sich als Freunde der Regierung. So handelten die deutschen Sozialdemokraten, aber ganz anders handelten die traurigen Ritter der russischen Sozialdemokratie ... Die Sozialisten Belgiens und Frankreichs vergaßen einmütig ihre Zwistigkeiten mit den anderen Klassen, stellten den Parteihader beiseite und traten ohne Zaudern unter die Fahnen.” Aber die Mitglieder der SDAFR hätten sich den Weisungen des ZK ihrer Partei gefügt und ganz anders gehandelt ...

Die Gerichtsverhandlungen entrollten ein imposantes Bild von der breiten illegalen Agitation gegen den Krieg, die von unserer Partei unter den Massen des Proletariats betrieben wurde. Es gelang dem zaristischen Gericht selbstverständlich bei weitem nicht, die ganze Tätigkeit unserer Genossen auf diesem Gebiet zu enthüllen”. Aber auch das, was enthüllt wurde, zeigte, wieviel im Verlauf der kurzen Zeit von ein paar Monaten getan worden war.

Vor Gericht wurden illegale Aufrufe unserer Gruppen und Komitees gegen den Krieg und für die internationalistische Taktik verlesen. Von den klassenbewußten Arbeitern ganz Rußlands zogen sich Fäden zu den Mitgliedern der SDAFR, und diese half den Arbeitern nach Maßgabe ihrer Kräfte, den Krieg vorn Standpunkt des Marxismus zu beurteilen.

Genosse Muranow der Arbeiterabgeordnete des Gouvernements Charkow sagte vor Gericht:

„Da ich wußte, daß ich nicht dazu vom Volk in die Reichsduma geschickt worden war, um einen Dumasessel zu drücken. reiste ich in der Provinz umher, um die Stimmungen der Arbeiterklasse kennenzulernen.” Ferner gab er vor Gericht zu, die Funktionen eines illegalen Agitators unserer Partei übernommen und im Ural ein Arbeiterkomitee in den Werchne-Isseter Werken sowie an anderen Orten organisiert zu haben. Der Prozeß zeigte, daß die Mitglieder der SDAFR nach Kriegsausbruch zu Propagandazwecken fast ganz Rußland bereisten, daß Muranow, Petrowski, Badajew u.a. zahlreiche Arbeiterversammlungen veranstalteten, in denen Beschlüsse gegen den Krieg gefaßt wurden usw.

Die Zarenregierung bedrohte die Angeklagten mit der Todesstrafe. Angesichts dieser Drohung traten vor Gericht nicht alle so mutig auf wie Genosse Muranow. Sie suchten den zaristischen Staatsanwälten ihre Verurteilung zu erschweren. Das nutzen jetzt die russischen Sozialchauvinisten schamloserweise aus, um den Kern der Frage, nämlich was für einen Parlamentarismus die Arbeiterklasse braucht, zu vertuschen.

Der Parlamentarismus wird anerkannt von den Südekum und Heine, Sernbat und Vaillant, Bissolati und Mussolini, Tschcheidse und Plechanow. Der Parlamentarismus wird auch anerkannt von unseren Genossen aus der SDA-Fraktion Rußlands, von den bulgarischen und italienischen Genossen, die mit den Chauvinisten gebrochen haben. Aber es ist ein Unterschied zwischen Parlamentarismus und Parlamentarismus. Die einen benutzen die Parlamentstribüne. um sich bei ihren Regierungen anzubiedern oder im besten Falle ihre Hände in Unschuld zu waschen, wie es die Fraktion Tschcheidse tut. Die anderen nutzen den Parlamentarismus aus, um bis zu Ende Revolutionäre zu bleiben, um ihre Pflicht als Sozialisten und Internationalisten auch unter den schwierigsten Verhältnissen zu erfüllen. Den einen bringt die parlamentarische Tätigkeit Ministersessel ein, den anderen bringt sie Gefängnis, Verbannung und Zuchthaus ein. Die einen dienen der Bourgeoisie, die anderen dem Proletariat. Die einen sind Sozialimperialisten, die anderen sind revolutionäre Marxisten.

 

 

 

Anmerkungen

5. Nowosti (Neuigkeiten) – Tageszeitung der Partei der Sozialrevolutionäre, die von August 1914 bis Mai 1915 in Paris herausgegeben wurde.

6. Proletarski Golos (Die proletarische Stimme) – illegale Zeitung; die von Februar 1915 bis Dezember 1916 herausgegeben wurde; Organ des Petersburger Komitees der SDAPR. Es erschienen vier Nummern. In der ersten Nummer war das Manifest des Zentralkomitees der SDAPR Der Krieg und die russische Sozialdemokratie nachgedruckt.

 


Zuletzt aktualisiert am 20.7.2008