Wilhelm Liebknecht

 

Kein Kompromiß –
Kein Wahlbündnis

 

[Vorwort]

Die nachstehende Broschüre ist nicht wie meine erste über Taktik ein Vortrag, aber sie ist veranlaßt durch einen Vortrag, den ich in diesem Sommer auf Wunsch meiner Berliner Wähler [1] über die letzten bayrischen Landtagswahlen im besonderen und Kompromisse im allgemeinen gehalten habe. Durch die Zähigkeit, mit der seit einiger Zeit von verschiedenen Seiten für die Annäherung unserer Partei an die bürgerlichen Parteien gearbeitet wird, namentlich durch die hartnäckige Propaganda für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen [2], ist in einem Teil der Berliner Wähler – wie wohl der Genossen in ganz Deutschland – die Besorgnis erweckt worden, es seien in der Partei Strebungen vorhanden, die, wenn es auch nicht ihr Zweck, doch die Hinüberfuhrung der sozialdemokratischen Partei in das Lager der bürgerlichen Parteien zum Zweck haben müßten. Der Besorgnis gab Nahrung die Bernsteinsche Bußschrift [3] – die feierliche Verleugnung der sozialdemokratischen Prinzipien durch einen Genossen, der bis dahin als ein Wächter unserer Prinzipien gegolten hatte, dessen Widerruf der sozialdemokratischen Irrlehre und sein Wiederbekenntnis zum alleunseligmachenden Glauben der bürgerlichen Weltanschauung. So unbedeutend die Schrift Bernsteins an sich ist, deren inhaltliche Bedeutung einzig darin liegt, daß sie ohne einen neuen selbständigen Gedanken als richtig zugesteht, was Feinde der Sozialdemokratie gegen die Sozialdemokratie seit Jahrzehnten hundertmal gesagt haben – im Zusammenhang mit der verwirrenden Agitation für die Beteiligung an den preußischen Landtagswahlen und mit den unglücklichen Isegrim-Artikeln [4] gegen das Milizsystem und für den Militarismus erlangte die Schrift eine nicht wegzuleugnende symptomatische Bedeutung.

Und gerade als die Partei im Kampf gegen das Zuchthausgesetz [5] und die sonstigen Knebelungsversuche der herrschenden Reaktion die Schippelei und Bernsteinerei zu vergessen anfing – vom nächsten Parteitag ein gründliches Aufräumen und Reinemachen erwartend –, da kam plötzlich die Nachricht von dem „Kuhhandel“ in Bayern. An „bayrische Eigentümlichkeiten“ sind wir seit Jahren gewohnt; wir wissen, daß die bayrischen, überhaupt die süddeutschen Dinge nicht nach dem norddeutschen Maßstab zu messen sind – und niemand kann toleranter sein als die Berliner Genossen, die vor den Toren der Reichs- und Residenzstadt mit ebenso eigentümlichen, wenn auch andersgearteten Eigentümlichkeiten zu rechnen haben, wie die bayrischen nur sein können. Namentlich wissen wir, daß, wo das konfessionelle Element in der Politik mitspricht und das Zentrum [6] eine normale politische Entwicklung hindert, das Klassenbewußtsein leicht durch andere Rücksichten übertäubt wird. Und auch außerhalb Bayerns haben wir schon von gar seltsamen Wahlbündnissen Kunde bekommen. Allein, was diesmal in Bayern geschah, war in seiner Art doch eine Neuheit; ein formelles Bündnis, abgeschlossen nicht unter der Hand, nicht über die Köpfe der Menge hinweg von einzelnen Genossen, sondern von Partei zu Partei – von den Führern der Sozialdemokratie in Bayern mit den Führern der Zentrumspartei in Bayern.

Dieses Ereignis brachte eine große Bewegung hervor und verursachte in den weitesten Parteikreisen das peinlichste Aufsehen. Im ersten Moment fand das Erstaunen, fand die Mißbilligung keinen Ausdruck. Man konnte, da auch in Bayern die Landtagswahlen indirekt sind, nicht sofort Protest erheben, denn man hätte die bayrischen Genossen, die mitten in der Schlacht waren, ja nur gestört und vielleicht schwere Verantwortlichkeit auf sich geladen. So hatten die bayrischen Verteidiger des „Kuhhandels“ zunächst für sich allein das Wort. Unter solchen Umständen ist es erklärlich, daß die Besorgnisse der Genossen, die Anzeichen einer planmäßigen und methodischen Versumpfung der Partei zu bemerken glaubten, aufs äußerste gesteigert wurden. Berliner Genossen wandten sich an mich. Ich legte dar, warum der Vorwärts noch nicht Stellung zu dem bayrischen „Kuhhandel“ genommen, verhehlte jedoch nicht, daß meine Ansichten über Kompromisse nicht die der Gesamtredaktion seien, schrieb einen Artikel, der trotz seines außerordentlichen ruhigen Tons von bayrischen Genossen als ein schwerer Angriff betrachtet wurde, und entwickelte in einer Versammlung des Wahlvereins für den VI. Berliner Wahlkreis meine Ansichten. Obgleich ich, um des lieben Friedens willen, ein Tadelsvotum gegen die bayrischen Genossen verhinderte, bin ich dennoch und sind die Berliner Genossen wegen dieser Versammlung von bayrischen Parteigenossen sehr heftig angegriffen worden – und nicht immer in feinen Ausdrücken. Wer sich im Unrecht fühlt, pflegt die Schwäche der Gründe durch die Stärke der Sprache zu ersetzen. Ich habe deshalb die Grobheit meiner Gegner stets als unfreiwilliges Kompliment aufgefaßt und mich nie darüber geärgert.

Ungefähr gleichzeitig mit dem bayrischen Kuhhandel war in Frankreich der Eintritt eines Sozialisten – Millerand – in eine reaktionäre Bourgeoisregierung erfolgt und Anlaß zu einer Spaltung der französischen Sozialdemokratie geworden. Die tüchtigsten unserer französischen Genossen, Guesde, Lafargue, Vaillant, die Gründer der modernen sozialistischen Bewegung in Frankreich, protestierten gegen den Eintritt Millerands in das Ministerium des reaktionären Bourgeois Waldeck-Rousseau und des Kommuneschlächters Galliffet [7] und trennten sich von der sozialistischen Kammergruppe, die ihrer Überzeugung nach sich von dem Boden des Klassenkampfs entfernt hatte.

Hier zeigten sich die Gefahren der Kompromißtaktik in ihrer ganzen Größe; und da inzwischen im Vorwärts in der Nummer vom 28. Juli ein Artikel, betitelt „Augenblickskartelle“ erschienen war, welcher der Kompromißtaktik das Wort redete, so entschloß ich mich, im Auftrag von Genossen Berlins und der Umgebung eine Broschüre zu schreiben, in der ich mich – wie ich weiß im Einklang mit der überwiegenden Mehrheit der Berliner Genossen – über die Frage der Taktik, insbesondere über Kompromisse und Wahlbündnisse ausspreche und so der Partei, soweit es in meiner Kraft steht, Gelegenheit biete, sich vor dem Parteitag [8] noch einmal im Zusammenhang und in ihrem ganzen Umfang die Folgen zu vergegenwärtigen, welche ein Bruch mit der altbewährten Taktik unserer Partei nach sich ziehen würde.

Wenn ich hier von unserer Taktik rede, so nehme ich das Wort ohne Rücksicht auf Unwesentliches und Äußerliches in der Bedeutung, welche es seit Beginn der Partei für uns im Gegensatz zu allen übrigen Parteien gehabt hat – in der Bedeutung der Taktik des Klassenkampfes, die sehr oft in den Formen gewechselt hat, im Wesen aber unverändert dieselbe geblieben ist. Unsere eigene proletarische Klassentaktik, die uns von allen anderen Parteien auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft trennt und aus ihrer Gemeinschaft uns ausschließt.

Die Schrift ist eine Ferienarbeit. Sie ist im wahren Sinne des Wortes auf der Wanderschaft geschrieben – in Haus und Feld, auf Bergen, in der Eisenbahn, hier und dort. Das hat natürlich der Einheitlichkeit Abbruch tun müssen, beweist aber auch, wie ernst es mir mit der Sache ist, der ich die Sorglosigkeit meiner Ferien zum Opfer brachte.

Im August 1899                  

W. Liebknecht

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2003