Rosa Luxemburg


Die Krise der Sozialdemokratie


V

Aber der Zarismus! Dieser war es zweifellos, der für die Haltung der Partei, namentlich im ersten Augenblick des Krieges, den Ausschlag gegeben hat. Die sozialdemokratische Fraktion hatte in ihrer Erklärung die Parole gegeben: Gegen den Zarismus! Die sozialdemokratische Presse hat daraus alsbald den Kampf um „die Kultur“ für ganz Europa gemacht.

Die Frankfurter Volksstimme schrieb schon am 31. Juli:

Die deutsche Sozialdemokratie hat seit langem das Zarentum bezichtigt als den blutigen Hort der europäischen Reaktion, seit der Zeit, da Marx und Engels mit geschärften Blicken jede Bewegung dieses barbarischen Regiments verfolgten, bis heute, wo es die Gefängnisse mit politischen Verbrechern füllt und doch vor jeder Arbeiterbewegung zittert. Nun käme die Gelegenheit, unter den deutschen Kriegsfahnen mit dieser fürchterlichen Gesellschaft abzurechnen.

Die Pfälzische Post in Ludwigshafen am gleichen Tage:

Das ist ein Grundsatz, den unser unvergeßlicher August Bebel prägte. Es gilt hier den Kampf der Kultur gegen die Unkultur, da stellt auch das Proletariat seinen Mann.

Die Münchener Post am 1. August:

In der Pflicht der Landesverteidigung gegen das Blutzarentum lassen wir uns nicht zu Bürgern zweiter Klasse machen.

Das Hallesche Volksblatt am 5. August:

Wenn es richtig ist, daß wir von Rußland angegriffen wurden – und alle Meldungen haben das bisher so zu erkennen gegeben –, so ist es selbstverständlich, daß die Sozialdemokratie alle Mittel für die Verteidigung bewilligt. Der Zarismus muß mit aller Kraft aus dem Lande geworfen werden.

Und am 18. August:

Nun aber die eisernen Würfel ins Rollen gekommen sind, nun ist es nicht nur die Pflicht der Vaterlandsverteidigung, der nationalen Selbsterhaltung, die uns, wie allen anderen Deutschen, die Waffe in die Hand drückt, sondern auch das Bewußtsein, daß wir mit dem Feind, gegen den wir im Osten kämpfen, zugleich den Feind allen Fortschritts und aller Kultur bekämpfen ... Die Niederlage Rußlands ist zugleich der Sieg der Freiheit in Europa.

Der Braunschweiger Volksfreund vom 5. August schrieb:

Der unwiderstehliche Druck der militärischen Gewalt zieht alle mit sich fort. Aber die klassenbewußten Arbeiter folgen nicht nur äußerer Gewalt, sie gehorchen ihrer eigenen Überzeugung, wenn sie den Boden, auf dem Sie stehen, vor dem Einbruch des Ostens verteidigen.

Die Essener Arbeiterzeitung rief schon am 3. August:

Wenn jetzt dieses Land durch Rußlands Entschließungen bedroht wird, dann werden die Sozialdemokraten angesichts der Tatsache, daß der Kampf dem russischen Blutzarismus, dem millionenfachen Verbrecher an Freiheit und Kultur, gilt, an Pflichterfüllung und Opferwilligkeit sich von keinem im Lande übertreffen lassen... Nieder mit dem Zarismus! Nieder mit dem Hort der Barbarei! Das wird dann Parole sein.

Ebenso die Bielefelder Volkswacht am 4. August:

Die Losung ist überall die gleiche: Gegen russische Despotie und Hinterhältigkeit!

Das Elberfelder Parteiblatt am 5. August:

Das ganze westliche Europa hat das Lebensinteresse, den scheußlichen, mordbübischen Zarismus auszurotten. Dies Menschheitsinteresse wird aber erdrückt von der Gier der kapitalistischen Klassen Englands und Frankreichs, die Profitmöglichkeiten aufzuhalten, die bisher deutsches Kapital ausübte.

Die Rheinische Zeitung in Köln:

„Tut eure Pflicht, ihr Freunde, gleichviel, wohin euch das Schicksal stellt! Ihr kämpft für die Kultur Europas, für die Freiheit eures Vaterlandes und euer eigenes Wohlergehen.“

Die Schleswig-Holsteinische Volkszeitung vom 7. August schrieb:

Selbstverständlich leben wir in der Zeit des Kapitalismus, und ganz sicher werden wir auch nach dem großen Kriege Klassenkämpfe haben. Aber diese Klassenkämpfe werden sich abspielen in einem freieren Staate, als wir ihn heute kennen, diese Klassenkämpfe werden sich weit mehr auf ökonomische Gebiete beschränken und die Behandlung der Sozialdemokraten als Ausgestoßene, als Bürger zweiter Klasse, als politisch Rechtlose wird in Zukunft unmöglich sein, wenn das russische Zarentum verschwunden ist.

Am 11. August rief das Hamburger Echo:

Denn nicht nur haben wir den Verteidigungskrieg zu führen gegen England und Frankreich, wir haben vor allem den Krieg zu führen gegen den Zarismus, und den führen wir mit aller Begeisterung. Denn es ist ein Krieg für die Kultur.

Und das Lübecker Parteiorgan erklärte noch am 4. September:

Wenn die Freiheit Europas gerettet wird, so hat Europa das, nachdem der Krieg einmal entfesselt ist, der Kraft der deutschen Waffen zu danken. Es ist der Todfeind aller Demokratie und aller Freiheit, gegen den unser Hauptkampf sich richtet.

So hallte es aus der deutschen Parteipresse in vielstimmigem Chor.

Die deutsche Regierung ging im Anfangsstadium des Krieges auf die angebotene Hilfe ein: sie steckte sich mit lässiger Hand den Lorbeer des Befreiers der europäischen Kultur an den Helm. Ja, sie bequemte sich, wenn auch mit sichtlichem Unbehagen und ziemlich plumper Grazie, zur Rolle des „Befreiers der Nationen“. Die Generalkommandos „fun die beide grauße Armees“ haben sogar – „Not kennt kein Gebot“ – zu mauscheln gelernt und krauten in Russisch-Polen [1] die „Schnorrer und Verschwörer“ hinter die Ohrlocken. Den Polen wurde gleichfalls ein Wechsel auf das Himmelreich ausgestellt, für den Preis natürlich, daß sie gegen ihre zarische Regierung denselben „Hochverrat“ in Massen begehen, für dessen angeblichen Versuch der Duala Manga Bell in Kamerun unter dem Kriegslärm sang- und klanglos und ohne lästige Gerichtsprozedur gehängt wurde. [2] Und all diese Bärensprünge des deutschen Imperialismus in Nöten machte die sozialdemokratische Parteipresse mit. Während die Reichstagsfraktion mit diskretem Schweigen die Leiche des Duala-Häuptlings zudeckte, erfüllte die sozialdemokratische Presse die Luft mit jubelndem Lerchengesang über die Freiheit, die von „deutschen Gewehrkolben“ den armen Opfern des Zarismus gebracht werde.

Das theoretische Organ der Partei, Die Neue Zeit, schrieb in der Nummer vom 28. August:

Die Grenzbevölkerung in Väterchens Reich hat mit jubelndem Zuruf die deutschen Vortruppen begrüßt – denn was in diesen Strichen an Polen und Juden sitzt, hat den Begriff Vaterland immer nur in Gestalt von Korruption und Knute zu schmecken bekommen. Arme Teufel und wirklich vaterlandslose Gesellen, hätten diese geschundenen Untertanen des blutigen Nikolaus, selbst wenn sie die Lust dazu aufbrächten, nichts zu verteidigen als ihre Ketten, und darum leben und weben sie jetzt in dem einen Sehnen und Hoffen, daß deutsche Gewehrkolben, von deutschen Fäusten geschwungen, das ganze zarische System ehestens zerschmettern möchten ... Ein zielklarer politischer Wille lebt auch, während sich die Donner des Weltkrieges über ihren Häuptern entladen, in der deutschen Arbeiterklasse: sich der Bundesgenossen der östlichen Barbarei im Westen zu erwehren, um zu einem ehrenvollen Frieden mit ihnen zu gelangen, und an die Vernichtung des Zarismus den letzten Hauch von Roß und Mann zu setzen. [3] [Hervorhebungen – RL]

Nachdem die sozialdemokratische Fraktion dem Kriege den Charakter einer Verteidigung der deutschen Nation und Kultur angedichtet hatte, dichtete ihm die sozialdemokratische Presse gar den Charakter des Befreiers fremder Nationen an. Hindenburg wurde zum Vollstrecker des Testaments von Marx und Engels.

Das Gedächtnis hat unserer Partei in diesem Kriege entschieden einen fatalen Streich gespielt: während sie alle ihre Grundsätze, Gelöbnisse und Beschlüsse der internationalen Kongresse just in dem Moment völlig vergaß, wo es sie anzuwenden galt, hat sie sich zu ihrem Pech an ein „Vermächtnis“ von Marx erinnert und es gerade in dem Moment aus dem Staub der Zeiten hervorgeholt, wo es nur dazu dienen konnte, den preußischen Militarismus damit zu schmücken, an dessen Bekämpfung Marx „den letzten Hauch von Mann und Roß“ hergeben wollte. Es waren die gefrorenen Trompetentöne der Neuen Rheinischen Zeitung, der deutschen Märzrevolution gegen das leibeigene Rußland Nikolaus I., die der deutschen Sozialdemokratie plötzlich im Jahre des Heils 1914 ans Ohr drangen und ihr den „deutschen Gewehrkolben“ – Arm in Arm mit dem preußischen Junkertum – gegen das Rußland der großen Revolution in die Hand drückten.

Aber hier gerade gilt es, die „Revision“ anzusetzen und die Schlagworte aus der Märzrevolution an der Hand der geschichtlichen Erfahrung von bald 70 Jahren nachzuprüfen.

1848 war der russische Zarismus in der Tat der „Hort der europäischen Reaktion“. Ein bodenständiges Produkt der russischen sozialen Verhältnisse, in deren mittelalterlicher, naturalwirtschaftlicher Basis er tief wurzelte, war der Absolutismus der Schutz und zugleich der übermächtige Lenker der durch die bürgerliche Revolution erschütterten und namentlich in Deutschland durch die Kleinstaaterei geschwächten monarchischen Reaktion. Noch 1851 konnte Nikolaus I. durch den preußischen Gesandten von Rochow in Berlin zu verstehen geben, daß er „es allerdings gerne gesehen haben würde, wenn im November 1848 beim Einrücken des Generals von Wrangel in Berlin die Revolution in der Wurzel unterdrückt worden wäre“, und daß es „noch andere Momente gegeben habe, wo man keine schlechte Konstitution hätte zu geben brauchen“. Oder ein anderes Mal in einer Ermahnung an Manteuffel: daß er „mit Zuversicht darauf rechne, daß das königliche Ministerium unter Hochdero Führung den Kammern gegenüber mit aller Entschlossenheit die Rechte der Krone verteidigen und die konservativen Grundsätze zur Geltung bringen lassen werde“. Derselbe Nikolaus konnte auch noch einem preußischen Ministerpräsidenten den Alexander-Newski-Orden verleihen in Anerkennung seiner „beständigen Anstrengungen ... zur Befestigung der gesetzlichen Ordnung in Preußen“.

Schon der Krimkrieg hat darin eine große Verschiebung gebracht. Er führte den militärischen und damit auch den politischen Bankrott des alten Systems herbei. Der russische Absolutismus sah sich genötigt, den Weg der Reformen zu beschreiten, sich zu modernisieren, den bürgerlichen Verhältnissen anzupassen, und damit hatte er den kleinen Finger dem Teufel gereicht, der ihn jetzt schon fest am Arme hält und schließlich ganz holen wird. Die Ergebnisse des Krimkrieges waren zugleich eine lehrreiche Probe auf das Dogma von der Befreiung, die man einem geknechteten Volke mit „Gewehrkolben“ bringen könne. Der militärische Bankrott bei Sedan [4] bescherte Frankreich die Republik. Aber diese Republik war nicht ein Geschenk der Bismarckschen Soldateska: Preußen hatte damals wie heute anderen Völkern nichts zu schenken als das eigene Junkerregiment. Die Republik war in Frankreich die innerlich gereifte Frucht sozialer Kämpfe seit 1789 und der drei Revolutionen. Der Krach bei Sewastopol [5] wirkte wie bei Jena [6]: beim Fehlen einer revolutionären Bewegung im Innern des Landes führte er nur zur äußeren Renovierung und zur Neubefestigung des alten Regimes.

Aber die Reformen der sechziger Jahre in Rußland [7], die der bürgerlich-kapitalistischen Entwicklung die Bahn brachen, waren auch nur mit Geldmitteln einer bürgerlich-kapitalistischen Wirtschaft zu bewerkstelligen. Und diese Mittel wurden geliefert vom westeuropäischen Kapital – aus Deutschland und Frankreich. Seitdem knüpfte sich das neue Verhältnis, das bis auf den heutigen Tag dauert: der russische Absolutismus wird von der westeuropäischen Bourgeoisie ausgehalten. Nicht mehr der „russische Rubel“ rollt in den diplomatischen Kammern und, wie der Prinz Wilhelm von Preußen noch 1854 bitter klagte, „bis in die Vorkammern des Königs“, sondern umgekehrt rollt deutsches und französisches Gold nach Petersburg, um dort das Zarenregiment zu speisen, das ohne diese belebenden Säfte längst seine Mission ausgespielt haben würde. Seitdem ist der Zarismus nicht mehr bloß ein Produkt der russischen Verhältnisse: seine zweite Wurzel sind die kapitalistischen Verhältnisse Westeuropas. Ja, das Verhältnis verschiebt sich seitdem mit jedem Jahrzehnt mehr. In demselben Maße wie mit der Entwicklung des russischen Kapitalismus die innere bodenständige Wurzel der Alleinherrschaft in Rußland selbst zernagt wird, erstarkt die andere, westeuropäische, immer mehr. Zur finanziellen Unterstützung kam in steigendem Maße, durch den Wetteifer Frankreichs mit Deutschland seit dem Kriege 1870 die politische hinzu. Je mehr aus dem Schoße des russischen Volkes selbst revolutionäre Kräfte gegen den Absolutismus emporsteigen, um so mehr prallen sie auf Widerstände aus Westeuropa, das dem bedrohten Zarismus moralische und politische Rückenstärkung gewährt. Als zu Beginn der achtziger Jahre die terroristische Bewegung des älteren russischen Sozialismus das zaristische Regiment für einen Moment schwer erschüttert, seine Autorität nach innen und nach außen vernichtet hatte, gerade dann schloß Bismarck mit Rußland seinen Rückversicherungsvertrag ab und schaffte ihm Rückendeckung in der internationalen Politik. Je mehr Rußland andererseits von der deutschen Politik umworben wurde, um so unbegrenzter wurde ihm natürlich der Säckel der französischen Bourgeoisie geöffnet. Aus beiden Hilfsquellen schöpfend, fristete der Absolutismus sein Dasein im Kampfe gegen die nunmehr steigende Flut der revolutionären Bewegung im Innern.

Die kapitalistische Entwicklung, die der Zarismus mit eigenen Händen hegte und pflegte, trug nun endlich die Frucht: seit den neunziger Jahren beginnt die revolutionäre Massenbewegung des russischen Proletariats. Unter dem Zarismus geraten die Fundamente im eigenen Lande ins Schwanken und Beben. Der einstige „Hort der europäischen Reaktion“ sieht sich bald gezwungen, selbst „eine schlechte Konstitution“ zu geben, und muß vor der steigenden Flut im eigenen Heim nunmehr selbst einen rettenden „Hort“ suchen. Und er findet ihn – in Deutschland. Das Deutschland Bülows tilgt [8] die Schuld der Dankbarkeit ab, die das Preußen Wrangels und Manteuffels eingegangen war. Das Verhältnis erfährt eine direkte Umkehrung: russische Hilfeleistungen gegen die deutsche Revolution werden ersetzt durch deutsche Hilfeleistungen gegen die russische Revolution. Spitzeleien, Ausweisungen, Auslieferungen – eine regelrechte „Demagogenhetze“ aus den seligen Zeiten der Heiligen Allianz wird in Deutschland gegen die russischen Freiheitskämpfer entfesselt, die sie bis an die Schwelle der russischen Revolution verfolgt. Die Hetze findet im Jahre 1904 im Königsberger Prozeß [9] nicht bloß ihre Krönung: sie beleuchtet hier wie mit Blitzlicht die ganze geschichtliche Strecke der Entwicklung seit 1848, die völlige Umstülpung des Verhältnisses zwischen dem russischen Absolutismus und der europäischen Reaktion. Tua res agitur! [um deine Sache geht es] ruft ein preußischer Justizminister den herrschenden Klassen Deutschlands zu, auf die wankenden Fundamente des zarischen Regimes in Rußland mit dem Finger weisend. „Die Einrichtung einer demokratischen Republik in Rußland müßte auf Deutschland in empfindlichster Weise einwirken“, – erklärt in Königsberg der Erste Staatsanwalt Schütze. [10]„Brennt meines Nachbars Haus, so ist auch das meinige gefährdet.“ Und sein Gehilfe Caspar unterstreicht: „Übrigens ist es natürlich von erheblichem Einfluß auf Deutschlands öffentliche Interessen, ob das Bollwerk des Absolutismus bestehen bleibt oder nicht. Unzweifelhaft können die Flammen einer revolutionären Bewegung leicht nach Deutschland hinüberschlagen.“ Hier war es endlich mit Händen zu greifen, wie der Maulwurf der geschichtlichen Entwicklung die Dinge unterwühlt, auf den Kopf gestellt, die alte Phrase vom „Hort der europäischen Reaktion“ begraben hatte. Die europäische Reaktion, die preußisch-junkerliche in erster Linie, ist es, die jetzt der Hort des russischen Absolutismus ist. An ihr hält er sich noch aufrecht, in ihr kann er tödlich getroffen werden. Die Schicksale der russischen Revolution sollten das bestätigen.

Die Revolution wurde niedergeschlagen. Aber gerade die Ursachen ihres vorläufigen Scheiterns sind, wenn man in sie etwas tiefer hineinblickt, lehrreich für die Stellung der deutschen Sozialdemokratie im heutigen Kriege. Zwei Ursachen können uns die Niederlage der russischen Erhebung im Jahre 1905/1906 trotz ihres beispiellosen Aufwands an revolutionärer Kraft, Zielklarheit und Zähigkeit erklären. Die eine liegt im inneren Charakter der Revolution selbst: in ihrem enormen geschichtlichen Programm, in der Masse von ökonomischen und politischen Problemen, die sie wie vor einem Jahrhundert die große französische Revolution aufgerollt hat und von denen einige, wie die Agrarfrage, überhaupt im Rahmen der heutigen Gesellschaftsordnung nicht zu lösen sind; in der Schwierigkeit, eine moderne Staatsform für die Klassenherrschaft der Bourgeoisie gegen den konterrevolutionären Widerstand der gesamten Bourgeoisie des Reiches zu schaffen. Von hier aus gesehen, scheiterte die russische Revolution, weil sie eben eine proletarische Revolution mit bürgerlichen Aufgaben, oder wenn man will, eine bürgerliche Revolution mit proletarisch-sozialistischen Kampfmitteln, ein Zusammenstoß zweier Zeitalter unter Blitz und Donner war, eine Frucht sowohl der verspäteten Entwicklung der Klassenverhältnisse in Rußland wie deren Überreife in Westeuropa. Von hier aus gesehen, ist auch ihre Niederlage im Jahre 1906 nicht ihr Bankrott, sondern bloß ein natürlicher Abschluß des ersten Kapitels, dem weitere mit der Notwendigkeit eines Naturgesetzes folgen müssen. Die zweite Ursache war wieder äußerer Natur: sie lag in Westeuropa. Die europäische Reaktion eilte wieder ihrem bedrängten Schützling zu Hilfe. Noch nicht mit Pulver und Blei, obwohl „deutsche Gewehrkolben“ bereits 1905 in „deutschen Fäusten“ nur auf einen Wink aus Petersburg warteten, um nach dem benachbarten Polen einzuschreiten. Aber mit Hilfsmitteln, die ebenso wirksam waren: mit finanziellen Subsidien und mit politischen Allianzen griff man dem Zarismus unter die Arme. Für französisches Geld schaffte er sich die Kartätschen an, mit denen er die russischen Revolutionäre niederschlug, und aus Deutschland bezog er die moralische und politische Stärkung, um aus der Tiefe der Schmach heraufzuklettern, in die ihn die japanischen Torpedos und die russischen Proletarierfäuste hinabgestoßen hatten. 1910 in Potsdam empfing das offizielle Deutschland den russischen Zarismus mit offenen Armen. [11] Der Empfang des Blutbesudelten vor den Toren der deutschen Reichshauptstadt war nicht bloß der Segen Deutschlands über die Erwürgung Persiens [12], sondern vor allem über die Henkerarbeit der russischen Konterrevolution, war das offizielle Bankett der deutschen und europäischen „Kultur“ auf dem vermeintlichen Grabe der russischen Revolution. Und merkwürdig! Damals, als sie diesem herausfordernden Leichenschmaus auf den Hekatomben der russischen Revolution in ihrem eigenen Heim beiwohnte, schwieg die deutsche Sozialdemokratie vollständig und hatte das „Vermächtnis unserer Altmeister“ aus dem Jahre 1848 total vergessen. Während zu Beginn des Krieges, seit es die Polizei erlaubt, das kleinste Parteiblatt sich in blutigen Ausdrücken gegen den Henker der russischen Freiheit berauschte, hat 1910, als der Henker in Potsdam gefeiert wurde, kein Ton, keine Protestaktion, kein Artikel die Solidarität mit der russischen Freiheit bekundet, gegen die Unterstützung der russischen Konterrevolution ein Veto eingelegt. Und doch hat gerade die Triumphreise des Zaren 1910 in Europa besser als alles andere enthüllt, daß die niedergeschlagenen russischen Proletarier nicht bloß Opfer der heimatlichen Reaktion, sondern auch der westeuropäischen sind, daß sie sich heute genau wie 1848 nicht bloß gegen die Reaktion im eigenen Lande, sondern auch gegen ihren „Hort“ im Auslande die Schädel blutig rennen.

Doch der lebendige Born der revolutionären Energie im russischen Proletariat ist so unerschöpflich wie der Kelch seiner Leiden unter dem doppelten Knutenregiment des Zarismus und des Kapitals. Nach einer Periode des unmenschlichen Kreuzzugs der Konterrevolution begann die revolutionäre Gärung von neuem. Seit 1911, seit der Lena-Metzelei [13] raffte sich die Arbeitermasse wieder zum Kampfe auf, die Flut begann zu steigen und zu schäumen. Die ökonomischen Streiks umfaßten in Rußland nach den offiziellen Berichten 1910 46.623 Arbeiter und 256.385 Tage, 1911 96.730 Arbeiter und 768.556 Tage, in den ersten 5 Monaten 1912 98.771 Arbeiter und 1.214.881 Tage. Die politischen Massenstreiks, Protestaktionen, Demonstrationen umfaßten 1912 1.005.000 Arbeiter, 1913 1.272.000. Im Jahre 1914 stieg die Flut mit dumpfem Murmeln immer drohender und höher. Am 22. Januar, zur Feier des Revolutionsbeginns, gab es einen Demonstrationsmassenstreik von 200.000 Arbeitern. Im Juni schlug, ganz wie vor dem Ausbruch der Revolution von 1905, die große Stichflamme im Kaukasus, in Baku, in die Höhe. 40.000 Arbeiter standen hier im Massenstreik. Die Flamme sprang sofort nach Petersburg über: am 17. Juli streikten hier 80.000, am 20. Juli 200.000 Arbeiter, am 23. Juli begann der Generalstreik sich auf das ganze russische Reich auszubreiten, Barrikaden wurden bereits errichtet, die Revolution war auf dem Marsche ... Noch einige Monate, und sie zog sicher mit wehenden Fahnen ein. Noch einige Jahre, und sie konnte vielleicht den Zarismus so lahmlegen, daß er zu dem für 1916 geplanten imperialistischen Tanz aller Staaten nicht mehr hätte dienen können. Vielleicht wäre dadurch die ganze weltpolitische Konstellation geändert, dem Imperialismus ein Strich durch die Rechnung gemacht.

Aber die deutsche Reaktion machte umgekehrt wieder einen Strich durch die revolutionären Rechnungen der russischen Bewegung. Von Wien und Berlin wurde der Krieg entfesselt, und er begrub die russische Revolution unter den Trümmern – vielleicht wieder für Jahre. „Die deutschen Gewehrkolben“ zerschmetterten nicht den Zarismus, sondern seinen Widersacher. Sie halfen dem Zarismus zu dem populärsten Krieg, den Rußland seit einem Jahrhundert hatte. Alles wirkte diesmal für den moralischen Nimbus der russischen Regierung: die für jedermann außerhalb Deutschlands sichtbare Provokation des Krieges durch Wien und Berlin, der „Burgfrieden“ in Deutschland und das durch ihn entfesselte Delirium des Nationalismus, das Schicksal Belgiens, die Notwendigkeit, der französischen Republik beizuspringen – nie hatte der Absolutismus eine so unerhört günstige Stellung in einem europäischen Kriege. Die hoffnungsvoll aufflatternde Fahne der Revolution ging im wilden Strudel des Krieges unter – aber sie sank mit Ehren, und sie wird wieder aus dem wüsten Gemetzel aufflattern – trotz der „deutschen Gewehrkolben“, trotz Sieg und trotz Niederlage des Zarismus auf den Schlachtfeldern.

Auch die nationalen Aufstände in Rußland versagten. Die „Nationen“ haben sich offenbar durch die Befreiermission der Hindenburgschen Kohorten weniger ködern lassen, als die deutsche Sozialdemokratie. Die Juden, ein praktisches Volk wie sie sind, mochten sich das einfache Rechenexempel an den Fingern abzählen, daß die „deutschen Fäuste“, die es nicht einmal fertiggebracht haben, ihre eigene preußische Reaktion, zum Beispiel das Dreiklassenwahlrecht, zu „zerschmettern“, wohl wenig tauglich sind, den russischen Absolutismus zu zerschmettern. Die Polen, der dreifachen Hölle des Krieges preisgegeben, konnten zwar ihren „Befreiern“ aus Wreschen, wo polnischen Kindern das deutsche Vaterunser mit blutigen Striemen auf den Körper eingebläut wurde [14], und aus den preußischen Ansiedlungskommissionen [15] auf die verheißende Heilbotschaft nicht laut antworten; sie dürften aber im stillen den deutschen Kernspruch Götz von Berlichingens in ein noch kernigeres Polnisch übersetzt haben. Alle: Polen, Juden wie Russen, haben wohl gar bald die einfache Wahrnehmung gemacht, daß „deutsche Gewehrkolben“, mit denen man ihnen die Schädel zerschmettert, ihnen nicht die Freiheit, sondern den Tod bringen.

Die Befreiungslegende der deutschen Sozialdemokratie mit dem Vermächtnis von Marx in diesem Kriege ist aber mehr als ein übler Spaß: sie ist eine Frivolität. Für Marx war die russische Revolution eine Weltwende. Alle seine politischen und geschichtlichen Perspektiven waren an den Vorbehalt geknüpft: „sofern nicht inzwischen in Rußland die Revolution ausbricht“. Marx glaubte an die russische Revolution und erwartete sie, selbst als er noch das leibeigene Rußland vor den Augen hatte. Die Revolution war inzwischen gekommen. Sie hatte nicht auf den ersten Schlag gesiegt, aber sie ist nicht mehr zu bannen, sie steht auf der Tagesordnung, sie richtete sich gerade wieder auf. Und da rücken plötzlich deutsche Sozialdemokraten mit „deutschen Gewehrkolben“ an und erklären die russische Revolution für null und nichtig, sie streichen sie aus der Geschichte. Sie haben plötzlich die Register von 1848 hervorgezogen: Es lebe der Krieg gegen Rußland! Aber im Jahre 1848 war in Deutschland Revolution, in Rußland starre, hoffnungslose Reaktion. Im Jahre 1914 hingegen hatte Rußland die Revolution im Leibe, in Deutschland aber herrschte das preußische Junkertum. Nicht von deutschen Barrikaden, wie Marx 1848 voraussetzte, sondern direkt aus dem Pandurenkeller, wo sie ein kleiner Leutnant eingesperrt hielt, rückten die deutschen „Befreier Europas“ zu ihrer Kulturmission gegen Rußland aus! Sie rückten aus – brüderlich umarmt, ein einig Volk, mit dem preußischen Junkertum, das der stärkste Hort des russischen Zarismus ist; mit den Ministern und Staatsanwälten von Königsberg „burgfriedlich“ umarmt – rückten sie gegen den Zarismus aus und schmetterten die „Gewehrkolben“ – den russischen Proletariern auf den Schädel!

Eine blutigere historische Posse, eine brutalere Verhöhnung der russischen Revolution und des Vermächtnisses von Marx läßt sich kaum denken. Sie bildet die dunkelste Episode in dem politischen Verhalten der Sozialdemokratie während des Krieges.

Eine Episode sollte nämlich die Befreiung der europäischen Kultur doch nur werden. Die unbequeme Maske wurde von dem deutschen Imperialismus gar bald gelüftet, die Front wendete sich offen gegen Frankreich und namentlich gegen England. Ein Teil der Parteipresse machte auch diese Wendung hurtig mit. Sie begann statt des Blutzaren das perfide Albion und seinen Krämergeist der allgemeinen Verachtung preiszugeben und die Kultur Europas statt von dem russischen Absolutismus von der englischen Seeherrschaft zu befreien. Die heillos verworrene Situation, in die sich die Partei begeben hat, konnte sich indes nicht greller äußern, als in den krampfhaften Versuchen des besseren Teils der Parteipresse, der, erschreckt durch die reaktionäre Front, sich partout bemühte, den Krieg auf das ursprüngliche Ziel zurückzudrängen, ihn auf das „Vermächtnis unserer Meister“ festzunageln – das heißt auf einen Mythus, den sie selbst, die Sozialdemokratie, geschaffen hatte. „Mit schwerem Herzen habe ich meine Armee gegen einen Nachbar mobilisieren müssen, mit dem sie auf so vielen Schlachtfeldern gemeinsam gefochten hat. Mit aufrichtigem Leid sah ich eine von Deutschland treu bewahrte Freundschaft zerbrechen.“ Das war schlicht, offen und ehrlich. Die sozialdemokratische Fraktion und die Presse hatte dies in einen Artikel der Neuen Rheinischen Zeitung umstilisiert. Als nun die Rhetorik der ersten Kriegswochen durch den prosaischen Lapidarstil des Imperialismus weggescheucht wurde, löste sich die einzige schwache Erklärung für die Haltung der deutschen Sozialdemokratie in Dunst auf.

Anmerkungen

1. Als Russisch-Polen (Kongreßpolen) wird das 1815 durch den Wiener Kongreß geschaffene Königreich Polen bezeichnet, das durch Personalunion mit Rußland verbunden war und unter zaristischer Herrschaft litt.

2. 1914 erhob sich der Stamm der Duala an der Küste kameruns gegen die deutsche Kolonialherrschaft. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen und der Häuptling Manga bell am 8. August 1914 hingerichtet.

3. Volkskrieg, Die Neue Zeit (Stuttgart), 32. Jg. 1913/14, Zweiter Band, S. 872.

4. In der Schlacht bei Sedan am 1. und 2. September 1870 wurden die französischen Truppen von der preußisch-deutschen Armee entscheidend geschlagen. Napoleon III. und rund 83.000 Mann seiner Armee begaben sich in Gefangenschaft.

5. Die Seefestung Sewastopol wurde während des Krimkriegs im August 1855 nach 343tägiger Verteidigung durch russische Soldaten und Matrosen von der zahlenmäßig überlegenen französischen und britischen Streitkräften besetzt.

6. In der Doppelschlacht bei Jena und Auerstadt wurden am 14. Oktober 1806 die zwei Hauptarmeen des reaktionären preußischen Staates unmittelbar nach Beginn des Feldzuges von den Truppen Napoleons I. geschlagen.

7. Die Niederlage Rußlands im Krimkrieg 1853 bis 1856 hatte die innenpolitische Situation so verschärft, daß die herrschende Klasse zwischen 1861 und 1870 eine Reihe von Reformen durchführen mußte, die zwar unvollständig und mit feudalen Überresten behaftet waren, dennoch die kapitalistische Entwicklung in Rußland vorantrieben. Die wichtigsten Reformen betrafen die Aufhebung der Leibeigenschaft (1861), die Bildung ländlicher und städtischer Selbstverwaltungsorgane (1864), Veränderungen im Volksbildungs- (1863) und Gerichtswesen (1864) sowie in der Zensur (1865).

8. In der Quelle: trägt

9. Neun deutsche Sozialdemokraten waren in einem Prozeß in Königsberg vom 12. bis 23. Juli 1904 des Hochverrats gegen Rußland, der Beleidigung des Zaren und der Geheimbündelei angeklagt worden, weil sie revolutionäre Literatur nach Rußland befördert hatten. Karl Liebknecht, einer der Verteidiger, prangerte die brutale Unterdrückung in rußland und die zusammenarbeit zwischen den preußischen und den zaristischen Behörden an.

10. In der Quelle: Schulze.

11. Im November 1910 hatte der Zar Deutschland besucht. Die Außenminister beider Staaten verhandelten während dieser zeit in Potsdam über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessen in persien und über die Bagdadbahn.

12. Unter dem Einflup der Revolution in Rußland 1905 hatte sich in Persien eine bürgerlich-demokratische Massenbewegung entwickelt, die zur Einschränkung des Absolutismus und zur Einführung der konstitutionellen Regierungsform geführt hatte. Mit aktiver Unterstützung Großbritanniens und des zaristischen Rußlands, die im Süden bzw. Norden Persiens die revolutionäre Kräfte mit Waffengewalt unterdrückten, gelang es den reaktionären Kräften in Persien Ende 1911, die Revolution niederzuschalgen.

13. Am 29. Januar 1912 war in einer Grube der Lena Goldfields Co. Limited ein Streik ausgebrochen, der, geführt von den bolschewiki, in den Generalstreik von 6.000 Arbeitern überging. Die Arbeiter forderten u. a. die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und den Achtstundentag. Als am 4. April 1912 die Arbeiter die Freilassung des verhafteten Streikkomitees forderten, eröffnete Militär das Feuer, tötete 250 Arbeiter und verwundete 270. Gegen dieses Blutbad fanden im ganzen Land Proteststreiks statt.

14. In Wreschen, einer Kreisstadt der damaligen Provinz Posen, waren am 20. Mai 1901 polnische Kinder von einem Lehrer schwer mißhandelt worden, weil sie im Unterricht Fragen nicht in deutscher Sprache hatten beantworten wollen. Die empörten Eltern wurden daraufhin wegen „Landesfriedensbruchs“ zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt.

15. Die sogenannte Ansiedlungskommission, die ihre Tätigkeit auf der Grundlage des 1886 beschlossenen und 1893 und 1902 verschärften Ansiedlungsgesetzes ausübte, wonach Millionen von Mark zur „Stärkung des deutschen Elements in den Provinzen Westpreußen und Posen“ bereitgestellt wurden, sollte polnische Güter mit staatlichen Mitteln aufkaufen, die dem deutschen Großgrundbesitz überlassen oder parzelliert an deutsche Ansiedler vergeben werden sollten.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012