John Molyneux

Marxismus und Partei


7. Merkmale und Aufgaben der revolutionären Partei


Rolle, Aufgaben und Organisationsformen einer revolutionären Partei sind nicht ein für allemal und für alle Orte festgelegt. Sie müssen aus der konkreten Situation entwickelt werden, in der sich die Partei befindet, und auch entsprechend angepasst werden. Rückblickend auf 150 Jahre Arbeiterkämpfe können dennoch folgende Verallgemeinerungen getroffen werden.

Der Klassencharakter der Partei: Die revolutionäre Partei muss eine Arbeiterpartei sein. Dieses von Marx aufgestellte elementare und grundsätzliche Prinzip muss noch einmal unterstrichen werden, weil es so oft vergessen oder ignoriert wird. Die Partei muss proletarisch sein, nicht bloß in Hinblick auf die Klarheit des Programms als Ausdruck der sozialistischen Hoffnungen der Arbeiterklasse, sondern auch in ihrer Zusammensetzung und in Bezug auf ihre Alltagsaktivitäten. Keine Guerillagruppe, Bauern- oder Studentenbewegung, und auch keine Gruppierung von Intellektuellen mit einem noch so schönen Programm ersetzt eine unter den Lohnabhängigen verwurzelte Partei. Eine neue, junge Organisation, die feststellt, dass ihre Zusammensetzung überwiegend kleinbürgerlich ist (was oft der Fall sein wird), muss sich kritisch hinterfragen und nach Kräften bemühen, den Übergang zur Arbeiterpartei zu schaffen.

Die Partei als Vortrupp der Klasse: Die Notwendigkeit einer Partei ergibt sich aus der ungleichmäßigen Entwicklung der Arbeiterklasse. Ziel ist nicht, die gesamte Klasse (die in „normalen“ Zeiten von der bürgerlichen Ideologie beherrscht ist) zu repräsentieren, sondern ihre klassenbewusste Vorhut zu organisieren. Dieser erstmals von Lenin formulierte Punkt wird so oft missverstanden oder gar entstellt, dass eine Klarstellung nötig ist: Die Partei ist eine Vorhut, aber die Vorhut ist nicht eine außerhalb der Klasse stehende winzige Elite. Sie besteht aus jenen Hunderttausenden Arbeitern, die tatsächlich die Klasse in ihren tagtäglichen Kämpfen in den Betrieben, in den Fabriken, in den Büros, in den Stadtvierteln und auf den Straßen anführen. Die Partei hinkt ihnen nicht hinterher, sondern versucht sie zu organisieren und führt sie an, aber von innen, nicht von außen.

Die Partei ist eine Kampforganisation: Das soll sie in zweierlei Hinsicht sein. Erstens beansprucht die Partei die Führung der Klasse nicht als Vorrecht, sie muss vielmehr darum kämpfen, indem sie in jeder Situation, mit der die Arbeiterklasse konfrontiert ist, konkrete Aktionsvorschläge macht. Das betrifft die kleinsten Angelegenheiten im Betrieb bis hin zu den großen Fragen der internationalen Politik. Die Partei muss in der Praxis, im Kampf beweisen, dass sie die beste Verteidigerin der Interessen der Arbeiterklasse und aller Ausgebeuteten ist. Zweitens muss sich die Partei auf den Klassenkampf in seiner schärfsten Form, den Massenaufstand, vorbereiten. Das bedeutet nicht, verfrüht paramilitärisch vorzugehen und die Legalität der Partei aufs Spiel zu setzen, sodass sie nicht mehr ihre grundsätzlicheren Aufgaben im täglichen Kampf wahrnehmen kann. Die Partei muss jedoch zu einem bestimmten Zeitpunkt geeignete Vorkehrungen treffen und die Art von Organisation schaffen, die sich auch rasch auf bewaffnete Auseinandersetzungen einstellen kann. Das Vorhandensein einer großen Zahl von Karteileichen oder einer Schicht von privilegierten, abgesicherten Funktionären widerspricht der Bildung einer Partei als kampforientierter, intervenierender Organisation. Ihre Mitglieder müssen aktiv sein und die Bereitschaft zeigen, sich in den Dienst einer gemeinsamen Sache zu stellen.

Demokratischer Zentralismus: Über die spezifischen Organisationsstrukturen lassen sich keine allgemeinen Aussagen treffen, außer dass sie äußerst flexibel sein müssen. Dass im Parteileben Demokratie und Zentralismus miteinander verbunden sein muss, ist allerdings mehr als eine bloße organisatorische Formel, sondern ergibt sich aus den Aufgaben der Partei und dem Wesen des Klassenkampfs selbst. Demokratie ist essenziell, weil die Partei nicht Gebieter über die Arbeiterklasse ist, sondern Mittel zu ihrer Selbstbefreiung. Ohne Demokratie und freie Diskussion kann die Partei keine Initiativen formulieren, die den Bedürfnissen der Arbeiterklasse wirklich entsprechen und auf die konkrete Situation zugeschnitten sind. Zentralismus ist unverzichtbar, weil die Partei einen erbitterten Kampf gegen einen hoch zentralisierten Feind – den kapitalistischen Staat – ausfechten muss.

In Bezug auf den demokratischen Zentralismus gibt es zwei Gefahren, insbesondere für neue und noch kleine Organisationen. Erstens besteht die Gefahr, dass eine kleine Gruppe, die bestenfalls den winzigen Kern einer künftigen Partei darstellt, die ganze Palette von Organisationsstrukturen einer Massenpartei einführt und dadurch lächerlich kopflastig wird. Die zweite Gefahr besteht darin, dass sie sich ultrademokratisch verhält und alle Fragen endlos diskutiert – das gilt insbesondere für die Situation, wenn die Organisation von der Propaganda zur Agitation übergeht. Die Partei ist kein Diskussionszirkel – sie diskutiert, um zu einer Entscheidung zu gelangen, die sie dann geschlossen umsetzt.

Die Unabhängigkeit der Partei: Die Partei bezieht Stellung auf Grundlage marxistischer Prinzipien und als Vertreterin der historischen Interessen der Arbeiterklasse. Als solche darf sie niemals ihre Unabhängigkeit zugunsten einer anderen politischen Kraft, sei sie bürgerlich, reformistisch oder zentristisch, aufgeben. Das schließt keinesfalls Bündnisse, Kompromisse, vorläufige Vereinbarungen und dergleichen mit anderen Organisationen aus, aber sehr wohl die Preisgabe des Rechts auf freie Kritik, auf eine eigene politische Linie und eine eigene Organisation. Das gilt auch für den Fall des Eintritts in oder die Angliederung an eine größere reformistische Partei (zum Beispiel die britische Labour Party). Abhängigkeit ergibt sich, daran sei erinnert, nicht notwendigerweise nur aus formellen Vereinbarungen oder Beschränkungen. Die britische Kommunistische Partei beispielsweise ist formell eine unabhängige Organisation, die sich aber politisch an die „linken“ Gewerkschaftsführer und Labour-Abgeordneten klammert. Eine marxistische Partei darf sich nie kritiklos an populistische Demagogen oder prominente Linksreformisten binden, mag ihre Sprache auch noch so radikal sein.

Die Partei und die Unabhängigkeit der Arbeiterklasse: Die Partei ist die Vorhut der Klasse und muss ihre Unabhängigkeit bewahren, aber ihr Ziel ist die Einheit der Arbeiterklasse. Daraus folgt dreierlei: Die Partei muss erstens prinzipienfest und unnachgiebig alle Spaltungen in der Arbeiterklasse bekämpfen – aufgrund von Herkunft, Nationalität, Geschlecht, zwischen ausgebildeten und ungelernten Arbeitern, zwischen Beschäftigten und Arbeitslosen, zwischen Alten und Jugendlichen und so weiter –, die die herrschende Klasse zwecks Machterhalt so eifrig fördert. Zweitens darf die Existenz der Partei als von der Klasse getrennte Organisation niemals der Einheit der Arbeiterklasse in ihrem täglichen Kampf gegen Unternehmer und Staat im Wege stehen. Von diesem Grundsatz leitet sich die Strategie der Einheitsfront mit reformistischen Organisationen ab, wobei diese Strategie (die unter vielen, aber nicht allen Umständen richtig ist) bloß Ausdruck des allgemeinen Prinzips ist, das das Verhältnis der Partei mit allen anderen politischen Tendenzen in der Arbeiterklasse regelt: Getrennt marschieren, vereint schlagen. Drittens muss die Partei zwar ihr Programm und ihre Politik vor Verwässerung unter dem Druck rückständiger Arbeiter schützen, sie darf sich aber auf gar keinen Fall von diesen abschotten und darf auch keine Mühen scheuen, sie zu erreichen . Deshalb arbeitet die Partei in den Gewerkschaften, egal wie verzagt deren Führung ist oder ob sie sogar Arbeitskämpfe ausverkauft. Und solange die Masse der Arbeiter noch Illusionen in sozialdemokratische Parteien hat, muss die Partei diese gegen offen bürgerliche Parteien unterstützen, bis die Illusionen durch konkrete Erfahrung erschüttert werden. Schließlich sollte die Partei an Wahlen teilnehmen und sie nutzen, um revolutionäre Propaganda zu betreiben und das parlamentarische System von innen zu bekämpfen, solange die Mehrheit der Klasse der parlamentarischen Demokratie vertraut.

Bildungsauftrag der Partei: Die Partei muss für ein permanentes und vielfältiges Bildungsangebot sorgen. Sie muss revolutionäre Führer ausbilden, die fest in der marxistischen Tradition verankert und zugleich imstande sind, konkrete Analysen zu liefern und unabhängig zu urteilen. Sie muss, um mit Gramsci zu sprechen, eine breite Schicht „organischer Intellektueller“ schaffen, von Arbeiterinnen und Arbeitern mit klarer Vorstellung von dem allgemeinen Charakter des anstehenden Kampfs und den dafür erforderlichen Methoden. Sie muss für die größtmögliche Verbreitung der grundsätzlichen Prinzipien des Marxismus und des Sozialismus in der Arbeiterklasse sorgen, indem sie ihre Theorie mit aktuellen und allgemein verständlichen Beispielen und Enthüllungen in ihrer Presse und in ihrer ganzen Propaganda konkretisiert. Auf die Bildung bezogen, ist zweierlei wichtig: Sie muss eine praktische Orientierung haben, sie darf nicht akademisch sein (da Letzteres immer das Gewicht kleinbürgerlicher Elemente stärkt). Wie Rosa Luxemburg betonte, muss die Partei von den Arbeitern sowohl lernen können als auch sie lehren. Die Partei ist das kollektive Gedächtnis und der kollektive Verstand der Arbeiterklasse. Dieser Verstand bedarf fortwährend der Erneuerung und muss immer wieder auf den neuesten Stand gebracht werden.

Kampf um Hegemonie: Die Partei muss danach streben, alle Kräfte der Unterdrückten in einem gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus unter der Führung des Proletariats zusammenzuführen. Historisch und im Weltmaßstab ging es dabei insbesondere darum, ein Bündnis zwischen Proletariat und Bauernschaft herzustellen. Jede Arbeiterpartei muss die Verteidigung der Interessen der armen Bauern in ihr Programm aufnehmen. Hinzu kommen Bewegungen wie die Schwarzenbewegung, die Frauenbewegung oder die Studentenbewegung. Diese können revolutionäres Potenzial entfalten, stellen eine revolutionäre Partei aber vor bestimmte strategische Probleme. Insbesondere kleine Organisationen ohne starke proletarische Basis können sich mitunter so unkritisch und begeistert in diese Bewegungen stürzen, dass sie dabei deren notwendigerweise fragmentierten Charakter erliegen und die grundlegende Arbeit unter den Beschäftigten in den Fabriken und Büros vernachlässigen. Andererseits kann es passieren, dass eine revolutionäre Partei die spezifischen Probleme und Forderungen der verschiedenen unterdrückten Gruppen und Minderheiten abtut und die Betroffenen stattdessen mit einer Art Ultimatum konfrontiert, die Führung der Partei unhinterfragt zu akzeptieren. Eine solche Haltung schafft nicht Einheit, sondern Entfremdung. Die bedingungslose Unterstützung der berechtigten Forderungen der Unterdrückten muss sich verbinden mit prinzipienfestem Bestehen auf der Notwendigkeit von Einheit im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, auf den Klassencharakter dieses Kampfs und die führende Rolle der Arbeiterklasse darin. Ein erfolgreicher Kampf um die Hegemonie erfordert letztlich die Vorherrschaft der revolutionären Kultur in jedem Bereich des gesellschaftlichen Lebens, die nur durch eine Partei mit einer beträchtlichen Basis in der Arbeiterklasse erreicht werden kann.

Die Internationale: Das Proletariat ist eine internationale Klasse und die sozialistische Revolution ist ein internationaler Prozess. Folglich müssen alle hier aufgelisteten Merkmale einer revolutionären Partei auf internationaler Ebene in die Gründung einer einzigen Weltpartei münden. Heute gibt es keine Internationale, und sie kann auch nicht an einem einzigen Tag aufgebaut werden. Eine „Weltpartei“ wie die Vierte Internationale, die lediglich aus einer Handvoll gleichgesinnter Kleingruppen besteht, ist eine Fiktion und wird niemals eine internationale Führung mit wirklicher Autorität hervorbringen. Eine Föderation von im Grunde genommen heterogenen Organisationen wie die Erste Internationale andererseits wird im entscheidenden Augenblick auseinanderfallen. Die Dritte Internationale gründete demgegenüber wohl auf der Autorität der Russischen Revolution – auf eine solche Konstellation können wir aber nicht einfach warten. Welche konkreten Schritte im Hier und Heute können unternommen werden? Der einzig realistische Kurs besteht zurzeit darin, dass die bestehenden revolutionären Organisationen wo auch immer möglich praktisch zusammenarbeiten und sich über ihre theoretischen Positionen kontinuierlich austauschen, sodass auf Basis dieser gemeinsamen Arbeit und unter dem Einfluss der Ereignisse allmählich engere Beziehungen und größere politische Homogenität erreicht wird. Diese Arbeit muss mit der klaren Perspektive der Schaffung einer neuen revolutionären Arbeiterinternationale erfolgen. Denn der Aufbau revolutionärer Parteien und ihre internationale Vereinigung sind heute die wichtigsten und dringendsten strategischen Aufgaben von Revolutionären überall auf der Welt. Wenn das misslingt, wird die Arbeiterklasse die Krise des Kapitalismus, die von Tag zu Tag akuter wird, nicht zu ihren Gunsten lösen können.

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Der rote Faden, der sich durch alle diese Prinzipien und Aufgaben zieht und die Partei zusammenhält, ist die Verbindung von Theorie und Praxis. Die Partei hat die Aufgabe, das allgemeine Ziel des Sozialismus in konkrete Aktivität umzusetzen und umgekehrt jeden konkreten Kampf mit dem Ziel des Sozialismus zu verbinden. Die Partei ist der Hebel, um die Theorie – die materialistische Auffassung von Geschichte, die Analyse des Kapitalismus und seiner Widersprüche sowie das Verständnis von der historischen Rolle der Arbeiterklasse – für die Praxis fruchtbar zu machen. Und umgekehrt ist die Partei zugleich der Weg, über den die Praxis – der Kampf zur Veränderung der Welt – die Theorie bereichert, orientiert, überprüft und letztendlich zu materieller Wirklichkeit macht.

In Zeiten kapitalistischer Stabilität, wenn die Arbeiterklasse für das System keine Gefahr darstellt, fallen Theorie und Praxis notgedrungen auseinander. Unter solchen Umständen können höchstens erste Schritte für den Aufbau einer revolutionären Partei unternommen werden. Sie wird daher vorläufig eine abstrakte Notwendigkeit bleiben. Aber wenn das System von einer schweren Krise erschüttert wird, dann können Theorie und Praxis zusammenkommen und der Parteiaufbau wird von einem abstrakten Ziel sowohl zu einer praktischen Notwendigkeit, als auch zu einer realen Möglichkeit.




Zuletzt aktualisiert am 21. Dezember 2022