William Morris

Die Socialistische Bewegung in England

Vortrag gehalten am 18. Juli 1889 vor der Internationaler Arbeiterkongress in Paris


Ein Vortrag von William Morris über die socialistische Bewegung in England.
In Protokoll des Internationalen Arbeiter-Kongress zu Paris, Nürnberg 1890, S. 39–43.
Deutsche Uebersetzung von Wilhelm Liebkneckt.
Es gibt auch eine kürzere Zusammenfassung von Eduard Bernstein.
HTML-Markierung: Graham Seaman für das Marxists’ Internet Archive.
Korrekturlesen: Einde O’Callaghan (September 2019)


 

Donnerstag, den 18. Juli

Morgen-Sitzung

Bürger Morris gibt einen Überblick über die socialistische Bewegung in England, ohne indessen bei der dortigen Lage der Arbeiterklasse zu verweilen, die, wie anderswo, Sklavin des Privatkapitals ist. Kaum seit 6 Jahren kann von Socialismus in England die Rede sein, wenn auch noch etwas von der Chartistenbewegung lebendig geblieben war, sowie <40> auch vom Communismus Owenᰱs. Nothwendig musste ich hier der Einfluß des festländischen Socialismus fühlbar machen, aber die Bourgeoisie, durch ihre Handelserfolge hochmüthig geworden, ignorirte die Lage des Proletariats, oder wollte sie ignoriren. Die große Menge betrachtete als das zu erstredende Nonplusultra die Verwirklichung eines Systems heuchlerischer Formeln, welche die ganze Politik beherrschten. Die ökonomische Entwicklung hat aber jetzt diese Sachlage umgestaltet: der Socialismus ist für das Proletariat eine Hoffnung geworden, für die Bourgeoisie ein Schrecken. Mehr noch! Manche Bourgeois erklären sich für Socialisten unter dem Vorbehalt, daß man sie nicht zwinge, das Prinzip des Klassenkampfs anzuerkennen. Die abschreckende Gestalt, unter welcher die Armuth in England zu Lage tritt, scheint bei diesen Leute ein Stückchen eingeschlafenen Gewissens ausgestört zu haben, und sie unterstützen und verfündigen deshalb alle Arten von Reform. So hat denn der Staat die Auswanderung begünstigt, um das Land vom einer Menge von Proletariern zu befreien; so hat man einen schüchternen Versuch gemacht, dem baeuerlichen Grundbesitz wieder auszuhelfen und die ländliche Klein-Industrie reger zu bringen; so hat man sich bemüht um einer Arbeiter-Versicherung à la Bismarck und um eine neue günstigere Form der Produktiv-Genossenschaft. Zahlreiche Hülfsmittel sind in Vorschlag gebracht vom reinen einfachen Philanthropismus bis hinunter zum Malthusianismus und zur Fruchtabtreibung, und zwar durch Bourgeois, welche ein Bewußtsein davon haben, auf welchen Vulkan unsere Gesellschaft angekommen ist.

Bis zur letzten Zeit ist die socialistische Bewegung fast ausschließlich im Reiche des Gedankens geblieben, unterhalten fast allein von Mitgliedern des Proletariats der Bildung. Heute hat sich das Blatt gewandt, da die Geister der Arbeiter durch die ökonomisch Entwicklung zur Ausnahme und Annahme der socialistischen Lehren genügend vorbereitet sind. Die Arbeiter haben den Klassenkampf als solchen erkannt; sie haben begriffen, daß das Mehr oder Weniger des Elends in ihrer Existenz von der Rolle abhängt, die sie spielen, indem sie sich dem Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise einfügen lassen. Durch einen unwiderstehlichen Antrieb werden sie dazu gedrängt, die Umgestaltung der Gesellschaft von Grund aus zu wollen.

Dieses Erwachen wird theilweise der Propaganda verdankt, welche ein Häuflein überzeugter Socialisten an den Straßenecken vorgenommen hat. Vor nur 3 bis 4 Jahren wurden unsere Redner in gewissen Orten von den Arbeitern selbst ausgezischt und ausgepfiffen; heut zu Tage finden sie überall ein ausmerksames Publikum, ja man spendet ihnen sogar Beifall; In den radikalen Londoner Clubs ließ man sich früher kaum herab, Socialisten anzuhören; heute finden sie Socialisten daselbst kaum noch Widerspruch. Besser noch: das politische Leben im eigentlichen Sinne (wohl zu verstehen, dass der Redner damit nicht die müssigen Diskussionen – wire-pulling d. h. Drahtzieherei – der Wahlperiode versteht) befindet sich in diesen Clubs allein durch die Bewegung Derjenigen, welche als Socialisten auftreten. Mit einem Wort, der Socialismus beeinslusst die politischen Parteien in solcher Weise, das Minister Harcourt ausrufen konnte „Wir sind alle Socialisten!“ Das ernsthafteste Hinderniß, dem die Socialisten begegnet sind, findet sich in der Gleichgültigkeit der in bereits konsolidirten Industreien beschäftigten Arbeiter. Da England unter allen Ländern das erste gewesen ist, dem es gelang, die Gross-Industrie sich vollkommen zu eigen zu machen, so haben sich nothwendiger Weise die Arbeiter der Industrie-Zentren seit Generationen in die äußerste Abbängigkeit vollständig ergeben müssen. Sie haben sich daran gewöhnt, sich selbst lebiglich als einen Theil des Mechanismus der Fabrik zu betrachten. Der Fabrikherr ist für sie ein „paymaster“ – Zahlmeister – mit dem sie zuweilen einen Streit haben, den sie aber darum nicht minder als unentbeherlich für ihre Existenz ansehen.

Andererseits ist die socialistische Bewegung in England durch die <41> Thatsache begünstigt worden, daß eine Gemeinsamkeit der Empfindungen zwischen dem Bauern, d. h. dem Landarbeiter und dem städtischen Arbeiter besteht, woran in Frankreich nicht zu denken ist, und ebensowenig anderswo auf dem Kontinent – wenigstens nicht in annähernd gleichem Maaß. Der Landarbeiter in England ist Sklave des Pächters und deshalb durchaus nicht conservativ, wenn es ihm auch oft widerfährt, daß er für einen Conservativen zu stimmen genöthigt wird; er hat seine Meinung für sich und eine lebhafte Neigung, seine Ketten abzuschütteln.

Die Entwicklung der Parteien hat der Sache des Socialismus gedient. So hat schon allein die irische Frage – mit der die englischen Socialisten sich viel beschäftigt haben – alle alten Parteien in Verwirrung gebracht. Die Arbeiter, bis dahin gewöhnt sich blindlings dem Parlament anzuvertrauen, haben von ihrem Zutrauen verloren. Es muss constatirt werden, dass die neue Gruppe der Socialistischen Radikalen – in der Presse vertreten durch den Star – wenig Einfluß im Parlamente besitzt, und dass sie auch an jenem Tage nicht mehr Einfluß besitzen wird, wann die irische Frage gelöst oder beseitigt wird.

Wir – d. h. die „Socialist League“, in deren Namen ich spreche – wir, sage ich, beglückwünschen uns zu dieser Lage, denn wir glauben bestimmt, daß die Arbeiter ihre Zeit und ihre Mühe unnütz opfern, wenn sie sich anstrengen, eigene Vertreter in’s Parlament zu bringen. Wir sind deshalb weit davon entfernt, die geringen Resultate zu bedauern, welche mit den erwähnten Bersuchen erreicht wurden. Dagegen zeigen die neuerdings in den großen Städten und besonders in London eingeführten County-Councils – Grafschafts-Räthe –, sehr gegen die Absichten der Tories, eine starke Neigung zum Socialismus. Man darf hoffen, sie werden eines Tages ein Sammelpunkt sein für das der centralistischen und bürokratischen Parlamensmacht widerstrehende Volk; denn diese Parlamentsmacht ist in England, – und kann dort nur sein – reaktionär, weil sie unter dem unbrechbaren Bann steht, ein Vertheidigungs-Ausschuß zu sein für das hochheilige Recht des Privateigentums, dass die Socialisten angreifen. Dieser Ausschuß, Parlament geheißen, hat es sich nicht verdrießen lassen, in seine Mitte einige Angehörige der ausgebeteuten Klasse aufzunehmen, deren Anwesenheit auf ein doppelte Ziel absieht: als Sicherheits-Ventil zu dienen für die Unzufriedenheit des Volkes und als Anzeiger für die Richtung der Arbeiter-Beschwerden, ja auch dafür, innerhalb welcher Grenzen die bürgerliche Heuchelei sich freie Bewegung gönnen dürfe.

Vergessen wir nicht zu erwähnen, dass der Socialismus sich mehr und mehr in Australien ausbreitet, nicht in dem Sinne, wie wir ihn sich in Amerika entfalten sehen, sondern vielmehr in einer der englischen Bewegung nahekommenden Art.

Uebrigens die Thatsache selbst, dass der Socialismus in England als eine Bewegung der Gedanken zuerst aufgetreten ist, rechtfertig die Hoffnung, daß seine Fortschritte nicht in’s Stocken gerathen. Der Idealismus, der hierdurch bedingt ist, ist das unerläßliche Element jeder Bewegung, die sich durchsetzen will. Es ist ohne Zweifel gefährlich unsere Hoffnung auf ökonomischen Fatalismus zu gründen, auf die andauernde Verkümmerung des bürgerlichen Elements. Nothwendiger Weise verpflichtet uns die logische Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft, diese Thatsachen in Erwägung zu nehmen; indessen die historische Verschiebung der Zustände kann den Lauf jener Entwicklung unterbrechen und der Uebermacht des Bürgertums eine weitere eebenfrist bewilligen. England kann möglicher Weise eine Periode Handelsblüthe genießen; <42> in Folge des Anreizes, den diese Blüthe auf die Entdeckungen und die Verbesserung der Mechanik üben muß, werden aber die Arbeiter noch geringeren Antheil an dem sog. Nationalreichtum haben als selbst in der gegenwärtigen Industrieperiode.

Was auch kommt, wir werden nicht aufhören Socialisten zu sein. In der That, wir können besser genährte Sklaven, angenehmer situirte Schmarotzer werden – aber damit sollten wir zufrieden sein? Nein! Die Bewegung im Reiche der Gedanken, welche sich weiter vollziehen mu?, wird uns nicht erlauben, mit einem Zustande zu sein, der nicht die volle und ganze Verwirklichung unseres Ideals ist. Wir wissen, daß wir die volkommene Gleichheit der Lebensbedingungen für alle Menschen zu fordern haben, und da? dies ein sehr wohl realisirbares Ideal ist. Wir werden niemals die mühsam erlernte Lektion vergessen; wir werden daran zu denken wissen, daß, wie auch immer das Schicksal einiger Individuen sich gestalte, der „Bodensatz” wenn auch mit Verbesserungen, doch immer jener „Bodensatz“ bleibt, von welchem John Bright mit solch satter Selbstgefälligkeit gesprochen hat, – und daß er es bleiben wird, bis wir unsere ganze Forderung durchgesetzt haben. Die Arbeiter, auch die am besten daran sind, hängen sie nich immer von ihren Lonhherren ab? Und, wenn wir den Sachen auf den Grund gehen, von dem Herrn ihrer Herren: vom internationalen Markt? Der englische Arbeiter wird mit Zähigkeit die Forderung seinen vollen Rechte verfolgen, und er wird nicht stillstehen aud dem Wege, das wissen wir, bis daß er sie ganz erobert hat. Bei alledem wird die socialistische Partei, erkennen wie es an, durch eine Periode der Enttäuschung bedroht, wenn sie zu einer rein politischen Partei ausartet. In diesem Falle wird sie das Spiel einer Handvoll von Abenteurern und Stimmenfängern werden, die nichts im Auge haben, als ihr persönliches Interesse. Zu diesem Behufe werden sie die Hoffnungen des Proletariats nähren und dasselbe durch eine verlogene Agitation zu Gunsten einiger Palliativ-Mittel betrügen, die ein Bourgeois-Parlament nicht verfehlen wird zu bewilligen, da ein solches sehr gut weiß, daß diese Palliativ-Mittel, sollten sie wirklich durchgeführt werden, der Menge des Volkes niemals mehr geben werden, als die Freiheit zu stimmen und – Hungers zu sterben.

Zwei Dinge muß man den englischen Socialisten zur Ihre nachsagen. Erstens sind, ungeachtet gewisser Meinungs-Verschiedenheiten, die englischen Socialisten – einige Ausnahmen abgerechnet – gründlich international. Sie verurtheilen mit der äußersten Energie den Chauvinismus (Jingoism [1]) – welche Erscheinungsform er auch annehme. Das Wort „Nationalität“ hat für sie nur eine geographische Bedeutung. Das „Britische Reich“, keineswegs ein Gegenstand der Liebe und des Stolzes für sie, gilt ihnen nur als eine Macht des Unheils, eine auf Ungerechtigkeit und Gewaltthat beruhende Herrschaft, die demnach dem Abscheu jedes anständigen Menschen versallen ist. Zweitens haben die englischen Socialisten, Kraft ihres Idealismus, sich als die besondere Mannschaft der ästhetischen Seite des Socialismus constituirt. Ohne die Utopien von Charles Fourier anzunehmen, sind sie, meistens ohne es selbst zu wissen, die Erben seiner Idee von der anziehenden Arbeit (Forderung, die Arbeit in der socialistischen Gesellschaft so zu gestalten, daß sie aufhört lästig zu sein und den Arbeiter als ein Vergnügen anziehe). Dieser Punkt hat seine Richtigkeit. Alle Socialisten wollen, daß alle Menschen zur Arbeit angehalten werden, aber wenn sie dies Ziel erreicht haben, werden sie sich dem Satze anschließen, daß die Arbeit weniger eine peinliche Mühe als eine reizvolle Obliegenheit ist. Trotz unvermeidlicher Fehlgänge hat die <43> socialistische Bewegung Englands den gesammten Socialismus greifbare und nützliche Dienst geleistet, indem sie den Arbeitern das zu erreichende Ziel zeigte: ein schönes und vollkommenes Leben.

Die Socialistische Bewegung Englands hat eine beachtenswerthe Literatur erzeugt. Neben mehreren täglichen Arbeiterblättern bemerkt man zwei socialistische Wochenschriften Justice, Organ der „Social-Democratic Federation“ und Commonweal, Organ der „Socialist League“. Die Socialisten veröffentlichen auch Streitschriften, Broschuren, Flugblätter; indessen fehlen auch gewichtigere Werke nicht. Ein characteristisches Zeichen ist, daß unser Romanschrifteller es gut finden, ihre Bücher mittelst eines gewissen Zusatzes von Socialismus zeitgemaß zu machen. Der Socialismus ist Mode geworden!

Der Socialismus ist also in England eine kräftige Pflanze, die lebensfrische Sprossen treibt, freilich noch jung, so jung, daß sie noch weder Blumen noch Früchte hervorgebracht hat. (Lebhafter Beifall)

* * *

Anmerkung

1. Von dem Fluch: By Jingo (sprich: bei dschingoh), Kreuzsapperment!, den die englischen Chauvinisten besonders gern im Mund führen. Der Chauvinist heißt in England Jingoist (sprich: Dschingoist).

Zuletzt aktualisiert am 30. September 2019