Parvus (Aleksandr Helphand)

Der Weltmarkt und die Agrarkrisis


2. England und Europa


Jede Untersuchung des Weltmarkts wird noch immer England im Vordergrund haben. Erstens weil dessen Weltmarktverkehr noch immer quantitativ der hervorragendste. Zweitens, weil England, Dank seinem Kolonialbesitz, seiner mächtigen Flotte und seiner kolossalen Baumwollindustrie, den asiatischen und australischen Handelsverkehr, also den Handel mit den Ländern des stillen Ozeans beherrscht. Noch Anfangs der siebziger Jahre hatte es auch die Herrschaft über den Atlantischen Ozean, so dass der gesamte überseeische Markt in seiner Macht war. Das ist jetzt noch mehr der Fall.

Noch wichtiger ist die Bedeutung Englands für die Entwicklung des Weltmarkts. Denn jede neu aufkommende nationale Industrie hatte sich vor allem mit England auseinanderzusetzen.

Bis tief in die fünfziger Jahre hinein beherrschte England den Weltmarkt. Sein einziger ernster Konkurrent war Frankreich. Allein Frankreichs Industrie trug einen besonderen Charakter. Dominierend war hier die Seidenmanufaktur, die in England nie zu einer gleich großen Entwicklung gelangte. Außerdem hatte Frankreich schon damals seine spezialen Industrien. Direkt wettbewerbend mit England trat es nur in der Wollmanufaktur auf. Doch erreichte die französische Ausfuhr von Wollefabrikaten kaum zwei Drittel der englischen, die übrigen Länder standen aber noch weit hinter Frankreich zurück, so dass Großbritanniens Ausfuhr 50 bis 60 Prozent der gesamten Weltmarkts-Zufuhr von Wollwaren absorbierte. Absolut beherrschend, ohne jede nennenswerte Konkurrenz, war England in der Baumwoll- und in der Maschinenindustrie.

Das allgemeine Verhältnis war dieses: England bezog industrielle Rohstoffe aus den Kolonien und aus den Vereinigten Staaten und bezahlte teils mit Fabrikaten, teils in Gold und Silber. In Europa und wiederum in den Vereinigten Staaten tauschte es Lebensmittel, fast durchweg landwirtschaftliche Produkte, dann Halbfabrikate wie Häute, Metalle gegen Fabrikate ein. So war England die große Weltfabrik, und die meisten anderen Länder standen zu ihm, wenn nicht politisch, so doch ökonomisch im Verhältnis der kapitalistischen Kolonie.

In allen anderen Ländern, ausgenommen England, dessen kapitalistische Industrie, weil sie als erste auf dem Plane erschien, den Weltmarkt frei fand, zum Teil erst erzeugte, musste also jede sich entwickelnde nationale kapitalistische Produktion mit einer Rebellion gegen England beginnen. Es ist bekannt, welche Rolle dabei die Schutzzölle spielten. Doch nicht darauf kommt es für uns an, sondern auf die produktiven Zusammenhänge, die durch die fortschreitende Entwicklung der kapitalistischen Produktion in Europa zwischen dem Kontinent und England geschaffen wurden.

Für jede neu auftretende kapitalistische Industrie ist die erste Frage die des Absatzes. Es scheint mir selbstverständlich zu sein, dass eine derartige Industrie ihren Markt in Ländern suchen und finden wird, in denen eine ihr gegenüber rückständige Produktionsart herrscht. So war es ja auch mit der englischen Industrie, die ihren Markt auf dem produktiv rückständigen Kontinent und in den Kolonien fand.

Allein das wurde eben anders für die europäischen Industriestaaten, die nach England auf den Weltmarkt kamen. (Unsere Untersuchung wird später zeigen, wie durch Nordamerika, Ostindien, Japan und zum Teil Russland, ein neues drittes Stadium der Entwicklung eintritt.) Die überseeischen Kolonien waren die einzigen Länder, denen sie ökonomisch überlegen waren, aber in diesen herrschte England. Wohin also die Waren absetzen?

Zunächst bot sich der innere Markt dar. Dieser, den England selbst geschaffen durch Vernichtung oder doch Zurückdrängung der entsprechenden Handwerke und primitiven Hausindustrien und durch Erweckung des Bedürfnisses für seine Fabrikate, hatte noch die Annehmlichkeit, durch Zölle geschützt werden zu können. Jedoch der nationale Markt allein genügt für die kapitalistische Produktion nicht. Der auswärtige aber wurde geöffnet gerade in den industriellen Ländern, und allen voran England. Diese Rolle der industriellen Länder als Absatzgebiet für die neu auftauchenden nationalen Industrien war so wichtig, dass z. B. in Deutschland zur Zeit seiner ersten großen Produktionsentwicklung, Anfangs der siebziger Jahre, die englische Einfuhr nicht abnahm (wie in Österreich), sondern stieg. Deutschlands Industrie brauchte also zunächst keineswegs die englische vom inneren Markt zu verdrängen, um sich entwickeln zu können.

Wie kommt es aber, dass die verspäteten europäischen Industrien mit den ihnen vorangehenden in Ländern, die ihnen produktiv untergeordnet sind, nicht konkurrieren konnten, wohl aber in diesen Ländern einer alten eingebürgerten Industrie selbst einen Absatz fanden? Die Erklärung dieses scheinbaren Widerspruchs ist nicht schwer.

Die Länder mit rückständiger Produktionsweise waren für Europa, wie erwähnt, die überseeischen Gebiete. Der Handelsverkehr mit ihnen erfordert vor allem eine große Handelsflotte. Diese aber setzt, sintemalen es sich nicht mehr um Ausraubung großer Kolonialgebiete handelt, bereits einen ziemlichen Grad der industriellen Entwicklung voraus.

Die Hauptsache aber ist, dass je rückständiger die gesellschaftliche Produktionsweise, desto beschränkter, quantitativ und qualitativ, der Warenbedarf. Meistens bezieht sich dieser nur auf ein paar Artikel, die zur Produktionsspezialität des mit diesen Ländern in der nächsten Verbindung stehenden Industrielandes werden. Das Hauptgewicht in dem Handelsverkehr liegt hier deshalb in der Einfuhr und nicht in der Ausfuhr. Erst mit ihrer fortschreitenden kapitalistischen Umgestaltung wird das anders.

Dagegen lagen den jungen europäischen Industrien die alten kapitalistischen Länder schon deshalb als Absatzgebiet am nächsten, weil sie bereits in einer ausgedehnten Handelsverbindung mit ihnen standen. Ja, es waren vielfach englisches oder französisches Kapital, englische oder französische Ingenieure und Maschinen, die von auswärts ihrem Heimatlande Konkurrenz machten. Dazu kommt, dass der Bedarf dieser Länder ein viel reicherer ist und deshalb eine größere Spezialisierung und Ausnützung der besonderen natürlichen oder ökonomischen Produktionsvorteile zulässt. Endlich kommt für England noch in Betracht, dass dort, gerade infolge der frühen Entwicklung einer Produktion für den Weltmarkt, die Produktion für den eigenen Landesbedarf relativ zurückstand. Man hat dabei nicht bloß den großen Gegensatz zwischen der landwirtschaftlichen und industriellen Entwicklung ins Auge zu fassen, sondern, teils damit zusammenhängend, die Produktion einer Anzahl von Massengebrauchs- und auch Luxusartikel.

Das waren die Verhältnisse des Weltmarkts, unter denen die Industrien des europäischen Festlandes, vor allem jene Deutschlands, sich entwickelten. [2] Das war in sehr bedeutendem Maße bestimmend für den Charakter, den die deutsche Produktionsentwicklung annahm. Über diesen selbst weiter unten.

Um unsere allgemeinen Erörterungen zu bekräftigen, genügt Folgendes:

Es betrug 1893 die Ausfuhr nach dem übrigen Europa in Teilen des Gesamtausfuhr: in Deutschland 76 Prozent, in Frankreich 74 Prozent.

Dagegen machte der Export Großbritanniens nach dem übrigen Europa, ebenfalls in Teilen der Gesamtausfuhr ausgedrückt, folgende Bewegung durch:

1871–75

49 Prozent

1876–80

48 Prozent

1881–85

43 Prozent

1886–90

41 Prozent

1890–94

41 Prozent

Währenddem England drei Fünftel seines Absatzes außer Europa führt, geben Deutschland und Frankreich im Gegenteil drei Viertel ihres Warenexports nach Europa ab. England wird in der Bewegung des europäischen Warenmarkts von den übrigen Staaten wenigstens relativ immer mehr zurückgedrängt.

Wir haben schon darauf hingewiesen, dass der erste industrielle Aufschwung Deutschlands von einer Steigerung der englischen Warenzufuhr begleitet war. Das hielt nicht lange an, und die Krise von 1873 war die große Auseinandersetzung vor allem zwischen Deutschland und England. Nicht der „Schwindel“ erzeugte die siebziger Krise, sondern die Überproduktion. Was von Haus aus Schwindel war, gab nicht den Ausschlag, das Andere wurde aber in dem Moment Schwindel, wo die Überproduktion eintrat. Diese hatte sich aber für Österreich, in dem die Krise zuerst ausbrach, bereits 1872 angekündigt durch den Rückgang der Ausfuhr um etwa 17 Prozent, um mehr als ein Sechstel.

Jedenfalls war die siebziger Krise insofern entscheidend, als durch die allgemeine Depression des Markts die Frage gestellt wurde: Wer weicht zurück und wer behauptet den Platz? Die Entscheidung zeigen die Zahlen der Ausfuhr.

Es betrug die Ausfuhr in Millionen Pfund Sterling:

Im Jahre

In Großbritannien

In Deutschland

1870

244

1871

283

1872

314

116

1873

311

115

1874

297

117

1875

281

124

1876

256

127

1877

252

138

1878

245

144

Man sieht, die Ausfuhr Englands ist unter der Krise unausgesetzt stark zurückgegangen, während die Ausfuhr Deutschlands unausgesetzt stieg – trotz der Krise. Dadurch hat es sich seine Stellung auf dem Weltmarkt erobert.

Die Handelsbeziehungen Englands zu Deutschland und Frankreich haben sich seit den siebziger Jahren total verändert.

Es betrug in Millionen Pfund Sterling:

Im Jahre

Im Verkehr mit Deutschland

Im Verkehr mit Frankreich

 

Einfuhr von

Ausfuhr nach

Einfuhr von

Ausfuhr nach

1871–75

100

187

208

148

1876–80

118

  46

213

136

1890–94

132

137

220

110

Im Verkehr mit beiden Ländern hat die Einfuhr von diesen nach England zugenommen und die Ausfuhr von England nach ihnen abgenommen. Nunmehr empfängt England 20 bis 25 Prozent der gesamten deutschen Ausfuhr.

Eine Industrie, die für Europa und in erster Linie für England produziert, muss einen anderen Charakter tragen als eine Industrie, deren Absatzgebiet in den Kolonien liegt. Die Untersuchung der deutschen Industrie ihrer Art nach wird diesen Unterschied deutlicher zeigen.

* * *

Anmerkung

2. Es ist eine eigenartige Erscheinung, dass die kapitalistische Entwicklung Russlands von der Deutschlands so weit hinter sich gelassen, auch von der Nordamerikas und nunmehr sogar Japans und Ostindiens überholt wurde. Dieser Umstand verweist aber schon von selbst, dass der Grund daran nicht, wie die russischen „Narodniki“ es annehmen, in dem Mangel an einem „auswärtigen Markte“, worunter sie einen kolonialen Markt verstehen, liegt. Denn seitdem dieser Mangel an einem „auswärtigen Markte“ von den „Narodniki“ als Unterpfand des primitiven Kommunismus der russischen Dorfgemeinde konstatiert wurde, haben alle genannten Länder, eines nach dem anderen, ihren auswärtigen Markt „entdeckt“!

Tatsächlich ist in Bezug auf die Entwicklung eines kolonialen Absatzgebietes Russland viel günstiger gelegen als zum Beispiel Deutschland, es hat sogar eine ausnahmsweise günstige Stellung. Durch das Schwarze Meer besitzt es eine Verbindung mit Süd- und Ostasien und den übrigen Ländern des Stillen Ozeans, wie sie nur noch von den Ländern des Mittelmeers erreicht wird. Durch die sibirische Eisenbahn, die ja nunmehr gebaut wird, setzt es sich in eine direkte Verbindung mit China, Japan und Nordamerika. Durch die Besiedelung der fruchtbaren sibirischen Ebene kann es die ökonomische Grundlage schaffen zur Bildung eines Industriegebiets von größter Bedeutung und mit dem weitesten Absatzgebiet. Das alles und noch vieles andere wäre schon längst geschaffen worden, wenn Russland bereits ein industrielles Land wäre. Und dies ist der springende Punkt: nicht weil Russland keinen Kolonialmarkt hat, verlangsamt sich seine industrielle Entwicklung, sondern weil die industrielle Entwicklung so langsam ist, deshalb hat es sich den Kolonialmarkt noch nicht erschlossen.

Die Entwicklung der Industrie in Russland wurde aber aufgehalten durch zwei Umstände, die die Ausdehnung des inneren Markts hemmten: den Dorfkommunismus und den Absolutismus. Der Dorfkommunismus bewährt sich zwar in seiner viel gerühmten Eigenschaft der Hintanhaltung der Proletarisierung nicht gar sehr, desto vollkommener aber in dem Prozess der nicht proletarischen Verelendung. Er schafft elende Subjekte, die nur deshalb keine Proletarier werden, weil sie an die Scholle gefesselt sind, weil sie keine freie Verfügung haben über ihre Arbeitskraft, die sich also vom Proletariat nur durch ihre Unfreiheit unterscheiden. Er erzeugt ökonomische Gestalten, die noch tief unter dem Proletariat stehen, die reif sind für die Schuldknechtschaft und Leibeigenschaft. Er unterhält auf dem Lande eine ungeheure Überbevölkerung, die jede Besserstellung des Bauerntums unmöglich macht. Aber gerade dieses Bauerntum sollte in Russland, wo es an einer gewerblichen Städtebildung mangelte, den inneren Markt abgeben (so war es nicht die Konkurrenz des Handwerks, sondern vielmehr der Mangel an dieser Konkurrenz, der die Entwicklung der Industrie in Russland hinderte.)

Der Absolutismus, beruhend auf bürokratischer Zentralisation, erschöpft die Mittel des Landes zum Zwecke des Militarismus und um eine unnütze Beamtenschar aufpäppeln. Er ruiniert durch übermäßigen Steuerdruck die Bauernwirtschaft und dadurch die ökonomischen Quellen des Landes.

Eine demokratische Regierung hätte in Russland vor allem die Aufgabe, einen Teil des existenzlosen Bauerntums, das sich in den Zentralgouvernements zusammenhäuft, nach den kulturfähigen Gebieten Sibiriens abfließen zu lassen. So befreit von der Übervölkerung und unter vermindertem Steuerdruck würde sich hüben wie drüben ein wohlhabendes Bauerntum entwickeln, das freilich mit den letzten Resten des Gemeindekommunismus aufräumen würde.

Anders in jeder Beziehung würde sich die Situation gestalten, wenn über die ökonomischen Schicksale Russlands eine sozialrevolutionäre, auf einen europäischen proletarischen Staat sich stützende Regierung zu entscheiden hätte.


Zuletzt aktualisiert am 16. April 2024