Parvus (Aleksandr Helphand)

Der Weltmarkt und die Agrarkrisis


3. Die Stellung Deutschlands
auf dem Weltmarkte


Wir haben in Heft 7 der Neuen Zeit die allgemeinen Zusammenhänge des Weltmarkts skizziert, unter denen die Entwicklung der später als die englische auftretenden nationalen Industrien Europas, deren reinster Typus die deutsche Industrie ist, sich vollzogen hat. Wir verweisen auf den Unterschied zwischen dem industriellen Absatzgebiet des europäischen Festlands und dem Englands und folgerten daraus, dass dem Unterschied des Absatzes Verschiedenheiten nachzuweisen. Den Mittelpunkt unserer jetzigen Untersuchung bildet deshalb Deutschland.

Eins fällt sofort auf: die geringe Entwicklung der an die Landwirtschaft anknüpfenden Industriezweige in England gegenüber dem Kontinent. Die Spiritusbrennerei als Exportbetrieb und die Rübenzuckerfabrikation haben ihren Sitz in Deutschland und Frankreich, in Österreich und Russland.

Anfang der siebziger Jahre schrieb Friedrich Engels: „Kartoffelsprit ist für Preußen das, was Eisen und Baumwollwaren für England sind, der Artikel, der es auf dem Weltmarkt repräsentiert.“ [3] Seitdem hat sich allerdings die Lage stark verändert. Der deutsche Spiritus ist vom Weltmarkt total zurückgedrängt worden (im Jahre 1884 wurden ausgeführt für 32,6 Millionen Mark, im Jahre 1893 für 4,7 Millionen!), und auch der an seine Stelle getretene Rübenzucker wird bereits bedrängt. Immerhin ist noch der Zucker der bedeutendste Ausfuhrartikel Deutschlands, der, im Werte von ca. 200 Millionen Mark, allein 5–7 Prozent der Gesamtausfuhr ausmacht. Aber viel wichtiger ist die Rolle der Zuckerfabrikation und der Spiritusbrennerei in der Entwicklung der deutschen Industrie.

Beim Spiritus lagen die Verhältnisse ziemlich einfach. War es vorteilhaft, Korn auszuführen, und dass dies der Fall sei, dafür sorgte die industrielle Entwicklung Englands, so war es auch vorteilhaft, Kornbranntwein zu exportieren, dann aber Kartoffelspiritus erst recht. Komplizierter war die Entwicklung der Zuckerindustrie, und diese ist typisch dafür, wie überhaupt der Kampf gegen Englands industrielle Übermacht vor sich ging.

England importierte zunächst Rohrzucker. Es besaß im Lande Raffinerien, die ihn zu Konsumzucker verarbeiteten. Es hatte dabei noch bis in die fünfziger Jahre eine relativ bedeutende Ausfuhr von rohem und raffiniertem Zucker. Der Kampf des Rübenzuckers mit dem Rohrzucker war zunächst eine Konkurrenz der Rohstoffe, von der die französischen und englischen Raffinerien den Vorteil hatten. In je größerem Maße aber der Rübenzucker den Rohrzucker vom europäischen Markte verdrängte, desto mehr wuchs die Konkurrenz von Rübenzuckerproduzenten untereinander. Zweierlei ergab sich daraus zu gleicher Zeit: erstens, die englische und französische Zuckerraffinerie wurde immer mehr abhängig vom europäischen (also auch französischen) Rübenbau, zweitens, das Sinken der Rohrzuckerpreise zwang dazu, statt des rohen raffinierten Zucker auf den Markt zu bringen. Das Resultat war die Vernichtung der englischen Zuckerraffinerie, die sich auf keinen heimischen Rübenbau stützen konnte.

Diese Entwicklung wird von der englischen Handelsstatistik vorzüglich wieder[ge]spiegelt. Die Bewegung ging so regelmäßig vor sich, dass es genügt, durch einzelne Angaben ihre verschiedenen Stadien zu kennzeichnen. 1856 bildete noch der Rohrzucker 72 Prozent der gesamten Zuckereinfuhr Englands; zu gleicher Zeit bildete der raffinierte Zucker bloß 2½ Prozent der Einfuhr. 1865 wurde bereits zu gleichen Teilen Rohrzucker und roher Rübenzucker eingeführt, Raffinade machte 7 Prozent der Ausfuhr aus. 1870 geht der Rohrzucker auf kaum 32 Prozent der Zuckereinfuhr. 1880 bildete der raffinierte Zucker 15 Prozent der Einfuhr, 1885 21 Prozent und im Jahre 1894 beinahe die Hälfte des englischen Zuckerimports!

So entwickelte sich in Deutschland aus der Ausfuhr eines Rohstoffs, der einer fremdländischen Industrie zu Gute kam, kraft der immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion, eine nationale Fabrikation, die schließlich zur Herrschaft auf dem Weltmarkt gelangte.

Abgesehen von den besonderen Umständen, die die Entwicklung der Zuckerfabrikation und der Branntweinbrennerei in den einzelnen Ländern begünstigten (auf die Rolle, die bei der letzteren in Preußen und Russland die Bauernablösung spielte, hat seinerzeit Fr. Engels verwiesen), scheint es Gesetz zu sein für die industrielle Entwicklung in den Staaten des europäischen Festlandes, dass sie durch den Zucker und den Schnaps hindurch müssen.

Der Grund davon ist vor allem der, dass diese Produktionszweige direkt an die Landwirtschaft anknüpfen. Dann aber sind ihre Produkte Massenkonsumgegenstände in klassischer Form, die auch im Inlande selbst ein breites Absatzgebiet finden, und es sind in erster Linie europäische Verbrauchsgegenstände. So haben auch tatsächlich Frankreich, Deutschland, Österreich, Russland diese Entwicklung durchgemacht.

Da die allgemeine Bewegung der kapitalistischen Produktion sich von keiner europäischen Macht vorschrieben lässt, so kann ihr selbstverständlich auch kein Halt geboten werden gerade in dem Moment, der etwa für den ostpreußischen Junker am vorteilhaftesten ist. Sie schreitet weiter und bringt neue Beziehungen zu Stande. Diese gehen uns aber vorläufig noch nichts an. Ist die deutsche Spiritusindustrie in den letzten Jahren auch auf den inländischen Markt beschränkt worden, so werden vom produzierten Zucker noch immer 50 bis 60 Prozent ausgeführt, wovon der weitaus größte Teil nach England abgeht.

Welche Bedeutung diese Entwicklung für die deutsche Landwirtschaft hatte, darüber an anderer Stelle.

Stellen wir nun einen allgemeinen Vergleich an zwischen der industriellen Gestaltung Deutschlands und Englands. Da möge zunächst folgende, nach der deutschen Berufszählung von 1882, der englischen von 1881 zusammengestellte Übersicht zur Orientierung dienen.

Von 1000 Erwerbstätigen der nachstehend bezeichneten Berufsgruppen gehörten den einzelnen dieser Berufsgruppen an:

 

Deutsches Reich

England und Wales

I.

 

Bergbau, Hütten und Salinen

    68

    85

Metallverarbeitung mit Ausnahme von Eisen

    11

   26

Eisenverarbeitung

    72

    74

Maschinen, Werkzeuge etc.

    45

    64

Textilindustrie

  133

  188

Transport

  329

  437

II.

 

Chemische Industrie

    14

    10

Papier- und Lederindustrie

    35

    24

Industrie der Holz und Schnitzstoffe

    82

    42

Industrie der Nahrungs- und Genussmittel

  104

    54

Industrie der Steine und Erden

    51

    33

III.

 

Baugewerbe

  148

  150

Industrie der Bekleidung und Reinigung

  208

  204

Fotografische Gewerbe

    10

    15

Künstlerische Betriebe

      4

      3

Unbestimmte Industriezweige

    15

    26

 

1000

  998

Die Tabelle zeigt deutlich eine Dreiteilung: I. Industriezweige, in denen England dem Deutschen Reich überlegen ist, II. Industriezweige, in denen das Übergewicht auf Seiten Deutschlands ist, III. Produktionszweige, die gleichmäßig in Deutschland und England vertreten sind. Diese Dreiteilung entspricht einer wichtigen allgemeinen Gruppierung der kapitalistischen Industrie.

Die von uns unter III. aufgeführten Industriezweige hängen eng zusammen mit der Entwicklung der Städte. Beim Baugewerbe liegt das auf der Hand. Auch die Industrie der Reinigung (Badeanstalten, Wäscherei etc.) ist rein städtisch. Das sind Produktionen für den inländischen Markt. Zweifellos bedankt die Bekleidungsindustrie ebenfalls ihre Entwicklung den großen Massenansammlungen und dem verfeinerten Lebensbedarf der Städte. Auch diese Industrie wird stets in der Hauptsache auf den inländischen Konsum angewiesen sein, doch sind ihre Produkte auch exportfähig und bilden dadurch die Verbindung mit der Gruppe II, die später zu erörtern ist.

Gruppe I enthält die Maschinen- und Textilindustrie nebst ihrem produktiven Anhang. Das ist die Produktion für den produktiven kapitalistischen Bedarf und für den Kolonialmarkt. Zu dem produktiven Bedarf ist ja auch der Bedarf der Textilstoffe zu rechnen, die die Grundlage der weit ausgedehnten Bekleidungsindustrie bilden. Hier hat, wie unsere Tabelle zeigt, England das große Übergewicht. Der Unterschied kommt aber, besonders für die Textilindustrie, in dieser Zusammenstellung nur sehr unvollkommen zur Geltung, da sie nur die Zahl der Erwerbstätigen angibt, ohne Unterscheidung der Groß- und Kleinbetriebe. Da in Deutschland das Handwerk und die Hausindustrie noch sehr stark vertreten sind, so verschiebt sich das Resultat zu Gunsten Deutschlands.

Die große Gewerbegruppe der Textilindustrie bietet aber auch nach ihrer inneren Zusammensetzung Unterschiede zwischen England und Deutschland.

Es betrugen die Verhältniszahlen der Erwerbstätigen:

 

Deutsches Reich

Großbritannien

Baumwollindustrie

  30,0 Prozent

  51,0 Prozent

Wollindustrie

  24,0 Prozent

  28,0 Prozent

Flachs- und Hanfindustrie

  18,0 Prozent

  13,0 Prozent

Seidenindustrie

  12,0 Prozent

    4,3 Prozent

Strumpfwarenfabrikation

  11,0 Prozent

    2,0 Prozent

Spitzenindustrie 

    5,0 Prozent

    1,7 Prozent

 

100,0 Prozent

100,0 Prozent

Währenddem die Textilindustrie in England sich auf die Baumwollindustrie und die Wollmanufaktur konzentriert, zeigt sie in Deutschland eine viel gleichmäßigere Verteilung. Auffallend ist das relativ starke Hervortreten der Seidenindustrie, der Strumpfwirkerei und der Spitzenfabrikation in Deutschland. Das sind eben Industriezweige, die in erster Linie auf den europäischen Bedarf berechnet sind. Zum Teil handelt es sich auch um Spezialitäten, worauf wir schon früher verwiesen haben. Eine gesonderte Betrachtung der Baumwoll- und Wollindustrie zeigt, dass in Deutschland die Weberei relativ stärker vertreten ist. Das ist das Ergebnis der englischen Garnausfuhr. Wieder ein Beispiel, wie England sich selbst Konkurrenten großzog.

Im Allgemeinen zeigt uns die spezialisierte Betrachtung der Textilindustrie, dass sie in Deutschland mehr zersplittert und, soweit sie hier stärker vertreten, im Gegensatz zu ihrem allgemeinen Charakter auf die Produktion von Gegenständen des persönlichen Gebrauchs in Europa berechnet ist.

Soviel über die Gruppe I. Der Bergbau (Steinkohlen!) bildet die Verbindung mit der Gruppe III und die Eisenverarbeitung mit Gruppe II.

Die Gruppe II, das Spezifikum der deutschen Industrie, ist gemischt. Die Hauptstelle nimmt in ihr die Industrie der Nahrungs- und Genussmittel ein. Das ist in der Hauptsache eine Produktion für den heimischen Bedarf. Doch sind hier auch die Exportindustrien: Spiritusbrennerei und Zuckerfabrikation, enthalten, die wir Eingangs erörtert haben. Die Industrie der Steine und Erden bildet die Verbindung dieser Gruppe und der Gruppe III, aber sie enthält außerdem die für den Export bedeutenden Produktionszweige: Glas und Glasverarbeitung (Spiegel) und die Porzellanmanufaktur. Die allgemeine Charakteristik dieser bunten Gruppe ist: Fabrikation von Gegenständen des feineren Lebensbedarfs und von Hilfsstoffen der europäischen Industrie (Farbstoffe). Wird Gruppe I als Produktion für den produktiven kapitalistischen Bedarf charakterisiert, so Gruppe II als Produktion für den Bedarf der europäischen städtischen Haushaltung.

So zeigt es sich, dass die scheinbar zufällige Gestaltung der deutschen Industrie ihrer Art nach in Wirklichkeit bedingt war durch die Stellung Deutschlands innerhalb der Entwicklung des Weltmarkts. Diese Stellung haben wir im vorigen Artikel charakterisiert.

Der durch das Absatzgebiet bedingte Charakter der Industrie kommt dann selbstverständlich in der qualitativen Zusammensetzung der Ausfuhr zum Ausdruck.

Währenddem die englische Ausfuhr zu 44 Prozent aus Textilfabrikaten besteht, bilden diese in der deutschen Ausfuhr bloß 21 Prozent. Die Baumwollfabrikate bilden in England 30 Prozent der Ausfuhr, in Deutschland 5 Prozent. Der Wert der deutschen Ausfuhr (nicht bloß der Mehrausfuhr) an Baumwollfabrikaten steht noch ziemlich hinter dem Wert seiner Einfuhr von roher Baumwolle zurück, ein Beweis, dass der Absatz für diesen Produktionszweig noch weitaus ein inländischer ist. Umgekehrt beträgt in England der Wert der ausgeführten Baumwollfabrikate das Doppelte des Wertes der eingeführten Baumwolle. Wohl aber hat Deutschland eine relativ und absolut viel bedeutendere Ausfuhr an Strumpfwaren, Spitzen und Stickerei, Posamentierwaren.

Der relative Ausfall der deutschen Ausfuhr an Textilfabrikaten gegenüber England wird bei weitem wettgemacht durch die Ausfuhr aus dem Gebiete unserer Gruppe II, die wir im Einzelnen nicht auseinanderzusetzen brauchen. Gruppe II liefert mehr als 40 Prozent der Gesamtausfuhr Deutschlands. Sie ist also für Deutschland, was Gruppe I für England: sie „repräsentiert“ es auf dem Weltmarkt. Wir waren bis jetzt bemüht. An dem Beispiele Deutschlands das Typische der Stellung einer festländisch-europäischen Industrie innerhalb des Weltmarkts hervorzuheben. (Wir werden später sehen, wie damit die Entwicklung der europäischen Landwirtschaft zusammenhängt.) Es ist jedoch klar, dass es in den Handelsbeziehungen Deutschlands mit einzelnen Ländern Variationen geben muss. Es lassen sich aber diese Verschiedenheiten in drei typische Gestaltungen zusammenfassen, für die wir als Vertreter wählen: den Handelsverkehr Deutschlands mit England, mit Frankreich, mit den Vereinigten Staaten. Diese Erörterung soll das Bild von der Stellung Deutschlands auf dem Weltmarkte vervollständigen. Die Jahresnachweise über den auswärtigen Handel Deutschlands liefern uns in diesem Falle trefflich vorbereitetes Material.

Der Handelsverkehr Deutschlands mit Großbritannien. Hier genügt es im Wesentlichen, die vom statistischen Büro für das Jahr 1893 gegebene allgemeine Charakteristik anzuführen:

„Sowohl in der Einfuhr als auch in der Ausfuhr nimmt Großbritannien im auswärtigen Handel des deutschen Zollgebiets die erste Stelle ein. Letzteres bezieht von Großbritannien einen erheblichen Teil der Rohstoffe und Halbfabrikate, deren es für viele seiner Erwerbszweige bedarf. ... In dieser Hinsicht sind hauptsächlich die Textil-, Metall- und Lederindustrie, sowie die chemische Industrie nebst der Industrie der Fette und Öle hervorzuheben. ... Ein Teil der Rohprodukte, welche Großbritannien dem Zollgebiet liefert, entstammt überseeischen Ländern, ein anderer wird in Großbritannien selbst gewonnen. Zu den Letzteren gehören in erster Reihe Steinkohlen und Kupfer. Industrieprodukte kommen bei der Einfuhr von Großbritannien in das Zollgebiet, abgesehen von den Halbfabrikaten Baumwoll- und Wollgarn, erst in zweiter Linie in Betracht. Die Ausfuhr des Zollgebiets nach Großbritannien erstreckt sich besonders auf Fabrikate, während Rohprodukte und Halbfabrikate eine nur untergeordnete Rolle spielen.“

Die hervorragenden Ausfuhrartikel Deutschlands nach Großbritannien sind folgende: Zucker, Halbseidenwaren, Kleider- und Putzwaren, feine Lederwaren, Tuch- und Zeugwaren (wollene, unbedruckte), Farbendruckbilder, Kupferstiche, dichte Baumwollgewebe (gefärbt und bedruckt), Klaviere usw. Dieses spezifizierte Verzeichnis entspricht vollkommen unseren früheren Angaben über den allgemeinen Charakter der deutschen Ausfuhr.

Es hat sich also scheinbar das Verhältnis zwischen Deutschland und England umgekehrt. Früher bezog Deutschland Fabrikate aus England und jetzt bezieht sie England aus Deutschland. Aber Deutschland bezahlte seinerseits die Einfuhr mit Lebensmitteln und erst in zweiter Linie mit Rohstoffen, England aber zahlt mit Rohstoffen bzw. Halbfabrikaten. Der erste Verkehr war ein abschließender, denn die Lebensmittel gingen in den englischen persönlichen Konsum ein, die Fabrikate in den deutschen – der zweite aber ist es durchaus nicht. Denn die Rohstoffe, die Deutschland von England bezieht, dienen nur dazu, die Produktion, nicht das Leben zu erneuern. Sie müssen, nimmt man diesen Verkehr für sich, dazu dienen, die Produktion zu erweitern, wenn die deutsche Fabrikatesausfuhr ihrem Wert nach vollständig gedeckt werden soll, denn Fabrikate sind der Natur der Dinge nach teurer als Rohstoffe. Je mehr der Verkehr Deutschlands mit England sich nach dieser Richtung hin ausdehnt, desto mehr muss sind, caeteris paribus [wenn alles andere gleich bleibt], seine Industrie erweitern, desto stärker sein Bedürfnis nach einer Fabrikatesausfuhr, desto schärfer im Lande der Gegensatz zwischen Industrie und Landwirtschaft, desto größer das Erfordernis nach Einfuhr von Lebensmitteln und desto größer die Notwendigkeit, in Handelsbeziehungen zu einem Lande zu treten, von dem man Lebensmittel gegen Fabrikate eintauschen könnte. Wie der aufgefundene Knochen dem Paläontologen die Gesamtheit des Gerippes angibt, so zeigt dem Ökonomen das aus dem Zusammenhang des Weltmarkts herausgerissene Handelsverkehr zweier Nationen, welcher Art der komplementäre Teil sein muss – und so organisch zusammenhängend ist der Weltmarkt.

Andererseits, je mehr die Ausfuhr Deutschlands zur Fabrikatesausfuhr wird, die heimische Produktion den inländischen Markt deckt, desto mehr sieht sich England genötigt, diese Ausfuhr mit Rohstoffen zu decken. Es tauscht, wie früher, in den Kolonien Rohstoffe gegen Fabrikate ein, aber statt sie zu Hause zu verarbeiten und die gewonnenen Fabrikate in Deutschland gegen Lebensmittel einzutauschen, schickt es diese Rohstoffe nach Deutschland und bekommt dafür Fabrikate zurück. Da aber der zurückfließende Wertstrom von Fabrikaten größer ist als die Rohstoffabfuhr, so sieht es sich veranlasst, diese fortwährend zu steigern. Dann aber zeigt es sich schließlich außer Stande, die eingeführten Fabrikate selbst zu verbrauchen. Und dann muss es diese Fabrikate zum Teil wieder ausführen. Das konstatiert das deutsche statistische Büro: „Die vom Zollgebiete nach Großbritannien gelieferten Fabrikate werden vielfach wieder von dort nach überseeischen Ländern ausgeführt.“

Es ist diese Entwicklung keineswegs bloß Änderung des Handelsverkehrs. Zwischen Deutschland und Ostindien steht nicht bloß der englische Kaufmann, sondern es steht der Bedarf Englands nach Rohstoffen und Fabrikaten, kurz die englische Industrie. Es handelt sich um das Ineinander- und Dazwischengreifen der Umschlagszyklen der nationalen Kapitale und ihr Aufgehen in die Zirkulation eines einzigen gesellschaftlichen Kapitals, das keine nationalen und politischen Schranken kennt.

Der Handelsverkehr zwischen Deutschland und Frankreich zeigt uns das Verhältnis zweier gleichartigen nationalen Industrien.

Die Spiritusbrennerei und Zuckerfabrikation haben ja Deutschland und Frankreich miteinander gemeinsam. Diese heben sich nunmehr im Handelsverkehr gegenseitig auf. Gemeinsam für Deutschland und Frankreich ist auch eine Anzahl anderer Fabrikationen. Deshalb sind Einfuhr und Ausfuhr der allgemeinen Art noch sehr oft identisch. So werden z. B. wollene Tuch- und Zeugwaren ein- und ausgeführt, desgleichen Handschuhleder, Florettseide, Schafwolle, feine Lederwaren und Ähnliches mehr.

Der Handelsverkehr ist deshalb sehr zersplittert. Keine großen Warengruppen. Bei einem Gesamtwert der französischen Wareneinfuhr nach Deutschland von 241 Millionen Mark im Jahre 1893 war der Wert des wichtigsten Einfuhrartikels, des Weins, 16 Millionen Mark, zu gleicher Zeit war bei einer deutschen Ausfuhr nach Frankreich von 203 Millionen der Wert des hauptsächlichen Ausfuhrartikels, Koks [4], 12 Millionen Mark. Der Verkehr besteht aus einer Fülle kleiner Warenposten, die dem Wert nach einander beinahe gleich sind. Volle 35 Warenarten werden in Summen von 1 bis 2 Millionen Mark eingeführt. Der nationale Unterschied der Industrien ist beinahe ausgelöscht. Die Handelsbewegung ähnelt dem Inlandsverkehr. Dass sie es nicht vollkommen wird, hindern die Zollschranken.

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind jenes komplementäre Glied im auswärtigen Handel des Deutschen Reichs, auf das wir schon bei der Erörterung seiner Handelsbeziehungen zu England hingewiesen haben.

Auch hier können wir uns mit der in der deutschen amtlichen Statistik gegebenen allgemeinen Charakterisierung begnügen.

„In dem Handel der Vereinigten Staaten von Amerika mit dem deutschen Zollgebiet sind für die Einfuhr hauptsächlich Baumwolle, Getreide, Petroleum, unbearbeitete Tabakblätter, Kupfer, sodann Produkte der Viehzucht, wie Fleisch, Schmalz von Schweinen.

Dagegen empfangen die Vereinigten Staaten von Amerika aus dem deutschen Zollgebiet die verschiedenartigsten Industrieprodukte, vornehmlich aber Fabrikate der Textilindustrie, als Strumpfladen, ferner halbseidene Waren und Zeugwaren, ferner Zucker, sowie Handschuhe und andere Produkte der Lederindustrie.“

Es ist der kapitalistische Kolonialverkehr. Nur dient als Kolonie nicht ein barbarisches, sondern ein kulturelles Land. Deshalb begegnen wir hier bei der deutschen Ausfuhr denselben Gegenständen wie für den europäischen Bedarf.

Die Ausfuhr Deutschlands nach den Vereinigten Staaten macht 11 Prozent, also zusammen mit der Ausfuhr nach Europa 87 Prozent seiner Gesamtausfuhr aus. Indem das Verhältnis Deutschlands zu Europa und den Vereinigten Staaten dargestellt worden ist, ist seine gesamte Stellung auf dem Weltmarkt charakterisiert worden.

Die Ansätze neuer Bildungen können an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden. Desgleichen konnte Nordamerika nur als Absatzgebiet und nicht in seiner allgemeinen industriellen und landwirtschaftlichen Entwicklung in Betracht gezogen werden.

Soviel über Deutschlands Industrie und Handel. Dass sie typisch sind für das europäische Festland, zeigte ja zum Teil soeben die Betrachtung des Handelsverkehrs Deutschlands mit Frankreich. Zur Vervollständigung ein kurzer Überblick über den auswärtigen Handel Frankreichs. Wie in Deutschland, bildet auch hier die Ausfuhr von Textilfabrikaten nur 20 Prozent der Gesamtausfuhr. Daneben führt Frankreich bedeutende Quantitäten Rohseide und roher Wolle aus. Nun nehmen einen breiten Platz die Genussmittel ein: Zucker, Spiritus etc., aber auch Wein. Der Rest wird ausgeführt durch die übrigen Vertreter der bekannten Gruppe II unserer Übersicht: Papier- und Lederwaren, Glaswaren, Porzellan, für Frankreich besonders kennzeichnend: Juwelen und kleine Luxusgegenstände. Man sieht, auch hier entspricht die qualitative Zusammensetzung der Ausfuhr dem besonderen Charakter des europäischen Absatzgebiets.

Es ist klar, dass die Industrien des europäischen Festlandes, die für den heimischen und den allgemeinen europäischen Markt produzieren, andere handelspolitische Interessen erzeugen müssen als die Industrie Englands, die für den Kolonialmarkt produziert. Tatsächlich kommt auch der Unterschied der Industrie scharf zur Geltung in dem Unterschied der Handelspolitik. Währenddem die Handelspolitik Englands darauf hinausging, sich auswärtige Märkte zu erschließen, bezweckt die Handelspolitik der europäischen Staaten vor allem, den heimischen Markt abzuschließen. Im europäischen Zollschutz kommt der Zusammenhang der kapitalistischen Produktion zum Ausdruck, deshalb auch der Zusammenhang zwischen Industrie und Landwirtschaft, dies alles aber, dem Anspruch der kapitalistischen Produktion entsprechend, als Gegensatz und Widerspruch.

* * *

Anmerkungen

3. [Friedrich Engels, Preußischer Schnaps im deutschen Reichstag, 1876, Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 19, Berlin 1962, S. 37–51, hier S. 45.]

4. Dies im Jahre 1893.


Zuletzt aktualisiert am 16. April 2024