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Aus: Parvus, Die Orientfrage. 1. Die Integrität der Türkei, Sächsische Arbeiter-Zeitung, 8. Jg., Nr. 60, 11. März 1897.
„Soll die Sozialdemokratie für oder gegen die Integrität der Türkei auftreten?“ Stellt man so die Frage, so erhält man unbedingt eine einseitige und schiefe Antwort. Denn die Idee der Integrität der Türkei hat schon zu verschiedenen Malen verschiedene Kombinationen der europäischen Mächte um sich gesammelt, auf diese aber, auf das europäische Gleichgewicht kommt es uns an, und nicht auf die Türkei selbst. Die Sächsische Arbeiter-Zeitung ist zuerst und am entschiedensten gegen jenes einseitige Extrem aufgetreten, welches in den Orientwirren mir das Produkt russischer Intrigen sah, den inneren Zersetzungsprozess der Türkei außer Acht lassend, andererseits aber Russland mit der den Traditionen des Krimkrieges entnommenen Idee der Integrität der Türkei (die übrigens kaum 3 Jahre nach dem Krimkriege durch die Bildung Rumäniens bereits durchbrochen morde) am besten entgegentreten zu können glaubte, und dadurch die wirklichen russischen Intrigen, die in den letzten Jahren einen anderen Charakter trugen, und die von Russland beeinflusste deutsche Orientpolitik, in der Meinung, sie zu bekämpfen, stützte. Mit den von Luxemburg, Bernstein, Auer, Kautsky und jüngst in seiner Berliner Rede auch von Bebel gemachten Ausführungen sind wir insoweit einverstanden. Aber das ist nur die Verneinung des einen Extremes, – wir müssen uns davor hüten, in das andere zu verfallen, vor allem aber müssen wir jenen allgemeinen Gesichtspunkt in den Vordergrund rücken, von dem aus das Ganz im einheitlichen Zusammenhang erscheint.
Zunächst die andere Seite der Medaille. Man verweist darauf, dass die balkanischen Kleinstaaten dadurch, dass sie sich vom russischen Einfluss zu emanzipieren suchen, diesem unbequem werden. Das ist richtig. Aber man darf die Wirkung dieser selbständigen Kleinstaatenpolitik nicht bloß in Bezug auf Russland, sondern man muss sie in ihrem allgemeinen europäischen Verhältnis ins Auge fassen. Da wird man sich vor allem erinnern, dass diese Gründungen stets nur Teillösungen, ein Notbehelf waren. Russland trat für die Bildung von Kleinstaaten stets nur dort und unter Umständen ein, wo es nicht in der Lage war, türkisches Gebiet sich direkt einzuverleiben, und es trat nicht minder für die Integrität der Türkei ein, wo es sich um fremde Annektionen handelte oder die Kleinstaaten sich seinem Einfluss zu entziehen suchten. Dementsprechend änderte es auch sein Verhalten dem einzelnen Lande gegenüber, wie man das an der Geschichte Rumäniens respektive der Moldau und Walachei, dessen Schicksale überhaupt klassisch sind für das Studium der russischen Orientpolitik, handgreiflich nachweisen kann. Und auch die anderen beteiligten Staaten: England, Frankreich, Österreich gingen vor allem auf Annektionen aus, nur dass ihnen dabei ihre eigene Uneinigkeit und das Gegengewicht Russlands im Wege standen und sie auch dazu viel weniger Gelegenheiten hatten. So war denn auch für sie die Staatenbildnerei ein Mittelweg, auf dem man sich zusammenfand, keine Lösung, sondern nur die Verhinderung einer unangenehmen Lösung. Den gleichen Charakter von Palliativmitteln tragen auch die anderen Abmachungen, welche zur Regelung der Orientfrage je getroffen wurden. So das nach dem Krimkrieg aufgestellte Prinzip der Neutralität des Schwarzen Meeres und die seit 1841 bestehende Sperrung der Meeresengen. Nach dem Prinzip der Neutralität durfte kein Kriegsschiff, weder ein russisches, noch ein türkisches, oder fremdländisches, das Schwarze Meer befahren [1]; die Sperrung der Meeresengen verbietet die Ein- und Ausfahrt von Kriegsschiffen durch die Dardanellen und den Bosporus. Welche Gefahr die Entwicklung einer großen russischen Kriegsflotte im Schwarzen Meer für die Türkei und Europa bildet, liegt auf der Hand. Aber nicht minder klar ist, dass man dieser Gefahr nur dadurch wirksam entgegentreten könnte, dass man einen anderen Großstaat an die Küste des Schwarzen Meeres brächte. Seit der Vernichtung Polens kommt dafür nur Österreich-Ungarn in Betracht. Würde Österreich im Besitz der Donaumündüngen sein, also seinerseits im Schwarzen Meere eine Kriegsflotte unterhalten können, so würde das eine größere Gegenwehr gegen Russland bilden, als sämtliche bis jetzt getroffenen Vertragsbestimmungen und Balkanstaaten. Aber gerade durch die Konsolidierung Rumäniens ist Österreich der Zugang zur Küste des Schwarzen Meeres eins und für allemal abgeschnitten. So stehen denn an den Küsten des Schwarzen Meeres dem gewaltigen Russland nur die ohnmächtige Türkei und die Liliputanerstaaten Rumänien und Bulgarien entgegen. Begreift man jetzt, worin der Revers der politischen Bedeutung der Balkanstaaten für Europa liegt?
Man hat durch die Bildung der Balkan- respektive Donau-Fürstentümer Russland den Weg zur Türkei nicht verlegt. Der Seeweg bleibt ihm jetzt erst recht offen. Außerdem bleibt seine asiatische Grenze gänzlich unbewacht. Schließlich hat schon der russisch-türkische Krieg von 1878 gezeigt, wie wenig Verlass es in dieser Beziehung auf die selbständigen Fürstentümer gibt. Rumänien tat beim Ausbruch des Krieges sein Möglichstes, um die Neutralität zu wahren. Aber da es die Mächte nicht wagten, es zu unterstützen, musste es sich schließlich nicht nur den Durchzug der russischen Truppen gefallen lassen, sondern es wurde direkt in den Krieg mit der Türkei verwickelt. Wohl aber bildet der Wall von Kleinstaaten von Rumänien bis auf Montenegro, mit der einzigen Unterbrechung durch Bosnien, vom schwarzen bis zum adriatischen Meer, eine undurchdringliche Barrikade, welche Österreich den Zugang zur „türkischen Erbschaft“ verlegt. Jeder Schritt, den Österreich über Bosnien hinaus auf der Balkanhalbinsel tut, ist eine drohende Gefahr für Serbien und Bulgarien und wirft sie in die Arme Russlands. Österreich hat aber von diesen Kleinstaaten keinen Nutzen, im Gegenteil, sie stehen ihm im Wege, andererseits aber hat es weder die Kraft noch die Möglichkeit, sie zu okkupieren. Das erklärt die ganze Politik Österreichs auf dem Balkan, so z. B. auch seine Teilnahmslosigkeit in dem letzten heroischen Kampf Bulgariens gegen Russland. Bulgarien schützen lag nicht in seinem Interesse, und Bulgarien annektieren nicht in seiner Macht. Eine Zurückdrängung Österreichs lag sicher in der Absicht der russischen Diplomatie bei der Selbständigmachung der Balkanstaaten.
Um die Charakteristik der Balkanstaaten zu vervollständigen, sei noch darauf verwiesen, dass jede dieser selbständigen Staaten, kaum dass er mit Hilfe Europas seinen Kopf aus der türkischen Schlinge gezogen hat, sofort das unwiderstehliche Bestreben zeigt sich nun selbst an der türkischen Erbschaft zu beteiligen. Das ergibt sich aus der Lage der Dinge, weil diese politischen Kleingebilde, fest ineinander geklemmt, in ihrer wirtschaftlichen und politischen Entwicklung gehemmt sind, gleichzeitig ober in ihnen eben die durch diese Gründungen hervorgerufene Schwächung der Türkei das Bestreben erwecken muss, sich aus Kosten dieser auszudehnen. Es ist tatsächlich jetzt bereits ein großes politisches Übergewicht der Kleinstaaten über dir europäische Türkei geschaffen worden, die wie man es ja in diesem Augenblick beobachten kann, ihre asiatischen Kräfte schon gleich in den ersten Anfängen eines Konflikts nach der Halbinsel zusammenziehen muss, wenn sie überhaupt noch eine ernste Gegenwehr leisten will. Dazu kommt aber noch als Zweites hinzu, dass diese Kleinstaaten untereinander rivalisieren. Erst 1885 befehdeten sich Bulgarien und Serbien und den Besitz Ost-Rumeliens. Und sollte es jetzt zu einer Aufteilung Makedoniens und Albaniens kommen, so werden die balkanischen Christenstaaten, lässt man ihnen die Hände frei, einander sicher wieder in die Haare fahren.
So haben sich denn die Dinge im Orient eminent zum Vorteil Russlands entwickelt. Das Fazit ist ein russisches Monopol des Schwarzen Meeres und die Sicherstellung der eigentlichen Türkei (Konstantinopel?) vor einem Eingriff der mitteleuropäischen Großstaaten, d. h. Österreich-Ungarns. Europa kann die Entwicklung der russischen Seemacht im Schwarzen Meer nicht mehr hindern und Europa hat keinen Zugang mehr zu Konstantinopel. Deshalb kann jetzt Russland warten, denn Russland ist seiner Beute sicher. Es braucht seine Konkurrenten nicht mehr zu fürchten. Es weiß, dass nach der Lage der Dinge mit der Zeit Konstantinopel ihm unfehlbar verfallen muss, da es keinem sonst verfallen kann. (Die Umstände, welche ein anderes Ergebnis zeitigen können, liegen, wie wir sehen werden, in einem Zusammenhang, welcher der russischen Regierung nach ihrer prinzipiellen politischen Stellung durchaus fremd bleiben muss.) Dann aber ist es die selbstverständliche Taktik der russischen Regierung, sich nicht zu beeilen. Je weiter die Zersetzung der Türkei fortschreitet, je mehr indes die Stärke Russlands wächst, mit desto sicherer Hand kann es die erwünschte Beule erfassen. Darum der vollständige Gegensatz zu der Orientpolitik des Zaren Nikolaus I. Denn Nikolaus I. ist geradezu durch die Furcht, die Türkei könnte zu einer für Russland ungelegenen Zeit zerfallen, zu den übereilten Schritten getrieben worden, welche den Krimkrieg nach sich zogen. Nun braucht Russland nach dem Erörterten nicht mehr zu fürchten, dass man ihm zuvorkommen wird, und darum drängt es nicht zu einer Lösung, die es, wenn die Zeit ihm reif erscheint, noch Belieben hervorrufen kann.
Man begreift diese Taktik noch mehr, wenn man sich erinnert, dass Russland erst 1893 den Tiefpunkt seiner wirtschaftlichen Auflösung erreicht hat. Seitdem hat es große industrielle Fortschritte gemacht, das allgemeine wirtschaftliche und finanzielle Desastre [2] ist aber dadurch nur sehr wenig berührt worden. Nur seine allgemeine politische Stellung hat sich, dank einer eigenartig günstigen Verkettung von Umständen, gewaltig gehoben. Ob es die Kraft hat, diese im Falle einer ernsten Befehdung zu behaupten, ist in diesem Augenblick noch sehr fraglich. Dagegen hat Russland große Unternehmungen eingeleitet, welche, wenn sie vollendet sind, ihm eine geradezu unübersehbare wirtschaftliche, politische und finanzielle Machtsülle verschaffen werden. Dass Russland das größte Interesse daran hat, solange die Lösung der Orientfrage auszuschieben, springt doch in die Augen. Darum tritt Russland jetzt für den Frieden und für die Integrität der Türkei ein.
Nicht die „Enttäuschung“, welche Russland in Bulgarien (das übrigens nunmehr ja wieder im russischen Fahrwasser segelt) erlebt hat, führte zu dieser Frontänderung der russischen Orientpolitik. Russland ist an die „Undankbarkeit“ der von ihm „befreiten“ Nationen ebenso gewöhnt, wie diese es stets wussten, dass Russland nicht deswegen für sie eintritt, um sich ihre Dankbarkeit zu erwerben. Die von Russland „befreite“ Moldau und die Wallachei (das jetzige Rumänien) benutzten die 1848er Revolution, um gegen Russland offen zu rebellieren, und Serbien ließ seinen „Befreier“ 1855 skrupellos im Stich: das sind die größeren Ereignisse, im Allgemeinen aber bestand das russische Protektorat über die Balkanstaaten immer aus einer Aneinanderfolge von Intrigen und Eruptionen des Volksunwillens, genauso, wie man es jetzt an Bulgarien beobachten konnte. Aber die politische Konstellation warf diese Staaten von neuem in die Arme Russlands. Und was Russland mit seinem Befreiungswerk bezweckte, zeigt ja das von ungezogenem Fazit der Orientpolitik. Nunmehr hat aber Russland bereits sein Ziel erreicht, es braucht keine Änderungen mehr auf der Balkanhalbinsel, und so tritt es schon deshalb für die Integrität der Türkei ein, um einer voreiligen Lösung der Orientfrage vorzubeugen. Andererseits betrachtet man am russischen Hofe die jetzige Türkei bereits als fertiges Beutestück, gleichsam als russische Provinz in spe, und mochte deshalb nicht gern einzelne Stücke davon an andere abtreten, um so sein eigenes Erbteil zu schmälern. Russland kann in diesem Augenblick Kreta nicht annektieren, – aber bei einer künftigen Teilung der Türkei hat diese Insel einen sehr großen Wert, und entzieht man sie jetzt der Türkei, so wird man nachher um sie einen besonderen Kamps führen muffen. Ja, bliebe Kreta völlig autonom, das ginge noch – aber wenn es Griechenland einverleibt wird, so wird man nach der türkischen noch erst die griechische Frage „lösen“ müssen, bis man es unter Väterchens Hut bringt.
Was nun die Haltung Russlands der asiatischen Türkei gegenüber anbetrifft, so spricht hier, neben dem erwähnten „Friedensinteresse“, der Wunsch mit, Armenien zu annektieren. Ein selbständiges Armenien könnte, unter Umständen, Russland mehr Widerstand leisten, als der gegenwärtige Zustand. Nichtsdestoweniger wäre gerade die Autonomie Armeniens eine sehr fragwürdige Gründung. Auf der Balkanhalbinsel war es immerhin Österreich, welches einem Überhandnehmen des russischen Einflusses in den Balkanstaaten entgegenwirken konnte, – in Asien würde das „freie“ Armenien, losgerissen von der Türkei, allein Russland gegenüberstehen. Bedenkt man die mannigfaltigen Interessen, welche das russische mit dem eng angrenzenden türkischen Armenien verbinden, und vergegenwärtigt man sich die ungeheure wirtschaftliche und politische Machtentfaltung Russlands in Zentralasien, so kommt man zu der Überzeugung, dass das türkische Armenien, ob so oder so, sich überhaupt auf die Dauer nicht wird halten lassen. Wir dürfen uns keinen Illusionen hingeben. Will man Remedur schaffen, so muss man sich vor allem über die Machtstellung, welche Russland bereits gewonnen hat, nicht hinwegtäuschen.
In dieser Richtung bewegte sich die Politik Russlands bis aus diesem Augenblick. Zweck unserer Ausführungen ist aber gerade, davor zu warnen, dass man sich darauf blindlings verlässt. Vielleicht niemandem kamen die jetzigen türkischen Wirren so ungelegen, wie Russland. Gelingt es aber nicht, den Brand beizulegen – und danach sieht es keineswegs aus –, dann wird Russland entschiedene Schritte tun müssen. Und dann kann seine Taktik plötzlich umschlagen. Gerade dadurch, dass Russland sich jetzt so sehr für den Frieden und die Integrität der Türkei ins Zeug legt, schafft es einen diplomatischen Boden, um die Schuld für seine nächsten Schritte, die vielleicht das Gegenteil bezwecken werden, von sich abzuwälzen.
Die letzten von den Mächten unter russisch-deutschem Einfluss vorgenommenen Schritte waren keineswegs geeignet, den Frieden zu wahren. Denn durch die Androhung der Blockade wird Griechenland zu einer offiziellen Kriegserklärung getrieben. Stehen Griechenland und die Türkei mit einander auf dem Kriegsfuß, so müssen die anderen Mächte entweder direkt Partei neunten oder neutral bleiben und dann dürfen sie keine der streitenden Parteien in ihren militärischen Operationen, soweit sie nur beiderseitige- Gebiet berühren, stören. Also die Blockade des Piräus bedeutet nicht Frieden, sondern Krieg!
1. Diese auf französische Initiative gefasste Bestimmung des Pariser Vertrags von 1856 ist 1870 annulliert worden. Das war das erste allgemeine Ergebnis des deutsch-französischen Krieges.
2. Etwa Zerrüttung.
Zuletzt aktualisiert am 19. Juni 2025