Parvus

Die Orientfrage

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2. Ein geschichtlicher Rückblick


Aus: Parvus, Die Orientfrage. 2. Ein geschichtlicher Rückblick, Sächsische Arbeiter-Zeitung, 8. Jg., Nr. 60, 13. März 1897.



Die Entwicklung der Orientfrage, wie die Entwicklung der gesamten Machtstellung Russlands in Europa war vorgezeichnet durch den Fall Polens. Die Dinge mussten den Verlauf nehmen, den sie genommen haben, seitdem Polen aufgehört hat, zu existieren. Ein Groß-Polen, ein Polen, das sich vom baltischen bis zum Schwarzen Meer ausbreitet, würde allerdings jener Schutzwall sein, den West-Europa gegen Russland braucht. Aber ein Polen „vom Meer zum Meer“ gab es nie. Und gäbe es ein solches, so hätte es zur Voraussetzung eine andere Aufteilung der gesamten politischen Karte Europas. Weil dies nicht sein konnte, daran ging Polen zu Grunde. Polen konnte sein geschichtliches Streben, sich bis an die Meeresküsten auszudehnen, nicht erreichen – und es war gerade das große Türken-Reich, welches ihm den Weg nach dem Süden versperrte – es ging in einen Auflösungsprozess über und wurde von seinen, von allen Seiten herandrängenden Nachbarn zermalmt. Diese freundlichen Nachbarn, Russland, Preußen, Österreich, hatten stets das größte Interesse, ein Wiederaufleben Polens zu verhindern. Als Napoleon I ein neues Polen gründete, war dies deshalb nicht bloß gegen Russland gerichtet, sondern es war ein Keil, der mitten zwischen diese drei Staaten getrieben wurde und der geeignet war, sie zu zersetzen, jedenfalls ihre anliegenden Grenzen zu schwächen.

So war es denn auch seitens der deutschen 1848er Revolutionäre, die ein freies und einiges Deutschland erstrebten, aber nicht ein Deutschland, welches Preußen unter seine Pickelhaube sammelte, durchaus folgerichtig, dass sie für die Wiederherstellung Polens eintraten. Gelänge es so, Preußen und Österreich ein Gegengewicht zu schaffen, so wäre dadurch der Druck, welcher nicht nur die Fürsten, sondern auch das Volk der Kleinstaaten in seiner politischen Aktionsfähigkeit hemmte, vermindert, und das deutsche Volk würde aus seinem eigenen Streben über die störenden Fürstenthrönchen hinaus zur Einigung gelangen – also in der Weise, wie 1848 der Versuch gemacht wurde, und nicht wie es nachträglich wirklich geschah, dass das Königtum Preußen sich der kleinen Fürsten bemächtigte und kraft der ihm von den Fürsten abgetretenen Rechte und der mit ihnen geschlossenen Abmachungen dem deutschen Volk die deutsche Einheit aufzwang. Aber ebendeshalb wurde die Idee der Wiederherstellung Polens desto offenkundige zur Utopie, je mehr es sich herausstellte, dass der Prozess der Vereinigung Deutschlands nicht im freiheitlich-ideologischen, sondern im bismarckisch-preußischen Sinne vor sich ging. Die gleiche Entwicklung – die Zurückwerfung des revolutionären Liberalismus in Deutschland, das Vordringen Preußens und der Kampf zwischen ihm und Österreich um die Beherrschung Deutschlands – war auch in einer unmittelbaren Weise ein gewaltiger Faktor zur Förderung der russischen Raubzüge und des russischen Einflusses im osmanischen Reich.

An die Stelle Polens trat Österreich. Ihm fiel die Aufgabe zu, Wacht zu stehen an dem Schlüsselpunkt des zivilisierten Europas gegenüber dem Vordringen Russlands. So sehr nun Russland sich stets ein Oberkommando über ganz Europa anmaßte, hat es doch verstanden, seine ganze europäische Politik des letzten Jahrhunderts auf ein Ziel zu konzentrieren: sich in den Besitz der Meeresengen – des Bosporus und der Dardanellen – zu setzen! Merkwürdigerweise übersieht man gewöhnlich bei der Abschätzung der Wichtigkeit dieses Besitzes für Russland eins: die Bedeutung, welche dieser Besitz für die Kriegsverteidigung Russlands hat. Und doch liegt vielleicht gerade darin das Hauptmoment, welches Russland anzieht. Die Meeresengen sind der Schlüssel zum Schwarzen Meere. Russland muss im Besitz dieses Schlüssels sein. Wenn der Krimkrieg Russland etwas gelehrt hat, so ist es dies, dass der ganze opulente Süden Russlands um die Küsten des Schwarzen Meeres herum solange unsicher ist, als der Zugang zu diesem Meer im Kriegsfalle den fremden Machten geöffnet werden kann. Als Sebastopol fiel, war es bloß die Uneinigkeit Europas, welche es verhinderte, Russland die Krim zu entreißen. Und wenn es jetzt zu einem Kriege kommt, wird zweifellos wiederum Süd-Russland den wichtigsten Kriegsschauplatz abgeben. Der Besitz der Meeresengen befreit Russland von dieser Gefahr und macht es gleichzeitig dadurch für England vollkommen unzugänglich. Doch erschien die Idee, als Herrscher in Konstantinopel einzuziehen, noch dem Zarentum selbst so ungeheuerlich, dass es einer langen Entwicklung bedurfte, bis man dazu kam, es als höchstes Ziel ins Auge zu fassen – eigentlich erst, nachdem man im letzten russisch-türkischen Kriege tatsächlich, zur eigenen Bestürzung, bis an die Tore Konstantinopels herangekommen war. So ging man denn allmählich vor, indem man sich zunächst in den Besitz der westlichen Küstenstriche des Schwarzen Meeres zu fetzen suchte (die Donaumündungen spielten dabei wegen der Besorgnis vor Österreich eine große Rolle), respektive durch Bildung von selbständigen Staaten sich einen Schutzwall gegen Österreich schuf. Dass Russland bei diesem letzteren Vorgehen noch das Ziel verfolgte, durch Beherrschung dieser Kleinstaaten sich den Weg zur völligen Niederwerfung der Türken und zur Besitzergreifung Konstantinopels zu ebnen, ist bekannt. So sehen wir denn, dass Russland mit einer eisernen Zähigkeit während des ganzen Jahrhunderts immer und immer wieder auf die Balkanhalbinsel Sturm lief. Und hier hatte Österreich Posten zu stehen. Das Verhältnis Österreichs zu Russland war deshalb auch ein ganz anderes, als das Preußens, des zweiten westlichen Nachbars Russlands. Dadurch, dass Russland nach dem Balkan strebte, war Preußen entlastet. Freilich scheel genug hat man es in Russland stets angesehen, dass Preußen ein ziemliches Stück des Slaventums innerhalb seiner Grenzen hatte, aber man ließ es immerhin bis auf weiteres gewähren, während in den slavischen Gebietsteilen Österreichs unaufhörlich russische Agenten gewühlt haben. Währenddem Russland Preußen neutral zu halten suchte, stellte es Österreich das Ultimatum: entweder als Verbündeter oder als Gegner!

Was ist aber Österreich? Ein Staat, der, wie ein Bettlermantel, aus lauter Flickwerk besteht, dass man nur mit Not unterscheiden kann, was seinen ursprünglichen politischen Stoff bildete, ein formloses Wesen, dessen aufgedunsener Körper in zahlreiche verkümmerte Glieder ausläuft, das aber keinen Kopf und keine Arme hat, weder gehen, noch stehen, noch zu handeln vermag. Die 1848er Revolution allein war es, welche auch Österreich die Möglichkeit eröffnete, aufzuleben. Nur die demokratische Grundlage allein ist weit und elastisch genug, um die verschiedenen Elemente, aus denen sich Österreich zusammensetzt, zu einem einheitlichen Wirken zu bringen, sie zu einer starken politischen Einheit, wie etwa die Schweiz, zusammenzufügen. Das ist eine Erkenntnis, zu welcher selbst das Haus Habsburg mit der Zeit kommt, wovon ja die jüngsten Ereignisse Zeugnis ablegen. Hätte die 1848er Revolution den Sieg behalten, so hätte das einen vollständigen Regenerationsprozess Österreichs, nicht bloß auf politischem, sondern auch auf wirtschaftlichem Gebiet bedeutet. Ein späteres Königgrätz wäre dann unmöglich gewesen. Ein starkes Österreich würde selbstverständlich auch der gesamten politischen Entwicklung Deutschlands eine andere Richtung gegeben haben. Russland handelte deshalb sehr wohl in seinem Interesse, als es die deutsche Revolution niederschlagen half. Dadurch wurde nicht bloß die österreichische Freiheit, sondern mit ihr auch die politische Macht Österreichs gebrochen. Mit der politischen Reaktion versank Österreich wieder in seinen Zustand der Desorganisation, des wirtschaftlichen und finanziellen Schlendrians. Indessen erstarkte sein preußischer Rivale und wurde immer zudringlicher und frecher. Es bedurfte schließlich nur eines leidlich starken Stoßes, um es lahmzulegen. Diese Rivalität zwischen dem sich auflösenden Österreich und dem aussteigenden Preußen hat Russland ausgezeichnet für seine Zwecke im Orient auszunutzen verstanden.

Die Politik Österreichs war eine Politik der Schwäche, der Unmöglichkeit, selbst vorzudringen, der Unfähigkeit, sich anderen zu widersetzen. Deshalb war es leicht mit einer Kleinigkeit zu ködern, – aber, wo es sah, dass es ohne Gefahren kriegerisch auftreten konnte, genügte der erste beste Vorteil, um sein Verhalten total umzuändern. Ein treuloser Freund und seiger Feind! Russland hatte es stets an der Zugleine, was aber nicht verhinderte, dass es gelegentlich von Österreich in die Wade gebissen wurde. Das ist aber alles, wessen sich Österreich rühmen kann. Es hat nicht ein einziges Mal die russische Gefahr, von der es selbst stets am meisten bedroht wird, ernstlich gewehrt. Wenn bis jetzt die russische Übermacht immerhin in Schranken gehalten wurde, so verdankt dies Europa, abgesehen von der inneren Auslösung Russlands, nur dem mutigen und tatkräftigen Eingreifen von zwei Ländern: England und Frankreich.

Aber selbst England und Frankreich trafen sich nur von Fall zu Fall zu Fall zusammen. Sie hatten allerdings in Bezug auf die Balkanhalbinsel selbst keine konkurrierenden Interessen, sie rivalisierten aber miteinander im Indischen Ozean und stritten sich um den türkischen Besitz in Afrika. Mit der Erbauung des Suezkanals gewann die ägyptische Frage eine außerordentliche Bedeutung und wurde zum Zankapfel zwischen Frankreich und England. Schon deshalb stehen jetzt England und Frankreich bei weitem nicht so einig da, wie zur Zerr des Krimkrieges. Dazu kommt, dass Frankreich in die Streitigkeiten Mitteleuropas mit hineingezogen wurde und für die Einigkeit Deutschlands mit dem Verlust Elsaß-Lothringens hat büßen müssen. Der daraus sich ergebende Gegensatz zu Deutschland und die Freundschaft mit Russland sind sattsam bekannt.

Dies ist das „einige Europa“, wie es in der Orientfrage Russland schon 1878 gegenüberstand. Es wird später darauf verwiesen werden, welche neuen Elemente in der letzten Zeit hinzukamen.


Zuletzt aktualisiert am 19. Juni 2025